Im Jahr 2013 wurde eine Konkretisierung des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) vorgenommen. Seitdem sind Arbeitgeber explizit angehalten, „psychische Belastungen bei der Arbeit“ bei der Gefährdungsbeurteilung zu berücksichtigen. In der Konsequenz hat der Gesetzgeber die Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV) und die Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) um die entsprechenden Begrifflichkeiten erweitert. Der Umsetzungsgrad der Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen in Unternehmen ist nach Erhebungen der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) noch ausbaufähig. Die Gründe für den vermeintlich geringen Grad der Beschäftigung mit diesem Thema bestehen unter anderem in einer nach wie vor in den Betrieben vorhandenen Unsicherheit, die sich auf den Gegenstand „psychische Belastung“ selbst bezieht. Von zentraler Bedeutung ist hier eine gemeinsame Sprache, damit alle betrieblichen Akteure – also Arbeitgeber wie Betriebsrat, Fachkraft für Arbeitssicherheit und Betriebsmediziner – von derselben Sache sprechen.
Neben dem Schrifttum der GDA kann ein Blick in die Normung helfen. Seit 1991 existiert mit der DIN EN ISO 10075–1 „Ergonomische Grundlagen bezüglich psychischer Arbeitsbelastung – Teil 1: Allgemeine Aspekte und Konzepte und Begriffe“ ein internationaler Standard, in dem inhaltlich die im Zusammenhang mit psychischer Belastung und Beanspruchung grundlegenden Begriffe und Konzepte behandelt und festgelegt werden. Im Januar 2018 ist in Deutschland mit der ISO 10075–1:2018 eine revidierte Form der Norm publiziert worden. Diese ersetzt die Vorläuferversion sowie eine nur in Deutschland erschienene DIN SPEC 33418:2014–03. Dem Standard liegt wie bislang auch das in Wissenschaft und Praxis bewährte formale Belastungs-Beanspruchungs-Konzept zugrunde. Es wurde in der Neufassung um einige Aspekte erweitert. Konkret trennt das Konzept zwischen
- psychischer Belastung,
- psychischer Beanspruchung und
- Beanspruchungsfolgen.
Demnach ist die psychische Belastung die Gesamtheit der erfassbaren, von außen auf den Menschen einwirkenden Einflüsse. Psychische Beanspruchung ist laut DIN-Norm die unmittelbare Auswirkung der psychischen Belastung im Individuum in Abhängigkeit von seinen jeweiligen überdauernden und augenblicklichen Voraussetzungen, einschließlich der individuellen Bewältigungsstrategien. Beide Konstrukte sind wertneutral und beziehen sich auf eine formale Ursache-Wirkungsbeziehung. Als Folge können im Individuum Beanspruchungsfolgen auftreten. Dabei wird zwischen fördernden (positiv bewerteten) und beeinträchtigenden (negativ bewerteten und daher zu vermeidenden) Beanspruchungsfolgen differenziert. Zwischenzeitlich hat sich der Stand der Forschung verändert. Aufgrund gesicherter neuer Erkenntnisse erfolgte eine konzeptuelle Erweiterung insbesondere bei den Folgen von psychischer Belastung und Beanspruchung. So wurden die Konstrukte und Begriffe „Kompetenzentwicklung“, „Burnout“ und „Stressreaktion“ in der Norm ergänzt. Abbildung 1 veranschaulicht die normativen Konzepte.
Auch wenn die DIN EN ISO 10075 ursprünglich nicht für die Anwendung in der Gefährdungsbeurteilung konzipiert wurde, zeigt die Norm durch die konzeptuelle Differenzierung, was Gegenstand der Gefährdungsbeurteilung hinsichtlich psychischer Belastung ist: nämlich vom Individuum unabhängige Aspekte, die von außen auf Beschäftigte einwirken. Diese können sich ergeben aus
- der Arbeitsumgebung (zum Beispiel Lärm und weitere physikalische Einwirkungen, Arbeitsmittel),
- der Arbeitsorganisation (zum Beispiel Gestaltung der Arbeitszeit, Festlegen von Verantwortlichkeiten),
- der Arbeitsaufgabe (zum Beispiel Festlegungen zum Handlungsspielraum, Vollständigkeit der Aufgabe),
- sozialen Faktoren (zum Beispiel Anzahl sozialer Kontakte, Führungsspannen).
Diese Komponenten gleichen weitgehend denjenigen, die in den Leitlinien und Handlungshilfen der GDA genannt werden. An dieser Stelle ist zu betonen, dass in der Norm gerade auch die positiven Folgen psychischer Belastung und Beanspruchung benannt werden, die bei einer entsprechenden, ergonomisch günstigen Gestaltung hervorgerufen werden können. Gestaltungsmöglichkeiten werden in DIN EN ISO 10075–2 angesprochen. Aufgrund der Erweiterung der Konzepte des ersten Normteils wird derzeit über eine entsprechende Überarbeitung und Anpassung dieses zweiten Teils diskutiert.
Umsetzung in der Praxis
Erfahrungen aus der Praxis zeigen immer wieder, dass eine Kenntnis der Begriffe und Konzepte, die mit psychischer Arbeitsbelastung verbunden sind, in den Betrieben erforderlich ist. Zum einen lässt sich so der Gegenstandsbereich der Gefährdungsbeurteilung einordnen und bestimmen, zum anderen ist ein sachbezogener Dialog zwischen den betrieblichen Akteuren leichter möglich. Hierfür ist der Ergonomie-Standard DIN EN ISO 10075–1 sehr gut geeignet: Er verlagert den Fokus vom Individuum auf den Arbeitsprozess, der letztlich auch durch Gestaltungsmaßnahmen verbessert werden soll. Wenn der Gegenstand geklärt ist, fallen in der Regel auch Diskussionen über den Einsatz unterschiedlicher Erhebungsmethoden knapp aus. Da das ArbSchG eine tätigkeitsbezogene Beurteilung der Arbeitsbedingungen fordert, kristallisiert sich oft das Beobachtungsinterview als Methode heraus. Dabei sollten am besten betriebliche Fachleute den Arbeitsprozess beobachten und prozessbegleitende Fragen stellen.
Beobachtungsinterviews
Die beiden Fallbeispiele (siehe unten und folgende Seite) zeigen, wie psychische Belastung mit Hilfe von Beobachtungsinterviews erhoben werden kann. Fallbeispiel 1 bezieht sich auf ein Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie: Hier haben sich die betrieblichen Akteure nach einer Informationsveranstaltung durch den regionalen Arbeitgeberverband und das ifaa – Institut für angewandte Arbeitswissenschaft für die Durchführung eines Beobachtungsinterviews mit dem Kompaktverfahren Psychische Belastung (KPB) entschieden. Dabei handelt es sich um einen Leitfaden, der betrieblichen Praktikern ein gestuftes, checklistenbasiertes Vorgehen der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung ermöglicht.
Das Verfahren fußt konzeptionell auf dem Belastungs-Beanspruchungskonzept, das auch in der ISO 10075–1 dargestellt wird. Es beinhaltet die Merkmalsbereiche der GDA. Durch eine entsprechende Qualifizierung konnten die Teilnehmer das Vorgehen an einigen Arbeitsplätzen einüben, um anschließend selbstständig das Verfahren anzuwenden. In einer Folgeveranstaltung (Audit) hatten die betrieblichen Akteure – das Projektteam bestand aus der Fachkraft für Arbeitssicherheit, einem Mitglied des Betriebsrats und einer Beschäftigten aus dem Verwaltungsbereich – die Möglichkeit, ihre Erfahrungen bei der Beurteilung zu schildern und gegebenenfalls nachzusteuern. Als ein Beispiel für die Erhebung wird der Arbeitsplatz „innerbetrieblicher Transportdienst“ vorgestellt. Fallbeispiel 2 bezieht sich auf den Bürobereich eines kleinen Dienstleistungsunternehmens. Das Beurteilerteam bestand aus einer Fachkraft für Arbeitssicherheit und einer in der Anwendung des KPB geschulten Diplom-Psychologin. Exemplarisch wird hier die Tätigkeit eines Marketingreferenten beschrieben.
Fazit
Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass mit der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung Auffälligkeiten systematisch erfasst und bewertet werden können, die oft schon im Betrieb bekannt sind. Teilweise können schon kleinere Maßnahmen für Abhilfe sorgen, teilweise sind aber auch weitere Bereiche eines Betriebs betroffen, so dass ein höherer Aufwand erforderlich ist. Wird die Gefährdungsbeurteilung gut geplant, kann diese jedoch zu deutlichen Prozessverbesserungen beitragen.
Autor: Dr. Stephan Sandrock
Leitung Fachbereich Arbeits- und Leistungsfähigkeit,
ifaa – Institut für angewandte Arbeitswissenschaft e.V.
Fallbeispiel aus der Dienstleistungsbranche: Arbeitsplatz im Marketing
Die Aufgaben des Stelleninhabers liegen hauptsächlich im Marketing. Als Referent ist er unter anderem für die Koordination von Veranstaltungen und Veröffentlichungen zuständig. Dazu gehören die Abstimmung mit internen und externen Kunden und Lieferanten, das Einholen von Angeboten sowie die Begleitung und Verbesserung von damit in Zusammenhang stehenden Prozessen. Die Tätigkeit ist mit hohen Kommunikationsanforderungen und mit der Arbeit am Bildschirm verbunden.
Bei der Beurteilung werden zunächst die ergonomischen Rahmenbedingungen überprüft. Der Arbeitsplatz befindet sich in einem Zweierbüro und ist – bezogen auf Arbeitsumgebung und Arbeitsmittel – nach gängigen gehobenen ergonomischen Standards ausgestattet. Als kritisch kristallisieren sich folgende Aspekte heraus: Durch die unterschiedlichen Anforderungen der Aufgabe kann es teilweise gehäuft zu Unterbrechungen kommen, teils durch Beschäftigte des eigenen Unternehmens, die das Büro aufsuchen, teils durch Telefonate von internen oder externen Partnern. Unterbrechungen dieser Art fordern immer wieder ein erneutes Einarbeiten in die Tätigkeit. Dies kann das Auftreten psychischer Ermüdung begünstigen. Ein weiterer Aspekt ist die Zunahme von Aufgaben bedingt durch die längerfristige
Erkrankung einer Kollegin. Dies führt zu einer entsprechenden Verdichtung der Arbeit. Das Auftreten psychischer Ermüdung wird damit begünstigt; es können negative Stressreaktionen auftreten.
Gemeinsam mit dem Stelleninhaber diskutiert das Beurteilerteam Maßnahmen zur Abhilfe, die dem Vorgesetzten vorgestellt werden sollen. Eine mögliche Maßnahme ist, störungsfreie Zeiten einzurichten, in denen beispielsweise das Telefon umgeleitet wird, und an die sich auch interne Kunden halten müssen. Ferner könnten schon vorhandene Angebote des Arbeitgebers intensiver genutzt werden: Dazu gehört das mobile Arbeiten, um Störungen zu umgehen sowie eine Anpassung der Arbeitszeiten. Für die zusätzlich anfallenden Aufgaben denkt das Unternehmen derzeit über arbeitsorganisatorische Maßnahmen nach. Dabei ist zu überlegen, welche Aufgaben von anderen Kollegen übernommen werden können beziehungsweise wie sich Prozesse verschlanken lassen, damit die betroffenen Beschäftigten entsprechend entlastet werden. Die Unternehmensleitung ist sehr an einer Verbesserung des Zustands interessiert, so dass von dieser Seite mit entsprechender Unterstützung zu rechnen ist.
Fallbeispiel aus der Metall- und Elektroindustrie: Arbeitsplatz im innerbetrieblichen Transport
An dem Arbeitsplatz „innerbetrieblicher Transportdienst“ werden überwiegend einfache, ausführende Tätigkeiten mit begrenztem Handlungsspielraum durchgeführt. Die Stelleninhaber haben nur wenig Einfluss auf die zeitliche Verteilung der Tätigkeiten, da die Aufgaben aus unterschiedlichen Unternehmensbereichen zugeteilt werden. Die Priorisierung der Aufträge ist oft nicht geklärt. Dies kann bei den Beschäftigten zu Unsicherheit und in der Folge zu einer Stressreaktion oder auch zum Gefühl psychischer Sättigung führen. Durch die fehlende Priorisierung können zusätzlich Konflikte mit anderen Bereichen auftreten, so dass weitere ungünstige Beanspruchungsfolgen
möglich sind. Absprachen zwischen den Auftraggebern finden in der Regel nicht statt; logistische Unterstützung fehlt weitgehend. Die Arbeitsaufgabe beinhaltet auch Transporte von Gegenständen mit hohen Sachwerten. Da dieser Umstand schon vor der „psychischen“ Gefährdungsbeurteilung bekannt ist, sind die Beschäftigten bereits entsprechend qualifiziert beziehungsweise unterwiesen.
Das Projektteam stellt fest, dass die verwendeten Transportmittel reparaturbedürftig oder nicht geeignet sind. Dies führt zu einer erhöhten körperlichen Belastung der Beschäftigten und beeinflusst die Sicherheit des Transports. Es gibt keine systematische Auswertung von Hinweisen der Beschäftigten. Ferner werden Transportmittel, wenn diese von anderen Unternehmensbereichen verwendet werden, nicht an die vorgesehenen Stellen zurückgebracht. Die damit verbundenen Suchaufwände und Zeitverzögerungen führen zu vermeidbarem Zeitdruck, der auch nachgelagerte Prozesse negativ beeinflusst.
Als mögliche Gestaltungsmaßnahmen diskutiert das Projektteam logistische Unterstützungssysteme oder eine Unterstützung der Beschäftigten bei der Priorisierung von Transportaufträgen. Dazu müssen die betreffenden Führungskräfte und Fachbereiche informiert werden. Geplant ist die Erarbeitung bereichsübergreifender Maßnahmen wie ein gemeinsamer Abstimmungsprozess sowie die Schulung der betroffenen Beschäftigten hinsichtlich der Grundlagen von Ordnung und Sauberkeit nach der 5 S‑Methode. Diese aus dem Lean Management stammende Einstiegsmaßnahme umfasst die fünf Schritte: Seiri („Sortiere aus!“), Seiton („Stelle ordentlich hin!“), Seiso („Säubere!“), Seiketsu („Bewahre Sauberkeit!“) und Shitsuke („Bewahre Selbstdisziplin!“).