Das Befahren schwieriger Gewässer überfordert in der Regel das Können eines fremden Kapitäns. Er braucht Hilfe, jemanden, der sich auskennt, der weiß, wo Sandbänke liegen, wie die Fahrrinne genau aussieht, welche Hürden Ebbe und Flut darstellen. Hierfür gibt es die Lotsen. Sie stehen dem Kapitän bei und beraten ihn bei seiner Aufgabe.
In ähnlicher Weise benötigt der Unternehmer Lotsen, die ihn beraten und bei seinen Arbeitsschutzpflichten unterstützen. Diese Aufgabe haben die Fachkräfte für Arbeitssicherheit (Sifa) und die Betriebsärzte seit Bestehen des Arbeitssicherheitsgesetzes, aber der bildhafte Ausdruck wurde damals noch nicht benutzt.
Im Prinzip soll diese Lotsenfunktion der Sifa und Betriebsärzte auch in Bezug auf die psychischen Belastungen wahrgenommen werden.
Lotse sein, heißt dabei nicht, das Problem zu lösen, sondern aufmerksam zu sein und möglicherweise bedrohliche Anzeichen zu erkennen und den Arbeitgeber zu unterrichten, damit dieser dann die richtigen Prozesse einleiten kann, also zum Beispiel eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen. Dabei dürfen sich die betrieblichen Lotsen auf das Feld zurückziehen, das sie beherrschen – mehr müssen sie nicht leisten. Können wir das als Techniker? Yes, we can!
Der zweifache Blick
Um es noch einmal zu betonen: Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen dient nicht dazu, psychische Diagnosen zu erstellen oder den psychischen Zustand konkreter Mitarbeiter zu erkennen. Ihre Aufgabe ist es, dass Arbeitssystem dahingehend zu überprüfen, ob es nach den aktuell arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen geeignet ist, psychische Beeinträchtigungen hervorzurufen.
Dabei kann man bereits im täglichen „Normalbetrieb“ in doppelter Hinsicht aufmerksam sein und muss nicht erst auf eine „offizielle“ Gefährdungsbeurteilung warten:
- Beobachtung und Prüfung des Arbeitssystems und der Arbeitsorganisation in Bezug auf bekannte Quellen möglicher negativer Beanspruchungsfolgen.
- Wahrnehmung ungewöhnlicher Verhaltensweisen bei Mitarbeitern, also die Bereitschaft, auch aus personengebundenen Signalen Schlüsse zu ziehen.
Dieser zweifache Blick ist die Grundlage der Lotsenfunktion. Und er ist leistbar, wobei die nachfolgenden Beispiele zeigen sollen, wie die Aufgabe als Lotse wahrgenommen werde kann.
Technisch – Organisatorische Signale
Psychische Belastungen ergeben sich nicht allein aus Interaktionen zwischen Menschen im Sinne konfliktärer Probleme (Kollege – Kollege, Arbeitnehmer – Vorgesetzter), sondern häufig aus einer unzureichenden Organisation des Arbeitsprozesses. Insofern wird ein wichtiger Beitrag für die Lotsenfunktion durch Sifa und Sicherheitsingenieure dadurch erbracht, dass sie das Arbeitssystem in kritischer Überwachung halten.
Dabei können durch Beobachtungen Fakten gesammelt werden, die entweder geeignet sind, im Arbeitsschutz-Ausschuss eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen anzuregen, oder mit unserem Fachwissen und Betriebskenntnissen diesen Prozess zu unterstützen. Dabei sollten wir uns klar machen, dass wir häufig die einzigen sind, die entsprechende Angaben machen können, dass es unsere ureigenste Profession ist.
Die Vorstellung, dass „Techniker“ keine Beiträge zur Beurteilung möglicher psychischer Belastungen liefern können, ist weit verbreitet – auch unter den Fachkräften für Arbeitssicherheit selbst –, sie ist aber falsch. Die Größe des Beitrages mag sicher unterschiedlich sein (sie wird zum Beispiel in einem reinen Beratungsunternehmen mit externen Kundenkontakten geringer sein als in einem industriellen Produktionsbetrieb), aber sie ist dennoch unverzichtbar.
Tabelle 1 listet eine ganze Reihe von Gesichtspunkten auf, die jede Sifa (und natürlich auch jeder Betriebsarzt) beobachten kann, ohne dass gleich eine Bewertung im Sinne negativer oder positiver Folgen notwendig ist.
Allerdings – und das ist die Aufgabe des Lotsen – sie müssen den Arbeitgeber in den dafür vorgesehenen Strukturrahmen informieren. Es reicht nicht, das Wissen in sein „stilles Kämmerlein“ einzulagern. Der Lotse an Bord soll ja nicht nur die herannahende Sandbank erkennen, er sollte es dem Kapitän schon sagen.
Die Grundlage jeder Beurteilung ist immer die sorgfältige Datenerhebung und die Beobachtung der Verhältnisse. Erst aufgrund umfangreicher Fakten kann abgeleitet werden, ob dieses oder jenes Problem sich gegebenenfalls negativ auswirken kann.
Wichtig für die Lotsenfunktion sind im Zuge dieses „Frühwarnsystems“ auch Mitarbeitergespräche vor Ort, die gegebenenfalls Aufschluss über versteckte Probleme geben. Ein Beispiel: Eine Sifa beobachtet, dass gewisse Sicherheitsmaßnahmen nicht ergriffen werden (s. Abb.). Im Gespräch äußert der Mitarbeiter, dass dies zu lange dauern würde und das Arbeitspensum nicht zu schaffen wäre. Dies ist ein deutlicher Hinweis auf unzureichende Arbeitsorganisation, also zu viel Arbeit beziehungsweise zu wenig Zeit.
Feststellbar wurde dies aber nur durch die Hinterfragung einer Nichtausführung von „klassischen“ sicherheitstechnischen Maßnahmen.
Es reicht also nicht immer, nur korrigierend einzuschreiten, sondern man muss sich gegebenfalls auch über die Gründe von zum Beispiel sicherheitsrelevantem Fehlverhalten informieren.
Wie gesagt, die Beobachtungen an sich reichen noch nicht aus, um tiefer gehende Schlüsse in Bezug auf die psychischen Belastungen zu machen. Aber der Lotse erkennt die Untiefen und bringt sie zur Sprache.
Personenbezogene Signale
Das gilt auch für Verhaltensauffälligkeiten einzelner Mitarbeiter oder innerhalb von Teams, wobei hier sicher eine besondere Sensibilität erforderlich ist. Dies ergibt sich schon daraus, dass in vielen Fällen die Kontakte zwischen der Sifa und den einzelnen Mitarbeitern nur in geringem Maße ausgeprägt sind.
Dies ist aufgabeninhärent, da die Sifa in vielen Fällen im ganzen Betrieb unterwegs ist und aufgrund ihrer wechselnden Einsatzorte meist nicht in so engen Kontakt zu einzelnen Mitarbeitern kommt, dass bestimmte Verhaltenssignale auffällig werden. Nicht repräsentative Einzelbeobachtungen können daher durchaus als „Auffälligkeiten“ missinterpretiert werden (Stichwort: „Schlechter Tag“).
Signale von Einzelpersonen werden eher durch Vorgesetzte, gegebenenfalls auch durch die Sicherheitsbeauftragten wahrgenommen, aber auch die Sifa ist in der Pflicht, Auffälligkeiten wahrzunehmen und entsprechend zu registrieren.
Tabelle 2 gibt eine typische Liste von personenbezogenen Signalen, die auf psychische Belastungen zurückgehen können. Dabei ist allerdings nicht gesagt, dass diese Belastungen unbedingt von der Arbeit kommen müssen. Ein über längere Zeit niedergedrückt wirkender Mitarbeiter kann auch starke private Probleme haben, wie zum Beispiel eine Scheidung oder den Tod eines nahen Angehörigen.
Es empfiehlt sich daher, bei entsprechenden tatsächlichen oder vermeintlichen Beobachtungen, in einem kollegialen Gespräch mit dem Betriebsarzt den Punkt gemeinschaftlich zu beleuchten, bevor weitere Schritte eingeleitet werden. In vielen Fällen hat der Betriebsarzt einen engeren Kontakt zu den Mitarbeitern, so dass hier eine zweiseitige Abklärung hilfreich ist. Dies trifft besonders auf Verhaltensänderungen bei Einzelpersonen oder auch bei zum Beispiel vermuteter Suchtproblematik zu.
Weniger kritisch sind gruppenbezogene Signale wie zum Beispiel häufiger Streit innerhalb von Teams beziehungsweise zwischen Teams oder ein rauer oder rüder Ton im Umgang miteinander (Achtung: In manchen Tätigkeitsbereichen ist dies traditionell „normal“). Dafür wird es Gründe geben. Mit Bezug auf die Arbeitsgestaltung könnten dies zum Beispiel Zeitdruck / überbordende Aufgaben sein (Stressreaktion!), aber auch Streitigkeiten um Materialien, die durch Organisationsmängel nicht in ausreichendem Maße nachgeliefert werden oder eine „Konkurrenz“ um die Nutzung bestimmter Maschinen / Arbeitsmittel.
Es können aber auch persönliche Gründe sein, die nicht der Arbeit geschuldet sind. Aber dies zu klären, ist Aufgabe der nachgeordneten Prozesse. Wichtig ist, diese Signale wahrzunehmen, zu kommunizieren, sich aber einer Begründung zunächst erst einmal zu enthalten (es sei denn, sie werden von den Betroffenen selbst vorgetragen).
Einbindung in die Gefährdungsbeurteilung
Grundsätzlich sind die Fachkräfte für Arbeitssicherheit in den Prozess der Gefährdungsbeurteilung zu integrieren.
Nichts wäre fataler, als dass gerade dieser Sachverstand bei der Beurteilung außen vor bliebe. Dies gilt auch für solche Instrumente, die zunächst keinen direkten Zusammenhang mit dem Arbeitsschutz nahe legen.
Eine oft angewendete Methode ist die Mitarbeiterbefragung. Diese bietet den Vorteil, dass die Mitarbeiter die Basisdaten für die Beurteilung beisteuern. Aber dies sind immer nur zu interpretierende Rohdaten, denn Mitarbeitermeinungen können auch, gemessen an arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen, schlicht falsch sein. Dies ist zum Beispiel häufig bei körperlichen Belastungen (Heben, Tragen; Schichtarbeit u.a.) junger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fall, da die Langzeitauswirkungen nicht in den Blick genommen werden. Die heute nicht wahrgenommene Überforderung wirkt sich erst in 20 Jahren aus.
Deshalb sind auch bei Mitarbeiterbefragungen die gewonnenen Aussagen gegebenenfalls durch den Sachverstand der Arbeitsschutzfachleute zu bewerten. Das Problem muss also gewissermaßen von zwei Seiten angegangen werden: Aus der Sicht der Mitarbeiter und aus der Sicht der Arbeitsschutzfachleute als Repräsentanten der arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse (dazu kommen dann unter Umständen sozialwissenschaftliche beziehungsweise psychologische Erkenntnisse durch weitere Fachleute). Erst durch diese Gesamtschau wird eine sinnvolle Synthese, also eine zutreffende Beurteilung der Gefährdungen möglich. Dies setzt aber voraus, dass sich die Fachkräfte auch dem Thema psychischer Belastungen widmen. So ist es vernünftig, so will es die GDA, so soll es sein.
Zusammenfassung
Grundsätzlich kann die Lotsenfunktion von Fachkräften für Arbeitssicherheit durchaus erfüllt werden, ohne dass hier gleich eine überzogene „Psychologisierung“ erforderlich ist. Es geht nicht um die Analyse, sondern um die Wahrnehmung von Beobachtungen und die sachgerechte Kommunikation von Signalen, die dann gegebenenfalls in einem Kreis von Fachleuten, zu denen die Fachkräfte für Arbeitssicherheit gehören, beurteilt werden.
Darüber hinaus ist aber der Lotse auch ein Sensor, der in den gesetzlich vorgesehenen Strukturen und Funktionsabläufen „Alarm schlägt“ – und somit möglicherweise entsprechende tiefer gehende Prozesse initiiert.
Im Übrigen – das sei nur am Rande erwähnt – nutzen Betriebsräte die in den Tabellen genannten Signale durchaus erfolgreich, um den Aspekt psychischer Belastungen in den Firmen zu platzieren. Meist sind deren Vertreter keine Arbeitsschutzfachleute und es wäre daher gelinde gesagt peinlich, wenn eine Fachkraft für Arbeitssicherheit durch Laien ergänzt werden muss, nur weil sie glaubt, die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen gehöre nicht zu ihrem Aufgabenfeld. Die Einstellung „Ich bin doch nur Techniker“ ist nicht zukunftsfähig und wird vielleicht durch die Kollegen mit einer Betonung auf dem „nur“ beantwortet werden.
Trauen Sie sich ran. Nur wer nichts macht, macht nichts falsch. Falsch kann aber oft auch sein, etwas zu unterlassen.