Im Nachfolgenden werden die Worte „Gefährdung“, „Gefahr“ und „Risiko“ weitestgehend synonym – das heißt ohne Differenzierung (zum Beispiel mit oder ohne Eintrittswahrscheinlichkeit) – verwendet. Wo diese Differenzierung notwendig erscheint, wird sie explizit angesprochen.
Gefährdungskenntnis
Eine leicht einsehbare Quelle unzureichender Wahrnehmung von Gefährdungen ist selbstverständlich und trivialerweise eine mangelnde Kenntnis über Gefahren und Risiken. Niemand wird mit einem Wissen über Gefährdungen geboren, dieses muss erlernt werden, entweder durch Erfahrung oder durch Belehrung. Dabei können Analogieschlüsse der jeweiligen Person hilfreich sein, etwa wenn die Gefährdungen durch Autos – fahrende, große und schwere Kisten mit vier Rädern – auf Gabelstapler – ebenfalls fahrende, große und schwere Kisten mit vier Rädern – übertragen werden (Abb. 1).
Ähnliches gilt für diverse mechanische Risiken, die in der Lebenswelt der Person auch außerhalb des Arbeitskontextes auftreten. Bei ionisierenden Strahlungen können aber keine Erkenntnisse im häuslichen Umfeld gewonnen werden. Je stärker sich gefährdende Faktoren innerhalb und außerhalb der Arbeitswelt überdecken, umso höher ist die Chance, dass arbeitsbedingte Gefährdungen auch aus der allgemeinen Lebenserfahrung erkannt werden. Ist dies nicht der Fall, und hat der Mensch möglicherweise für die Quelle noch nicht einmal Sinnesorgane, muss auf wissenschaftlich erarbeitete Kenntnisse zurückgegriffen werden.
Gefährdungserkenntnis ist daher immer ein Abgleich zwischen einer beobachteten Situation und einer als sicher (oder unsicher) bekannten Situation. Wenn dies nicht möglich ist, werden Gefahren nicht erkannt. Beispiele sind die Asbestproblematik oder heute vielleicht mögliche Langzeitfolgen durch elektromagnetische Felder von Handys.
Dementsprechend sind individuelle Risikowahrnehmungen abhängig von Ausbildungsstand einer Person und dem Grad wissenschaftlicher Erkenntnis. Mangelnde, fehlerhafte oder unzureichende Ausbildung kann daher hohe Gefährdungen für den Einzelnen oder Dritte nach sich ziehen. Das gilt auch für Unterweisungen: Wer unzureichend unterweist, untergräbt das Risikowissen der Mitarbeiter und fördert Unfälle und Erkrankungen.
Bedeutungsverzerrungen
Gefährdungen zu erkennen, ist das eine, sie als bedeutsam wahrzunehmen das andere. Die Einschätzung der aktuellen Bedeutung von Risiken, sowohl der Höhe als auch der Eintrittswahrscheinlichkeit nach, unterliegt psychologisch bedingten Verzerrungen, die nicht nur zwischen Personen, sondern auch innerhalb des gleichen Menschen auftreten und dann – ärgerlicherweise – noch nicht einmal konstant sind.
Nach diversen Untersuchungen sind vor allem die folgenden Umstände zu nennen, die diese Bedeutungsverzerrungen bewirken:
- Unfälle und negative Ereignisse mit vielen verletzten Personen oder sogar Toten werden in ihrer Gefährlichkeit überschätzt. Deswegen wird Fliegen häufig für gefährlicher gehalten als Auto fahren, obwohl es deutlich mehr Verkehrstote pro Million zurückgelegte Kilometer gibt.
- Im Gegenzug führen viele „kleine“ Ereignisse mit jeweils nur wenigen betroffenen Personen zu einer Unterschätzung der Gefahr. Dies ist der Grund dafür, warum Menschen sich noch ins Auto wagen.
- Selten ausgeführte Tätigkeiten werden in ihrem Risiko überschätzt, während häufig ausgeführte Tätigkeiten dagegen weniger gefährlich erscheinen. Hier spielen dann Gewöhnungseffekte eine Rolle.
- Tätigkeiten, die scheinbar nicht kontrollierbar sind, werden überschätzt und solche, die scheinbar kontrollierbar sind, unterschätzt.
Das Ergebnis solcher Verzerrungen konnte in einer Musterstudie in einem Stahlwerk verfolgt werden. Die Beschäftigten wurden gebeten, insgesamt 36 vorgegebene Tätigkeiten subjektiv nach ihrer Gefährlichkeit einzuordnen. Anschließend wurden diese Einschätzungen mit den tatsächlichen Unfallzahlen in einem Referenzzeitraum verglichen. Das Ergebnis ist eindeutig (siehe Abb. 2): Die unterschätzten Tätigkeiten machten mehr als die Hälfte aller Unfälle aus und lagen mit 5,3 Unfällen pro Tätigkeit im Referenzzeitraum rund dreimal über jenen, die realistisch eingeschätzt oder überschätzt wurden. Offensichtlich bringt aber eine Überschätzung keinen zusätzlichen Sicherheitsgewinn gegenüber der realistischen Einschätzung, denn die Unfälle pro Tätigkeit liegen mit 1,7 beziehungsweise 1,8 Unfällen je Tätigkeit praktisch gleichauf. Risiken scheinen sich daher allein aus der Unterschätzung zu ergeben – was verständlich ist.
Gewöhnungseffekte
Für den Arbeitsschutz besonders bedeutsam sind dabei Gewöhnungseffekte, die als eine spezifische Form der Bedeutungsverzerrung zu betrachten sind. Im Prinzip handelt es sich dabei um ein „Abschleifen“ der Risikowahrnehmung durch die häufige Ausführung objektiv kritischer Tätigkeiten. Im täglichen Leben ist dies ebenfalls aus dem Umgang mit dem Auto bekannt, das ein Fahranfänger (hoffentlich) mit einer gewissen Vorsicht nutzt. Mit der Zeit wird auch der Anfänger „mutiger“ und „erfahrener“. Hierbei sind die Häufigkeit der Fahrzeugnutzung sowie das zunehmende Gefühl, auch schwierige Situationen bewältigen zu können und über die notwendige Kontrolle zu verfügen, von wesentlicher Bedeutung.
Ähnlich verläuft auch der Umgang mit Gefahrstoffen oder Arbeitsmitteln. Mit der Zeit werden die Gefährdungen im Bewusstsein zurückgedrängt und durch Routine ersetzt. Vermutlich werden nur wenige Beschäftigte nach Jahren der Routine noch die Betriebsanweisung für einen Lack durchlesen, den sie schon x‑mal verwendet haben.
Der Ablauf kann durch Abb. 3 visualisiert werden und vollzieht sich von einer gegebenenfalls heftigen Überschätzung bis zu einer deutlichen Unterschätzung. Ausdruck dieser Gewöhnungseffekte ist unter anderem der bekannte zweigipfelige Unfallverlauf innerhalb der Lebensalter. Gegenüber dem Mittel gesteigerte Unfallzahlen finden sich bei jungen Berufsanfängern und bei sehr erfahrenen Mitarbeitern mittleren Alters – eben bei denen, die durch Gewöhnungseffekte zu unvorsichtigem Verhalten verleitet werden.
Diesem Effekt entgegenzuwirken ist der Sinn der Unterweisung, die eben deswegen regelmäßig zu wiederholen ist. Dabei ist die Wiederholungshäufigkeit im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung festzulegen und nicht stur nach den Vorgaben den DGUV Regel „Grundsätze der Prävention“ auf ein Jahr zu befristen. Besonders gefährliche Tätigkeiten sind gegebenenfalls häufiger zu unterweisen.
Weitere Effekte
Neben diesen wichtigen Aspekten der Bedeutungsverzerrung und den daraus mehr oder minder ableitbaren Gewöhnungseffekten können weitere Faktoren eine realistische Abschätzung von Risiken konterkarieren.
Diese ergeben sich häufig auch aus Einstellungen von Personen oder Gruppen.
- Repräsentativitätsheuristik: Hinter diesem Wortmonster versteckt sich die Tatsache, dass Menschen einprägsame, aber gegebenenfalls einmalige Ereignisse als repräsentativ für den Gesamtzusammenhang nehmen. So kann zum Beispiel ein schlimmer Unfall zur Fehleinschätzung der Gefährlichkeit der Tätigkeit insgesamt führen – obwohl es im konkreten Fall vielleicht nur die Zusammenballung unglücklicher Umstände war, die so kaum wieder vorkommen wird.
- Bestätigungsfehler: Auf der anderen Seite kann das Überstehen risikoreicher Situationen ohne entsprechende Schutzmaßnahmen dazu führen, dass das Risiko als geringer eingeschätzt wird als es ist. Dementsprechend wird gegebenenfalls auch in Zukunft ohne besonderen Schutz gearbeitet – „weil ja noch nie etwas passiert ist“. Bestätigungsfehler können daher als Sonderform der Repräsentativitätsheuristik aufgefasst werden.
- Verfügbarkeitskohärenz: Informationen werden dann als bedeutsam wahrgenommen, wenn sie mit bereits
im Gedächtnis gespeicherten Inhalten übereinstimmen. Hier geht es um einen individuellen Effekt, der dazu führt, dass gewisse Informationen zu einem Zusammenhang gar nicht wahrgenommen werden, weil sie nicht mit den eigenen Vorstellungen übereinstimmen. Die Steigerung dieses Effektes ist die kognitive Dissonanz. - Kognitive Dissonanz: In diesem Falle werden gegebenenfalls Informationen aktiv bekämpft, weil sie den eigenen Meinungen und Vorstellungen widersprechen. Häufig werden dann sogenannte „ad-hoc-Annahmen“ gemacht, die den durch die Dissonanz entstehenden psychischen Spannungszustand auflösen. Diese Annahmen kennen alle: „Es ist noch nie etwas passiert“, „Opa hat auch geraucht und keinen Krebs bekommen“, „Wir führen das Unternehmen seit drei Generationen unfallfrei“ usw. In den geschilderten Fällen werden Aussagen mit Bestätigungsfehler als ad-hoc-Annahmen angeführt. Das funktioniert aber auch anders herum: Ist man überzeugt, dass etwas gefährlich ist, wird man alles tun, um dies bestätigt zu finden, auch wenn es objektiven Kriterien nicht genügt.
- Konformitätsverhalten: In vielen Fällen schließen sich Menschen der Meinung einer Gruppe an. Dies geschieht entweder, weil sie die Gruppenmitglieder für kompetenter als sich selbst halten, oder beispielsweise weil sie sich als Mitglied in der Gruppe nicht „querstellen“ wollen, was möglicherweise einen Ausschluss aus der Gruppe oder zumindest eine Außenseiterposition bewirken würde. Also tragen Beschäftigte auf der Baustelle keinen Helm, weil die anderen auch keinen tragen.
Hiermit mag es genug sein. Es wird deutlich, dass Risiko- beziehungsweise Gefährdungswahrnehmungen verschiedenen Einflüssen unterliegen, die geeignet sind, unzureichende oder falsche Urteile zu fällen.
Lösungen
Was kann dagegen getan werden? Zunächst natürlich die Anwendung wissenschaftlich ermittelter Kriterien in der Gefährdungsbeurteilung, wie sie zum Beispiel durch Grenz- oder Leitwerte, aus vorgehenden Risikoermittlungen abgeleitete Beschaffenheitsanforderungen und anderen Kriterien repräsentiert werden. Diese helfen, Gefährdungsverzerrungen zu minimieren und vor allem Unterschätzungen entgegenzutreten.
Nicht anzuraten sind dagegen Schätzmethoden mit undefinierten Begriffen wie „manchmal“, „selten“, „gelegentlich“ usw. Hier kommt es aufgrund der genannten Effekte immer wieder zu Fehleinschätzungen, wie das Stahlwerkbeispiel zeigt. Wenn ausreichende Kriterien fehlen, können aber im Betrieb unter fachkundiger Hilfe interne Maßstäbe erarbeitet werden. Diese sichern ein homogenes Vorgehen aller Beteiligten im Betrieb und auch eine zeitlich konstante Beurteilungsqualität. Sollten dann irgendwann arbeitswissenschaftlich fundierte Kriterien publiziert werden, sind die internen Maßstäbe entsprechend zu ersetzen.
Gefährdungsart und (realistisches) Gefährdungsmaß müssen dann durch adäquate Unterweisungen an die Beschäftigten kommuniziert werden.
Leider werden in vielen Fällen Unterweisungen „nach der Stange“ und auf Basis allgemeiner Informationen wie zum Beispiel berufsgenossenschaftlicher oder anderer Schriften gegeben, wobei insbesondere elektronische Unterweisungen vielfach oberflächlich sind und dem Allgemeinen verhaftet bleiben.
Der Gesetzgeber hat diese Problematik erkannt und in seinen Verordnungen deutlich Stellung bezogen: Unterweisungen müssen das Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung vermitteln und sich konkret auf den jeweiligen Arbeitsplatz beziehungsweise die entsprechende Tätigkeit beziehen. Sie müssen die konkret auftretenden Gefährdungen für die jeweilige Tätigkeit kommunizieren und nicht etwa allgemein mögliche Risiken.
Das impliziert auch die Kommunikation konkreter Arbeitsschutzmaßnahmen, die durch die Mitarbeiter zu ergreifen sind. Außerdem muss immer die Möglichkeit bestehen, dass Beschäftigte in der Unterweisung nachfragen können und dass ihnen gegebenenfalls für sie unklare Angaben erläutert werden. Am deutlichsten wird dies in der Gefahrstoffverordnung und der Biostoffverordnung, die auf mündliche Unterweisungen bestehen. Die DGUV Regel „Grundsätze der Prävention“ untermauert alle genannten Anforderungen auch für den Bereich des Unfallversicherungsrechts.
Die gleichen Maßstäbe gelten für die Ausformung von Betriebsanweisungen, die als kurz gefasste Anleitungen auf Basis der Unterweisungsinhalte verstanden werden dürfen. Auch hier geht es immer um tätigkeitsbezogene, konkrete Anweisungen. Folgende, häufig zu findende Allgemeinplätze haben daher in einer Betriebsanweisung nichts zu suchen (siehe hierzu „Sicherheitsingenieur“, Ausgabe 10/2016, Seite 20 – 23):
- Bei der Verwendung gute Lüftung sicherstellen, Absaugungen oder Abzug einschalten.
- Löschmittel: CO2, Schaum, Pulver, Wassersprühstrahl
- Produktreste nach den gesetzlichen Vorgaben entsorgen.
Was sollen Mitarbeiter hiermit anfangen? Sich den Löscher aussuchen? Und was soll die Aussage zu einem Abzug, der im Metallbetrieb gar nicht vorhanden ist? Ganz abgesehen von der Problematik, dass abfallrechtlichen Vorschriften eigentlich nur Fachleute überblicken.
Wenn also Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretungen an niedrigen Unfallzahlen und geringen berufsbedingten Fehlzeiten interessiert sind, ist eine entsprechende Sorgfaltspflicht anzumahnen. Es nützt nichts, wenn Betriebsanweisungen aus dem Internet heruntergeladen werden und dann gleichförmig über den Betrieb verteilt werden, oder wenn allgemeine E‑Unterweisungen ohne konkreten Bezug zum Arbeitsplatz genutzt werden. Damit fängt man weder die eigenen Risikoverzerrungen noch die der Mitarbeiter ein, sondern liefert nur „Allerweltinfos“, die jeder im Internet nachlesen kann. Sie nützen für die Sicherheit im Betrieb überhaupt nichts.
Um Risikoverzerrungen und Fehleinschätzungen zu vermeiden, sind die folgenden drei Aspekte zu beachten:
- Gefährdungen anhand objektiver, arbeitswissenschaftlich ermittelter Kriterien feststellen und beurteilen (zum Beispiel Grenzwerte, Auslösewerte, Beschaffenheitsanforderungen, Leitmerkmalmethoden).
- Schätzungen unterlassen. Sollten gesetzliche Vorgaben oder Beurteilungskriterien aus DGUV- oder BG-Materialien fehlen, unter fachkundiger Hilfe innerbetriebliche Beurteilungskriterien schaffen, damit so alle im Unternehmen mit den gleichen Maßstäben arbeiten.
- Ausreichende Risikokommunikation. Auf den Arbeitsplatz beziehungsweise auf die Tätigkeit bezogene Darstellung der konkreten Gefährdungen und eindeutige Formulierung von Schutzmaßnahmen. Unterweisungen und Betriebsanweisungen dürfen keine „Restunsicherheiten“ hinterlassen.