Nach § 6 des Arbeitssicherheitsgesetzes haben die Fachkräfte für Arbeitssicherheit „die Aufgabe, den Arbeitgeber beim Arbeitsschutz und bei der Unfallverhütung in allen Fragen der Arbeitssicherheit einschließlich der menschengerechten Gestaltung der Arbeit zu unterstützen“. Hinzu kommt, dass sie beraten sollen bei der „Gestaltung der Arbeitsplätze, des Arbeitsablaufs, der Arbeitsumgebung und in sonstigen Fragen der Ergonomie“.
Dies sind Themen, die in den 70er Jahren im Zusammenhang mit arbeitspsychologischen Fragestellungen in Reaktion auf die damalige Humanisierungsdebatte entwickelt wurden und daher explizit mit psychischen Belastungen verbunden sind.
Insofern war dieses Thema – zugegebenermaßen eher indirekt ausgedrückt – schon immer eine Aufgabe für die Fachkräfte. Dass das Arbeitssicherheitsgesetz bezüglich der Aufgabenbeschreibung einer gründlichen Renovierung unterzogen werden müsste, spielt dabei keine Rolle, da die Fachkräfte bei „allen“ Themen zu beraten haben. Es wäre aber nicht angemessen, den Fachkräften in dieser Hinsicht Vorwürfe zu machen, da weder der Gesetzgeber noch die Unfallversicherungsträger und schon gar nicht die meisten Unternehmer dieses Thema in der Vergangenheit wirklich forciert haben.
Zwar gab es bereits seit 1987 die DIN 33405, die wesentlichen Begriffe zu psychischen Belastungen festlegte, seit 1996 die gesetzliche Verpflichtung zu einer Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen (nicht etwa erst seit 2013) und es gab auch eine Reihe von Handlungshilfen durch die Berufsgenossenschaften. Leider wurde dabei versäumt klarzustellen, was die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen eigentlich will. Das hat zu Fehlinformationen und zu vorschnellen Abgrenzungen zum Thema geführt.
Es geht bei der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen nicht um eine Beurteilung der psychischen Verfassung von Einzelpersonen oder von Belegschaften, sondern um die Beurteilungen von kollektiv einwirkenden Arbeitsbedingungen, die nach arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen geeignet sind, möglicherweise negative Auswirkungen auf das Erleben von Arbeit bei den Mitarbeitern auszulösen.
Es geht also nicht um Diagnose und Therapie an der Person, sondern um die Verbesserung von Arbeitsprozessen, ‑abläufen und ‑interaktionen im Betrieb – Kernaufgaben von Fachkräften und Betriebsärzten. Leider wurde diese saubere Trennung nicht hinreichend klar kommuniziert, was bis zu Äußerungen wie „ein Psychologe kommt mir nicht in den Betrieb“ geführt hat.
Dass aber in diesem Spannungsfeld die Fachkraft für Arbeitssicherheit ihre Aufgabe hat, wurde zum Beispiel bereits von Wittmann (2008) und von Kiparski (2013) dargestellt. Eine Veröffentlichung der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) hat dies aber unlängst auf ein neues Niveau gehoben.
Die Qualifizierungsempfehlungen
Wie bereits angedeutet, hat die GDA unlängst in ihrem „Arbeitsprogramm Psyche“ eine Schrift mit dem etwas umständlichen Titel „Empfehlungen zur Qualifizierung betrieblicher Akteure für die Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen“ herausgegeben. Ziel ist, Vorgaben und Anforderungen an die folgenden betrieblichen Akteure vorzuschlagen beziehungsweise zu definieren:
- Unternehmer/in
- Interessenvertretung
- Führungskraft
- Fachkraft für Arbeitssicherheit
- Betriebsarzt/-ärztin
Diese Empfehlung orientiert sich an acht sogenannten Outcomes (siehe Kasten „Die Outcomes“) und legt hier fest, welche Inhalte jedem Akteur im Rahmen dieser Outcomes zugeordnet sind. Dabei beschränkt sich das Papier aber nicht etwa auf rein fachliche Inhalte, sondern macht auch deutliche Aussagen, in welcher Rolle die GDA jeden dieser Akteure sieht.
Hier muss vor dem Missverständnis gewarnt werden, den Begriff „Empfehlungen“ als reine unverbindliche Vorschläge zu interpretieren. Für den Komplex der psychischen Belastungen gibt es im Gegensatz zu anderen Gefährdungsarten weder eine Verordnung noch Technische Regeln. Deswegen springt hier die GDA in die Regelungslücke und legt als ein führendes und wegweisendes Gremium aus Vertretern von Bund, Ländern und Unfallversicherungsträgern „Empfehlungen“ (zum Beispiel auch zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung) vor, die den sich aus der Regelungslücke ergebenden Interpretationsspielraum einengen.
Gleichzeitig werden damit die Sichtweise und der Gestaltungswille des Gremiums sichtbar, das aus rechtsformalen Gründen keine rein anordnenden Schriften verfassen kann. Die „Empfehlungen“ und „Leitlinien“ der GDA sind aber richtungsweisende Interpretationspapiere und Handlungshilfen, die auch beim Aufsichtshandeln berücksichtigt werden und die zu vernachlässigen nicht hilfreich ist.
Aufgaben der Fachkraft für Arbeitssicherheit
Die in den Qualifizierungsempfehlungen zugewiesenen Rollen an die Fachkräfte sind komplex und umfassend, sie sind in Tabelle 1 dargestellt. Mit geringen, aber wichtigen Ergänzungen sind für die Betriebsärzte die Rollen praktisch deckungsgleich beschrieben. Die Auflistung zeigt sehr deutlich, dass die Fachkräfte im Wesentlichen in einer Beratungs- und Unterstützungsrolle gesehen werden, wobei natürlich eine Verschränkung mit der Arbeitsmedizin anzustreben ist. Eine wichtige Funktion liegt aber auch in der Wissensvermittlung und in einer Lotsenfunktion. Die Fachkraft soll durchaus aufmerksam dafür sein, welche Signale Mitarbeiter senden und ob Auffälligkeiten gegebenenfalls auf unangemessene psychische Belastungen zurückzuführen sein könnten.
Sie sollen aber auch einfache, orientierende Instrumente handhaben können und erste Beratungen zu so speziellen Themen wie Mobbing, Burnout etc. sowie zur Primär- und Sekundärprävention auf allgemeiner Ebene durchführen können. Dabei beschränkt sich aber die Rolle
der Fachkraft in erster Linie auf das Arbeitssystem beziehungsweise die Arbeitnehmerschaft als Kollektiv. Individuelle Unterstützungen, Auswertung von personenbezogenen Einzelaspekten und andere eher individualpräventive Maßnahmen bleiben dem Betriebsarzt vorbehalten.
Unglücklich formuliert sind sicher die in Tabelle 1 genannten ersten beiden Aspekte, in denen (sowohl bei Fachkräften als auch bei Ärzten) von „Sicherstellung“ die Rede ist. Schon rein rechtlich können Fachkraft und Betriebsarzt nicht sicherstellen, dass psychische Belastungen bei der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt werden, da letztlich die Verantwortung und die Gestaltungskompetenz beim Arbeitgeber beziehungsweise den Sozialpartnern liegen.
In ähnlicher Weise kann die Fachkraft auch die qualitative Güte nicht sicherstellen, da die Auswahl von Methoden, einzusetzenden (gegebenenfalls externen) Spezialisten und Hilfsmitteln der Mitbestimmung unterliegt und die Ausgestaltung der Gefährdungsbeurteilung ebenfalls in einem Abstimmungsprozess zwischen den betrieblichen Sozialpartnern erfolgt. Beide Seiten sollten von der Fachkraft beraten werden. Gegebenenfalls offensichtliche oder vermeintliche falsche Entscheidungen können aber von der Fachkraft nicht „gekippt“ werden.
Insofern kann die für beide Professionen formulierte Vorgabe der „Sicherstellung“ in der betrieblichen Praxis nur als „Hinwirkung“ interpretiert werden, mehr ist nicht möglich.
Ungeachtet dieses insgesamt eher untergeordneten Problems wird deutlich, dass die Fachkraft Verantwortung für die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen hat und diese wahrnehmen muss. Dafür benötigt sie aber entsprechendes Wissen.
Kenntnisse der Fachkraft
Der eigentliche Kern des GDA-Papiers ist die Darstellung, welche Kenntnisse von den Fachkräften zur Ausfüllung der genannten Rollen zu erwarten sind, beziehungsweise welche Kenntnisse ihnen zu vermitteln sind. Dies ist in Tabelle 2 in Bezug zu den „Einzeloutcomes“ dargestellt. Deutlich erkennbar ist, dass hier ein breites Wissen gefordert wird, das von grundlegenden Modellvorstellungen und Methodenwissen bis hin zu solchen „heiklen“ Themen wie Mobbing und Burnout reicht. Dabei ist es aber wichtig zu betonen, dass gerade für die letztgenannten ein Grundwissen gefordert wird. Die Betriebsärzte – deren Qualifizierungsanforderungen sonst im Wesentlichen ähnlich sind – sollen in diesen Punkten dagegen den wissenschaftlichen Stand beherrschen. Umgekehrt kann aus dieser Qualifizierungsleitlinie aber auch herausgelesen werden, welche Fachkundeanforderungen an Akteure gestellt werden, die sich mit der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen beschäftigen oder beschäftigen wollen.
Die psychischen Belastungen sind als Gegenstand der Beurteilung im § 5 des Arbeitsschutzgesetzes verankert, aber – wie bereits oben angemerkt – weder durch eine spezifizierende Verordnung noch durch Technische Regeln untermauert. Insofern gibt es eine breite Unsicherheit, wie diese Beurteilung erfolgen muss und welche Fachleute heranzuziehen sind. Allerdings besteht kein Zweifel, dass auch diese Beurteilung, wie alle anderen, fachkundig zu erstellen ist.
Durch die Qualifizierungsempfehlungen hat die GDA nun deutlich gemacht, welche Mindestanforderungen an das Wissen oder die Fachkunde zu fordern sind. Dadurch fallen gegebenenfalls viele potenzielle Akteure aus. So wären zum Beispiel reine Psychologen oder gar Psychotherapeuten nicht fachkundig, die Gefährdungsbeurteilung zu erstellen, da es ihnen (meist) an den notwendigen Arbeitsschutzkenntnissen fehlt und häufig eine zu starke individualisierte Sichtweise vorherrscht. Denn: Es geht um das zu verbessernde Arbeitssystem.
Auf der anderen Seite bedeutet dies nicht, dass Fachkraft und Betriebsarzt allein die Beurteilung ausführen müssen oder sollen. Eine fachkundige Erstellung setzt bereits vor der eigentlichen Gefährdungsbeurteilung eine differenzierte Reflektion darüber voraus, wie und durch welche Akteure die Beurteilung fachkundig ausgeführt werden kann. In vielen Fällen wird sich herausstellen, dass nur ein Team aus Arbeitsschützern, Mitarbeitervertretern und gegebenenfalls externen Fachleuten (zum Beispiel Arbeitspsychologen), die Fragestellungen angemessen bearbeiten kann.
Spannend zu lesen ist auch, dass die Qualifizierungsempfehlungen keinerlei Angaben zu anderen Akteuren machen, also zum Beispiel zu Vertretern des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM). Diese werden offensichtlich nicht als primäre Ansprechpartner gesehen, da der regulierte Arbeitsschutz (dann) ausreichend qualifizierte Akteure bereithält. Will also ein Unternehmen die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen über das BGM abbilden lassen, so ist auch hier die Fachkunde sicherzustellen. Entweder durch eine entsprechende Ausbildung oder durch eine angemessene Teamgestaltung.
Fazit
Die von der GDA herausgegeben Empfehlungen sind ein wichtiger Meilenstein, um das Thema der psychischen Belastungen stärker in den Betrieben zu verankern und gleichzeitig den beiden wichtigsten Hauptansprechpartnern ihre Rolle in Bezug auf eine unangemessene psychische Arbeitsgestaltung klarzumachen.
Das wird nicht von heute auf morgen umzusetzen sein, da gelebte Fachkulturen erweitert werden müssen. Fachkräfte für Arbeitssicherheit wurden bisher häufig technikorientiert ausgewählt, da deren traditionelle Ausrichtung nur geringe Affinitäten zu psychischen Aspekten der Arbeitsgestaltung aufwies. Hier müssen flächendeckend Fortbildungsangebote vorgehalten werden und/oder in den Betrieben die Auswahlkriterien für die zu bestellenden Fachkräfte überdacht werden. In wenig technisch ausgerichteten Betrieben ist es nicht erforderlich, immer einen Ingenieur oder Mitarbeiter mit rein technischer Ausbildung zur Fachkraft zu machen.
Auf der anderen Seite macht die GDA damit noch einmal deutlich, dass psychische Belastungen ein Kernthema des Arbeitsschutzes sind und entsprechende Aktivitäten in den gewohnten Strukturen und durch in der Praxis bewährte Akteure zu bearbeiten sind – und die GDA dies den genannten Akteuren auch zutraut. Die gelegentlich nahezu „zwanghaft“ erscheinende Delegation des Themas in andere Prozessstrukturen wie zum Beispiel dem BGM ist nicht erforderlich und wird auch von den leitenden Fachkreisen nicht als notwendig erachtet.
Literatur
- Kiparski, R. von (2013): Beurteilung arbeitsbedingter psychischer Belastungen durch Fachkräfte für Arbeitssicherheit. –
Sicherheitsingenieur 8/2013, 8 – 13
- Wittmann, S. (2008): Jetzt auch noch Seelenklempner, Teil 1 und Teil 2. –
Sicherheitsingenieur 9/2008, 44 – 47,
Sicherheitsingenieur 10/2008, 40 –42
Autor: Dr. Gerald Schneider
BAD Gesundheitsvorsorge und
Sicherheitstechnik GmbH, Bonn
E‑Mail: gerald.schneider@bad-gmbh.de
Die Outcomes
Die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA) ist eine gesetzlich verankerte Plattform, die sich aus Vertretern von Bund, Ländern und Behörden zusammensetzt und ein gemeinsames Präventionshandeln garantieren soll. Zu den vielfältigen Aufgaben der GDA gehören auch Fragen zu gemeinsamen Arbeitsschutzzielen, verbesserter Umsetzung in den Betrieben und angepassten Vorschriften. Ein großer Teil der Arbeit der GDA wird weder von der Öffentlichkeit noch von den Arbeitsschutzakteuren wahrgenommen, da die Ergebnisse – für uns Außenstehende meist unerkannt – zum Beispiel in technische Regeln oder Regelungen der Unfallversicherungsträger eingehen. Für die Praktiker interessant wird es aber immer dann, wenn es ansonsten keine Regelungen gibt, wie zum Beispiel bei den psychischen Belastungen.
So hat die GDA schon vor längerer Zeit „Empfehlungen zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen“ herausgegeben, die allgemein akzeptiert sind und deren Kriterien als Grundlage des Aufsichtshandelns verstanden werden.
In den jüngeren „Empfehlungen zur Qualifizierung betrieblicher Akteure für die Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen“ sind ergänzend Angaben zu den Rollen und Fachkenntnissen der Akteure genannt, wobei die GDA über sogenannte Outcomes das zusammenfasst, was nach ihrer Meinung sichergestellt sein muss. Dies sind:
- Outcome 1: Aufgeschlossenheit / Sensibilisierung gegenüber dem Thema psychische Belastung und Beanspruchung bei der Arbeit
- Outcome 2 : Verantwortungsübernahme und Rollenklarheit in Bezug auf die eigene Aufgabe
- Outcome 3: Grundlegendes Wissen über psychische Belastung bei der Arbeit
- Outcome 4 : Methodische Kenntnisse zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung bei der Arbeit
- Outcome 5 : Wissen und Bereitschaft zur angemessenen Durchführung der Gefährdungsbeurteilung
- Outcome 6 : Wissen und Bereitschaft zur Umsetzung von Maßnahmen der Verhältnis- und Verhaltensprävention in Bezug auf psychische Belastung
- Outcome 7 : Sensibilität gegenüber speziellen Themenfeldern wie Mobbing, Burnout, etc.
- Outcome 8 : Bereitschaft zur Integration der Verfahren zur Sicherstellung einer menschengerechten Unternehmensentwicklung in alle relevanten Prozesse
Dabei wird nicht erwartet, dass alle Akteure alle Outcomes gleichmäßig „bedienen“ können. Daher werden in den „Empfehlungen“ für einzelne Funktionen differenzierte Angaben gemacht, die für die Fachkraft für Arbeitssicherheit in diesem Artikel näher betrachtet werden.
Die „Empfehlungen zur Qualifizierung betrieblicher Akteure für die Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen“ können heruntergeladen werden unter
www.gda-portal.de Für Betriebe Psychische Belastungen, im Kasten „Zum Thema“