Für die Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen stehen dem Arbeitgeber eine Vielzahl von Handlungshilfen und Verfahren zur Verfügung. Aus diesen Instrumenten kann er die für seinen Betrieb geeigneten Verfahren auswählen. Möglich ist auch, neue Verfahrenzu entwickeln oder diese aus anderen Themenbereichen, wie beispielsweise dem Risikomanagement, anzupassen und zu übernehmen. Dazu gehört auch das aus dem Bereich der Risikoanalyse stammende Bow-Tie-Verfahren (vgl. Glossar), das vereinzelt auch als „Schmetterlingsdiagramm“ bezeichnet wird. Der Name „Bow-Tie-Verfahren“ leitet sich aus dem Aussehen des Diagramms ab: Es ähnelt dem einer Fliege (engl. „bow tie“).
So wird ein Bow-Tie-Diagramm erstellt
Die Erstellung eines Bow-Tie-Diagramms lässt sich in insgesamt sieben Schritte unterteilen. Diese werden nacheinander bearbeitet. Die Ergebnisse der einzelnen Schritte werden miteinander verknüpft (vgl. Abbildung 1). Die Identifizierung der Gefährdung (Hazard) stellt den ersten Schritt dar. Hierauf aufbauend wird ein unerwünschtes Ereignis (Top Event) ermittelt, bei dem die Kontrolle über das identifizierte Hazard verloren wird. Für dieses Ereignis werden einerseits Auslöser (Threats) identifiziert, die dazu führen können, dass das Ereignis ausgelöst werden kann. Andererseits werden Auswirkungen (Consequences) ermittelt, die durch das Top Event ausgelöst werden können. Um zu verhindern, dass die Consequences eintreten und wirksam werden, müssen Barrieren (Controls) in Form von Sicherheitsmaßnahmen identifiziert werden. Im nächsten Schritt werden Gefahren für Barrieren (Escalation Factors) ermittelt, die bei ihrem Eintritt die Wirksamkeit der festgestellten Controls herabsetzen oder zu ihrem Versagen führen. Abschließend werden Escalation Controls identifiziert, die das Wirksamwerden der Escalation Factors verhindern. Abbildung 2 zeigt das Ergebnis einer beispielhaften Anwendung des Bow-Tie-Verfahrens auf den Betrieb einer Espressomaschine.
Ein optimales Verfahren zur Unfallanalyse
Das größte Potenzial bietet das Bow-Tie-Verfahren in dem Teilschritt der Gefährdungsbeurteilung, der auf die Ermittlung von Gefährdungen abzielt. So werden nach dem Erkennen einer Gefährdung die Möglichkeiten ermittelt, wie es zur Freisetzung der Gefährdung – also zur konkreten Gefahr – kommen kann beziehungsweise wie diese zu vermeiden ist.
Besonders geeignet ist das Verfahren, um innerhalb eines Unternehmens die Ursachen von Arbeits- oder Beinaheunfällen festzustellen. Dabei lassen sich gemeinsam mit den betroffenen Beschäftigten die Ursachen identifizieren und geeignete Schutzmaßnahmen ableiten. Denkbar ist es auch, das Bow-Tie-Verfahren innerhalb der Planungsphase von neuen Einrichtungen und Arbeitsverfahren anzuwenden: So lassen sich bereits zu einem frühen Zeitpunkt mögliche Gefährdungsursachen und ‑auswirkungen erkennen und entsprechend ausgerichtete Schutzmaßnahmen umsetzen. Außerdem unterscheidet das Verfahren die Schutzmaßnahmen hinsichtlich ihres präventiven oder reaktiven Charakters.
Es ermöglicht so eine tiefergehende Analyse bezüglich des Wirkzeitpunktes. Hieraus lässt sich ableiten, ob Barrieren fehlen beziehungsweise ein Bedarf an zusätzlichen präventiven oder reaktiven Barrieren besteht.
Sicherheitskultur mit Bow-Tie-Verfahren stärken
Weiterhin hat das Bow-Tie-Verfahren eine hohe Relevanz als Kommunikationswerkzeug: Beschäftigte können damit bei der Erstellung einer Gefährdungsbeurteilung aktiv einbezogen werden. Eine Gruppe aus Beschäftigten, Fachleuten und Führungskräften trägt dabei die Ergebnisse des Bow-Tie-Verfahrens zusammen: Diese bilden die Grundlage für eine Gefährdungsbeurteilung, welche die praktischen Erfahrungen der Beschäftigten berücksichtigt.
Gleichzeitig lässt sich so die Akzeptanz von Schutzmaßnahmen innerhalb der Belegschaft erhöhen. Durch die Anwendung des Verfahrens im Team werden viele verschiedene Denkansätze und Sichtweisen bei der Identifikation von Ursachen und Auswirkungen berücksichtigt. Dieser partizipative Ansatz kann ein Baustein sein, um die Sicherheitskultur des Unternehmens – zumindest im Kontext der Gefährdungsbeurteilung – zu stärken.
Grenzen und Probleme des Verfahrens
Das Bow-Tie-Verfahren ist ein visuell und hierdurch strukturell gegliedertes Analyseinstrument. Es lässt in der Umsetzung großen Spielraum. Ob das volle Analysepotenzial des Verfahrens ausgeschöpft wird, hängt auch von den beteiligten Personen ab. Aufwand, Vollständigkeit und Qualität des Bow-Tie-Verfahrens wird sowohl von dem Fachwissen der Beschäftigten beziehungsweise der extern hinzugezogenen Fachleute als auch von dem betrachteten Szenario beeinflusst.
Wie bereits dargestellt, eignet sich die Methodik des Verfahrens hervorragend für die Erarbeitung innerhalb einer Gruppe. Dies hat den Vorteil, dass ein interdisziplinärer Austausch zwischen sicherheits- und verfahrenstechnischen Fachleuten sowie gegebenenfalls Vertretern weiterer Disziplinen, erfolgt. Daraus folgt ein erhöhter personeller Ressourcenaufwand: Der Kosten-Nutzen-Faktor fällt daher – je nach Betrachtungsgegenstand und personellen Kompetenzen – nicht immer positiv aus. Da das Analyseverfahren nicht selbsterklärend ist, sondern Kenntnisse und Erfahrung in der Anwendung erfordert, ist ein Moderator unabdingbar.
Generell kann das Ergebnis, je nach individueller Beteiligung, sehr unterschiedlich ausfallen. Beispielsweise können Escalation Controls auch als Controls (Barrieren) angesehen werden. Somit ist, auch bei definierter Detailtiefe (Anzahl der Ebenen), die Zuordnung Definitionssache. Die Zahl der vorhandenen Barrieren ist variabel und kann ein zweifelhaftes Sicherheitsniveau suggerieren.
Eine verfahrensspezifische Hilfe hinsichtlich der Urteilsverzerrung ist nicht vorgesehen.
Zusätzlich zu dem offenen Definitionsspielraum werden Ereignisse und Auswirkungen singulär, voneinander unabhängig und ohne eine Ursache-Wirkungs-Beziehung betrachtet. Damit wird eine innere Unabhängigkeit geschaffen, die Wechselwirkungen (beispielsweise von Barrieren) nicht unmittelbar aufzeigt. Demgegenüber wird hierdurch die präventive und reaktive Betrachtungsweise gewährleistet. Die Definition des Top Events – also des Zustands des Kontrollverlustes über die Gefährdung (Hazard) – gestaltet sich meist schwierig. Es werden hierdurch möglicherweise Grenzen geschaffen, die eine Nichtberücksichtigung von Ursachen, Wirkungen und Gefährdungen nach sich ziehen können. Eine Präzisierung des Top Events sollte demnach möglichst nachrangig erfolgen.
Durch die Visualisierungsmöglichkeit von komplexeren Systemen ist eine gesamtheitliche Darstellung möglich. Damit diese nicht unübersichtlich wird, empfiehlt es sich, anwendungsspezifische Hilfsmittel zu verwenden oder auf entsprechende Software zurückzugreifen.
Außerdem ist durch die stichpunktartige Verschriftlichung die Nachvollziehbarkeit des Bow-Tie-Verfahrens, insbesondere für Unbeteiligte, gelegentlich schwierig. Generell ist es empfehlenswert, möglichst umfassend Rahmenbedingungen, wie die Systemgrenzen, die Detailtiefe und die weitere Verwendung vorab festzulegen sowie ein gut geschultes Team mit der Erarbeitung eines Bow-Ties zu betrauen. Im Zusammenhang mit der Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen ist noch zu erwähnen, dass durch die Definition eines Top Events der Fokus auf einer spezifischen Gefährdung liegen kann. Nicht vordringliche Gefährdungen bleiben unter Umständen unberücksichtigt beziehungsweise erfordern weitere Bow-Ties, um die verschiedenen Gefährdungsfaktoren in der späteren Gefährdungsbeurteilung nicht zu übergehen.
Weiterhin umfasst das Bow-Tie-Verfahren prinzipiell keine Priorisierung der Maßnahmen (Barrieren) nach dem STOP-Prinzip, da die Denkweise einem Kausalzusammenhang zwischen Ursache und Ereignis beziehungsweise Ereignis und Auswirkung folgt. Dies sollte ebenso wie bei anderen Verfahren in der Ausarbeitung berücksichtigt werden. So ist anzunehmen, dass auch eine Substitution des Betrachtungsgegenstandes nicht in Erwägung gezogen, sondern der Ausgangspunkt als gegeben angenommen wird.
Ein weiterer Vorteil des Bow-Tie-Verfahrens ist, dass ein höheres Schutzniveau erreicht wird, denn es wird immer davon ausgegangen, dass ein Schadenseintritt möglich ist.
Quelle: © eigene Darstellung
Autoren:
Marina Bier, Pascal Deseyve,
Laura Kues, Fabian Ladzinski, Stephan
Laudenbacher und Alwis Runte
Prof. Dr. Anke Kahl
Bergische Universität Wuppertal
Leiterin des Fachgebiets Sicherheitstechnik/
Arbeitssicherheit
E‑Mail: akahl@uni-wuppertal.de
Glossar: Das Bow-Tie-Verfahren
Das Bow-Tie-Verfahren ist ein grafisches Verfahren zur Beschreibung und Analyse von Risikopfaden zwischen Auslösern (Threats) und Auswirkungen (Consequences). Es kombiniert die Grundgedanken einer Fehlerbaum- und einer Ereignisbaumanalyse, die über ein unerwünschtes Ereignis (Top Event) miteinander verknüpft werden. Fokussiert werden hierbei jedoch insbesondere die Schutzmaßnahmen zwischen den Threats und dem Top Event beziehungsweise zwischen dem Top Event und den Consequences. Diese werden als Barrieren (Controls) bezeichnet. Das Bow-Tie-Verfahren kann qualitativ als auch quantitativ eingesetzt werden; allerdings ist der quantitative Anwendungsfall bisher kaum verbreitet.
Die DIN EN 31010 beschreibt die Grundzüge des Bow-Tie-Verfahrens, das in der Praxis aber auch abweichend hiervon eingesetzt wird.