Um die Risiken zu minimieren, wurde in den vergangenen zehn Jahren viel in „klassische“ Unfallprävention investiert, zum Beispiel in folgende Maßnahmen:
- Seminare der Berufsgenossenschaften
- Verstärkung und Verbesserung der Sicherheitsunterweisungen
- Verstärkung und Verbesserung der persönlichen Schutzausrüstung (PSA)
- Täglicher Sicherheitsimpuls (= ansprechen von Risiken im lokalen Shopfloormanagement)
- Arbeitssicherheitsaktionen (Hautschutz, Augenschutz, Handschutz etc.)
Trotz der intensiven Betonung dieser Thematik konnten die Unfallzahlen nicht unter eine Widerstandslinie von circa 80 Unfällen pro Jahr (bei 1.600 Produktionsmitarbeitern) gebracht werden. Die regelmäßige Analyse des Unfallgeschehens ergab, dass für 96 Prozent der Unfälle die Ursache im unsicheren Verhalten der Mitarbeiter zu suchen war. Es musste folglich etwas geschehen, um die Menschen davon abzuhalten, so bereitwillig unsichere Handlungen zu begehen. In diesem Zusammenhang stellte sich die Frage: Was muss getan werden, damit die Mitarbeiter aus innerem Antrieb der sicheren Arbeitsweise den Vorzug geben?
Zu diesem Zweck hat MAN Diesel & Turbo SE in der Montageabteilung ein Projekt mit dem Titel „Verhaltensbasierter Arbeitsschutz“ (Behaviour Based Safety/BBS) initiiert. Mit Unterstützung durch HRP Heinze Consulting wurde ein Pilot-Programm zur flächendeckenden Einbindung aller 240 Mitarbeiter der Montage aufgelegt. Das Ziel war klar definiert: Etablierung einer gelebten, allgemeingültigen Sicherheitskultur, die keine unsicheren Handlungen mehr toleriert. Alle Mitarbeiter sollten dafür sensibilisiert werden, aus innerem Antrieb ihre Arbeiten sicher auszuführen und aktiv gegen unsichere Handlungen vorzugehen.
Das Verhalten steht im Mittelpunkt
Unfälle entstehen zum überwiegenden Teil durch unsichere Handlungen. Die Ursachen der unsicheren Zustände und Handlungen liegen stets im Verhalten der Menschen. Für die Reduzierung der Unfallzahlen ist folglich das Verhalten der Menschen der ausschlaggebende Faktor.
Bei der breiten Masse der Mitarbeiter muss also ein Umdenken erreicht werden, um Verbesserungen im Arbeitsschutz zu erzielen.
Es gilt,
- unsichere Zustände zu erkennen,
- sichere Verhaltensweisen zu definieren,
- das Verhalten aller Beteiligten anzupassen,
- Fehlverhalten konsequent anzusprechen und
- sicheres Verhalten zu verstärken.
Nur dann ist es möglich, eine umfassende Sicherheitskultur zu etablieren.
Der Veränderungsprozess
Der Umstieg von der „klassischen“ Arbeitssicherheit hin zum verhaltensbasierten Arbeitsschutz stellt einen grundlegenden Veränderungsprozess dar. Es muss ein Wandel vom konservativen, auf Sicherheitsvorschriften basierenden System hin zu einer etablierten umfassenden Sicherheitskultur vollzogen werden, die keine unsicheren Handlungen mehr duldet. Folgende Grundsätze sind in diesem Zusammenhang zu beachten:
- Die Veränderung erfolgt von oben nach unten.
- Alle Mitarbeiter müssen eingebunden werden.
- Arbeitssicherheit muss als allgemeingültiges, attraktives Ziel etabliert werden.
- Sichere Verhaltensweisen müssen im täglichen Arbeitsleben nachhaltig verankert werden.
Vorbereitungen
Zuerst bedarf es der Erarbeitung von verbindlichen Arbeitsschutzzielen und/oder einer Arbeitsschutz-Vision. Die Ziele und die Vision müssen dabei so attraktiv für alle Beteiligten sein, dass sie den Aufwand für den notwendigen Veränderungsprozess mehr als aufwiegen. Arbeitsschutz darf nicht mehr als notwendiges Übel wahrgenommen werden, sondern muss sich als fester Bestandteil der täglichen Arbeit etablieren.
Seminarreihe zur Einstellungs- und Verhaltensänderung
Im ersten Schritt müssen alle Mitarbeiter zur Thematik abgeholt werden. Dies geschieht in hierarchisch-kaskadierten Seminaren mit kleinen Gruppen von maximal zwölf Mitarbeitern. Die Kaskade wird von oben nach unten angestoßen, also zuerst vom Bereichsleiter zu den Abteilungsleitern, danach vom Abteilungsleiter zu den Meistern und darauf folgend vom Meister zu den Mitarbeitern.
Im ersten Teil jedes Seminars werden attraktive Arbeitsschutzziele und, falls vorhanden, eine Arbeitsschutzvision vermittelt, die im Vorfeld erarbeitet wurde. Maßgebend für den Erfolg ist, wie gut es gelingt, die Mitarbeiter emotional abzuholen. Es muss jedem Mitarbeiter klar werden, welche extremen Folgen aus einem Arbeitsunfall für jeden persönlich und im privaten Umfeld erwachsen könnten. Darüber hinaus müssen sich die Mitarbeiter ihrer Verantwortung gegenüber den Kollegen bewusst werden. Unsicheren Handlungen von Kollegen dürfen nicht länger stillschweigend hingenommen werden.
Im zweiten Teil des Seminars erfolgt eine aktuelle Bestandsaufnahme, wie es um den Arbeitsschutz im Unternehmen bestellt ist. Darauf aufbauend erarbeiten die einzelnen Mitarbeiter persönliche Beiträge, um den Arbeitsschutz zu verbessern. Auf diese Weise kann jeder Mitarbeiter in seinem Arbeitsbereich die eigenen Handlungen aktiv verändern und so seinen Beitrag zur Umsetzung der Arbeitsschutzvision leisten.
So erhält man über alle Hierarchieebenen hinweg Beiträge aller Mitarbeiter, die die Veränderung hin zu einer gelebten Sicherheitskultur unterstützen. Während des Veränderungsprozesses kann in den Sicherheitsgesprächen auf diese Beiträge zurückgegriffen werden, um bei Abweichungen vom gewünschten sicheren Verhalten die vereinbarten vorbildlichen und selbst erarbeiteten Verhaltensweisen einzufordern.
Am Ende des Seminars werden die erarbeiteten gewünschten Verhaltensweisen in einer Selbstverpflichtungserklärung festgehalten und sowohl vom Vorgesetzten als auch vom Mitarbeiter unterzeichnet. Mit diesem Schritt wird die Verbindlichkeit der gemeinsam erarbeiteten Beiträge zur gelebten Sicherheitskultur festgehalten.
Seminarreihe zur Etablierung der gewünschten Sicherheitskultur
In einer weiteren Seminarreihe werden Mitarbeiter, die den Veränderungsprozess bereits vorbildlich unterstützen, zu „Botschaftern“ des Arbeitsschutzes ausgebildet. Im Seminar erhalten sie ein Beobachtungs- und Gesprächstraining mit dem Ziel, Themen des Arbeitsschutzes im täglichen Umgang mit den Kollegen aktiv anzusprechen und einen positiven Sicherheitsdialog in Gang zu setzen. Diese Gespräche dürfen keinesfalls einen ermahnenden oder belehrenden Charakter haben. Vielmehr sollen positive Verhaltensweisen bestärkt, Fehlverhalten konstruktiv besprochen und unsicheren Zustände eliminiert werden. Bei einem beobachteten Fehlverhalten ist der Hinweis auf die Seminarreihe zur Einstellungs- und Verhaltensänderung im Arbeitsschutz hilfreich, da die Mitarbeiter in diesem Rahmen die positiven Aspekte des Arbeitsschutzes selbst erarbeitet haben.
Die Sicherheitsgespräche werden im Nachgang in einem standardisierten Gesprächsformular dokumentiert und in einer Datenbank erfasst, um eine systematische Auswertung zu ermöglichen. Die gesammelten Daten geben Rückschlüsse auf die Handlungsschwerpunkte zur Verbesserung des Arbeitsschutzes, die von den Vorgesetzten aufgegriffen und bearbeitet werden müssen.
Auf diese Weise unterliegt der Arbeitsschutz einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess, die Arbeitsschutzthemen sind im Tagesgeschehen stets präsent und werden aktiv angesprochen. Durch diese Vorgehensweise entwickelt sich eine Sicherheitskultur, in der die aktiven, vorbildlichen Mitarbeiter ihre Kollegen sukzessive in den sicheren Bereich des Arbeitsschutzes bringen. Am Ende des Veränderungsprozesses sollte die große Mehrheit der Belegschaft im sicheren Arbeitsschutz angekommen sein. Sobald dieser fest verankert ist, werden unsichere Handlungen nicht mehr toleriert und von allen Mitarbeitern offen angesprochen.
Die gelebte Sicherheitskultur
Das große Ziel des verhaltensbasierten Arbeitsschutzes ist eine gelebte Sicherheitskultur, in der sich alle Beteiligten vorbildlich verhalten, auf ihre Kollegen achten und Missstände ungeachtet der Hierarchien umgehend ansprechen und sofort beseitigen. Es herrscht eine einheitliche Auffassung von Arbeitsschutz auf hohem Niveau und alle übernehmen die „Sicherheits-Verantwortung“ für sich selbst und ihre Kollegen. Unsichere Handlungen werden in der gesamten Organisation nicht länger geduldet.
Fazit
Der Schlüssel zu einem hohen Standard im Arbeitsschutz liegt im Verhalten aller Beschäftigten. Grundlage hierfür ist die Verankerung des Arbeitsschutzes bei allen Beteiligten über alle Hierarchiestufen hinweg und aus eigenem innerem Antrieb heraus. Das Ziel ist die Etablierung einer gelebten Sicherheitskultur, in der unsichere Handlungen keine Chancen mehr haben.
Autor: Josef Fischer
Abteilungsleiter Motorenmontage und Lackierung,
MAN Diesel & Turbo, Augsburg
MAN Diesel & Turbo SE
Die MAN Diesel & Turbo SE ist weltweit führender Anbieter von Großdiesel- und Gasmotoren sowie von Turbomaschinen. Am Stammsitz in Augsburg befinden sich Entwicklung und Produktion der großen Viertaktmotoren für maritime und stationäre Anwendungen. Der größte Dieselmotor aus Augsburg hat ein Gewicht von circa 240 Tonnen und eine Größe von circa 13 x 5 x 5 Metern (L x B x H).