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Sitzmöbel und Arbeitsschutzmängel

Sitzmöbel und Schutzmängel
Der „einfache Holzstuhl“ im Münchener Amt und das Arbeitsschutzrecht

Der „einfache Holzstuhl“ im Münchener Amt und das Arbeitsschutzrecht
Von den Räumlichkeiten und dem Holzstuhl ging zwar keine unmittelbare und akute Gefahr für Leib und Leben der Klägerin aus, aber das LAG München bemängelte, dass der Arbeitsplatz weder funktionsfähig noch zumutbar sei. Das BAG sah dies in einem kritikwürdigen Urteil anders. Foto: © Alexander – stock.adobe.com
Als eine Angestellte im Öffentlichen Dienst ein­er Stadt nach 12-wöchiger Arbeit­sun­fähigkeit in die Behörde zurück­kehrte, wurde ihr eine neue Arbeit­sauf­gabe zugewiesen – in einem Büro mit einem Schreibtisch „und einem ein­fachen Holzs­tuhl“. Ist ihre Kündi­gung wegen Arbeitsver­weigerung nach mehreren Abmah­nun­gen rechtmäßig?

Auf die Kündi­gungss­chutzk­lage der Arbeit­nehmerin stellte das Lan­desar­beits­gericht München1 fest, dass die Kündi­gung unwirk­sam sei und das Arbeitsver­hält­nis fortbeste­he – und begrün­dete: „Zwar mag es sein, dass von den Räum­lichkeit­en keine unmit­tel­bare und akute Gefahr für Leib und Leben der Klägerin aus­ge­gan­gen sein mag, ein funk­tions­fähiger und zumut­bar­er Arbeit­splatz war gle­ich­wohl nicht vorhanden.

Bere­its die von der Klägerin vorgelegten Bilder zeigen, dass auch ein­fach­ste Büroausstat­tung nicht vorhan­den war. So stand in dem Büro statt eines den Anforderun­gen an die Arbeitssicher­heit und Ergonomie genü­gen­den Schreibtis­chstuhls ein sichtlich in die Jahre gekommen­er, hölz­ern­er Küchen­stuhl.

Darüber hin­aus hat das Gewer­beauf­sicht­samt den Arbeit­splatz dur­chaus bean­standet. Es hat die Beklagte u.a. aufge­fordert, erforder­liche Maler‑, Reini­gungs- und Ren­ovierungsar­beit­en durchzuführen und den Arbeit­splatz gemäß den Vor­gaben der Arb­StättV einzuricht­en, eine ‚Freimes­sung‘ der Raum­luft durchzuführen sowie die Maß­nah­men umzuset­zen, die die Fachkraft für Arbeitssicher­heit bei der Bege­hung pro­tokol­liert hat. Auch der betrieb­särztliche Dienst hat darauf hingewiesen, dass der Arbeit­splatz vor Auf­nahme ein­er fach­spez­i­fis­chen Tätigkeit der Mitar­bei­t­erin u.a. zunächst nach ergonomis­chen Vor­gaben einzuricht­en und zu reini­gen sei.“

BAG: „geringfügige oder kurzzeitige Arbeitsschutzverstöße“ können zumutbar sein

Das Bun­de­sar­beits­gericht hob das Urteil indes auf2: Das LAG „durfte in tat­säch­lich­er Hin­sicht nicht allein auf­grund der von der Klägerin vorgelegten Fotos annehmen, der vorhan­dene Holzs­tuhl habe nicht ‚den Anforderun­gen an die Arbeitssicher­heit und Ergonomie‘ genügt. Das LAG hat sich nicht auf eine eigene arbeitss­chutzrechtliche Sachkunde berufen, geschweige denn begrün­det, woher es sie nimmt.

Auch bele­gen wed­er das Schreiben des Gewer­beauf­sicht­samts, das keine Anord­nun­gen nach § 22 Abs. 3 Arb­SchG enthielt, noch das­jenige des betrieb­särztlichen Dien­stes, eine – auch nur vorüberge­hende – Nutzung des Büros sei aus Grün­den der Arbeitssicher­heit oder des Gesund­heitss­chutzes nicht ‚zumut­bar‘ gewe­sen. In rechtlich­er Hin­sicht wäre zu beacht­en gewe­sen, dass selb­st dann, wenn die Beklagte ihren Pflicht­en gemäß § 618 Abs. 1 BGB i.V.m. den öffentlich-rechtlichen Arbeitss­chutznor­men nicht genügt haben sollte, die Zuweisung des neuen Arbeit­splatzes deshalb nicht unbil­lig gewe­sen wäre, wenn es sich um nur ger­ingfügige oder kurzzeit­ige Ver­stöße gehan­delt haben sollte, die – wovon das LAG selb­st aus­ge­gan­gen ist (‚keine unmit­tel­bare und akute Gefahr für Leib und Leben der Klägerin‘) – keinen nach­halti­gen Schaden bewirken kon­nten“. Das BAG zitierte Kom­mentare „zum Nichtbeste­hen eines Zurück­be­hal­tungsrechts nach § 273 Abs. 1 BGB in solchen Fällen“. Bei einem solchen Zurück­be­hal­tungsrecht geht es um die Frage, wann die Arbeit­sleis­tun­gen wegen der Arbeits­be­din­gun­gen ver­weigert wer­den darf.

Das BAG ver­wies die Sache zur neuen Ver­hand­lung und Entschei­dung an das LAG München zurück. Das LAG musste dann aber nichts mehr zum Arbeitss­chutz sagen, denn die Parteien schlossen am 14. Mai 2019 einen Ver­gle­ich, dessen Inhalt nicht bekan­nt ist. Es gab trotz­dem noch einen Beschluss vom 9. Okto­ber 2019, weil die Klägerin den Ver­gle­ich wider­rufen hat­te – das LAG meinte aber, das sei zu spät, und stellte fest, „dass der Rechtsstre­it durch den Ver­gle­ich vom 14.05.2019 been­det wurde.“

Kann ein Holzstuhl nun arbeitsschutzkonform sein?

Entschei­dend bei der Frage der Arbeitss­chutzkon­for­mität eines Stuhls ist natür­lich eine konkrete Gefährdungs­beurteilung – jeden­falls gemäß Arb­SchG. Der Kom­Net Dia­log 15164 der Kom­Net-Wis­sens­daten­bank (Stand: 24.03.2017) sieht Bürostüh­le als Arbeitsmit­tel i.S.d. Betr­SichV3. Zur „Ausstat­tung“ heißt es in Anhang Nr. 3.3 Abs. 2 der ArbStättV:

  • „Kann die Arbeit ganz oder teil­weise sitzend ver­richtet wer­den oder lässt es der Arbeitsablauf zu, sich zeitweise zu set­zen, sind den Beschäftigten am Arbeit­splatz Sitzgele­gen­heit­en zur Ver­fü­gung zu stellen.“ Zu Anforderun­gen an Stüh­le ist aber nichts gesagt.

Früher enthielt die Tech­nis­che Regel für Arbeitsstät­ten (ASR) 25/1 „Sitzgele­gen­heit­en“ (Aus­gabe Okto­ber 1985) Anforderun­gen an Beschaf­fen­heit und Aus­führung von Stühlen. Heute gibt es immer­hin Art. 14 des ILO-Übereinkom­mens 120 über den Gesund­heitss­chutz in Han­del und Büros vom 8. Juli 1964 der Inter­na­tionalen Arbeit­sor­gan­i­sa­tion, das mit Gesetz vom 27. August 1973 in deutsches Recht über­nom­men wurde (BGBl II vom 31.08.1973, S. 1255): „Den Arbeit­nehmern sind geeignete Sitzgele­gen­heit­en in aus­re­ichen­der Zahl zur Ver­fü­gung zu stellen; die Arbeit­nehmer müssen in vertret­barem Maße die Möglichkeit haben, diese zu benutzen.“

Etwas konkreter wird die DGUV 215–410 (bish­er BGI 650) „Bild­schirm- und Büroar­beit­splätze“ in Nr. 8.3.2 zum Büroar­beitsstuhl: „Der Büroar­beitsstuhl soll die natür­liche Hal­tung des Men­schen im Sitzen unter­stützen und im angemesse­nen Ver­hält­nis zur Arbeit­sauf­gabe Bewe­gun­gen fördern.“4 Ob das ein „ein­fach­er Holzs­tuhl“ erre­ichen kann, ist zweifel­haft. Will das BAG behaupten, dass irgen­deine Möglichkeit beste­ht, dass für die Arbeit­nehmerin der Stadt ein „hölz­ern­er Küchen­stuhl“ aus­re­ichen könne?

Sind „geringfügige oder kurzzeitige Arbeitsschutzverstöße“ wirklich hinzunehmen?

Wenn der Holzs­tuhl nicht arbeitss­chutzkon­form ist, geht es arbeits- bzw. zivil­rechtlich um die „Pflicht zu Schutz­maß­nah­mengemäß § 618 BGB5. Diese Vorschrift gilt für alle Dien­stverträge – also auch Arbeitsverträge:

  • „Der Dien­st­berechtigte hat Räume, Vor­rich­tun­gen oder Gerätschaften, die er zur Ver­rich­tung der Dien­ste zu beschaf­fen hat, so einzuricht­en und zu unter­hal­ten und Dien­stleis­tun­gen, die unter sein­er Anord­nung oder sein­er Leitung vorzunehmen sind, so zu regeln, dass der Verpflichtete gegen Gefahr für Leben und Gesund­heit soweit geschützt ist, als die Natur der Dien­stleis­tung es gestattet.“

§ 618 BGB ist nach der Recht­sprechung eine „Teilaus­prä­gung der all­ge­meinen Für­sorgepflicht“ des Arbeit­ge­bers6 – und „die Für­sorgepflicht umfasst auch das, was der Arbeit­ge­ber kraft arbeitss­chutzrechtlich­er Vorschriften dem Arbeit­nehmer angedei­hen lassen muss“7.

Entschei­dend ist, dass § 618 Abs. 1 BGB „bildlich gesprochen das pri­va­trechtliche Medi­um (ist), durch das das öffentlich-rechtliche Arbeitss­chutzrecht im Zivil­recht seine Wirkun­gen ent­fal­tet“8. Den Rechtsvorschriften des „tech­nis­chen Arbeitss­chutzes“ kommt „eine Dop­pel­wirkung zu, weil ihre Schutzpflicht­en über § 618 Abs. 1 BGB in das Arbeitsver­tragsrecht trans­formiert wer­den; dann sind sie neben öffentlich-rechtlichen Pflicht­en zugle­ich unab­d­ing­bare pri­va­trechtliche Pflicht­en des Arbeit­ge­bers im Sinne eines einzuhal­tenden Min­dest­stan­dards9.

Das BAG hat in seinem Urteil zum Holzs­tuhl die Wirkung des § 618 BGB als „unab­d­ing­bar­er Min­dest­stan­dard“ nun etwas rel­a­tiviert: Selb­st wenn ein Arbeit­ge­ber – so das BAG – seinen „Pflicht­en gemäß § 618 Abs. 1 BGB in Verbindung mit den öffentlich-rechtlichen Arbeitss­chutznor­men nicht genügt haben sollte, wäre die Zuweisung des neuen Arbeit­splatzes deshalb nicht unbil­lig gewe­sen, wenn es sich um nur ger­ingfügige oder kurzzeit­ige Ver­stöße gehan­delt haben sollte, die keinen nach­halti­gen Schaden bewirken kon­nten“; das BAG betont let­ztlich um Ver­ständ­nis bit­tend, auch das LAG habe gesagt, es beste­he „keine unmit­tel­bare und akute Gefahr für Leib und Leben der Klägerin“.

Das BAG ver­weist insoweit auf zwei Urteile des BVer­wG10 und des OVG Saar­land11, in denen es indes nur heißt, dass „die bloße Möglichkeit ein­er gesund­heitlichen Gefährdung durch eine (beab­sichtigte) Ver­set­zung noch nicht aus­re­ichend ist, um die Ver­set­zung wegen Ver­let­zung der Für­sorgepflicht ermessens­fehler­haft zu machen“.

Elf Kritikpunkte am BAG-Urteil

Das Urteil des BAG ist aus elf Grün­den zu kritisieren:

  • Erstens ging es in den bei­den in Bezug genom­men Urteilen des BVer­wG und des OVG Saar­land um die (mögliche) Ver­let­zung der Für­sorgepflicht durch eine (beab­sichtigte) Ver­set­zung und nicht um Ver­stöße gegen Pflicht­en des (tech­nis­chen) Arbeitss­chutzes. Diese bei­den Sit­u­a­tio­nen sind eher nicht so ver­gle­ich­bar, dass die Aus­sagen zum einen Fall auf den anderen über­tra­gen wer­den kön­nen, denn:
  • Zweit­ens ging es in den bei­den in Bezug genom­men Urteilen des BVer­wG und des OVG Saar­land nur um die Wahrschein­lichkeit der Gefährdung durch eine (an sich nicht arbeitss­chutzwidrige) Ver­set­zung und nicht – wie im hier besproch­enen Münch­en­er Fall – um das Aus­maß fest­gestell­ter (so das LAG) oder unter­stell­ter (so das BAG bei dieser Zusatzar­gu­men­ta­tion der Zumut­barkeit) Rechtsver­stöße gegen den öffentlich-rechtliche Arbeitsschutz.
  • Drit­tens regelt § 619 BGB aus­drück­lich die „Unab­d­ing­barkeit der Für­sorgepflicht­en“ und betont, dass die dem Arbeit­ge­ber nach § 618 BGB obliegen­den Verpflich­tun­gen „nicht im Voraus durch Ver­trag aufge­hoben oder beschränkt wer­den kön­nen“. Es heißt nicht, dass bei Ger­ingfügigkeit­en oder (so sug­geriert es das BAG) wenn nur Schä­den „bewirkt“ wer­den kön­nen, die nicht „nach­haltig“ sind, Tol­er­anzpflicht­en der Arbeit­nehmer beste­hen – und das BAG hat­te ja auch 2008 die „unab­d­ing­baren pri­va­trechtlichen Pflicht­en des Arbeit­ge­bers im Sinne eines einzuhal­tenden Min­dest­stan­dards“ betont.
  • Viertens sagt das BVer­wG12, die „Ver­set­zung des Klägers hätte die Für­sorgepflicht ver­let­zen und sich deshalb als ermessens­fehler­haft erweisen kön­nen, wenn das vorin­stan­zliche Urteil fest­gestellt hätte, der Aufen­thalt am Arbeit­splatz werde sich mit hoher Wahrschein­lichkeit nachteilig auf den gesund­heitlichen (kör­per­lichen und/oder seel­is­chen) Zus­tand auswirken“ und „wenn weit­er fest­gestellt wor­den wäre, dass es der Arbeit­ge­berin ohne unangemessene Ver­nach­läs­si­gung dien­stlich­er Belange zu der in Rede ste­hen­den Zeit möglich gewe­sen sei, den Kläger in eine freie Planstelle an einen anderen Ort zu ver­set­zen, der in gesund­heitlich­er Beziehung für ihn gün­stiger ist“. Über­tra­gen auf die hier zu beurteilende Holzs­tuhl-Sit­u­a­tion: Ist es nicht mit hoher Wahrschein­lichkeit (jeden­falls seel­isch) gesund­heits­ge­fährdend, wenn man in einem dreck­i­gen Raum auf einem hölz­er­nen Küchen­stuhl sitzen muss – und vor allen Din­gen: Ist es nicht ein­fach möglich (und deshalb zu fordern), diesen Zus­tand zu ändern?
  • Fün­ftens soll durch die Tech­nis­che Regel für Arbeitsstät­ten über „Raum­abmes­sun­gen und Bewe­gungs­flächen“ (ASR A1.2 Nr. 4 Absatz 1) „sichergestellt“ wer­den, „dass die Beschäftigten ohne Beein­träch­ti­gung ihrer Sicher­heit, ihrer Gesund­heit oder ihres Wohlbefind­ens ihre Arbeit ver­richt­en können“.
  • Sech­stens berichtete das LAG München, das Gewer­beauf­sicht­samt „hat die Stadt u.a. aufge­fordert, erforder­liche Maler‑, Reini­gungs- und Ren­ovierungsar­beit­en durchzuführen und den Arbeit­splatz gemäß den Vor­gaben der Arb­StättV einzuricht­en, eine ‚Freimes­sung‘ der Raum­luft durchzuführen sowie die Maß­nah­men umzuset­zen, die die Fachkraft für Arbeitssicher­heit bei der Bege­hung pro­tokol­liert hat. Auch der betrieb­särztliche Dienst hat darauf hingewiesen, dass der Arbeit­splatz vor Auf­nahme ein­er fach­spez­i­fis­chen Tätigkeit der Mitar­bei­t­erin u.a. zunächst nach ergonomis­chen Vor­gaben einzuricht­en und zu reini­gen sei“. Das BAG meinte dann, diese Schreiben „bele­gen“ nicht, „eine – auch nur vorüberge­hende – Nutzung des Büros sei aus Grün­den der Arbeitssicher­heit oder des Gesund­heitss­chutzes nicht ‚zumut­bar‘ gewe­sen“. Der genaue Inhalt der Schreiben ist in keinem der Urteile abge­druckt. Will aber das BAG damit sagen, dass trotz erforder­lich­er Reini­gungs- und Ren­ovierungsar­beit­en, trotz ein­er Auf­forderung, die Arb­StättV und Maß­nah­men gemäß einem Pro­tokoll der der Fachkraft für Arbeitssicher­heit umzuset­zen und trotz der Erforder­lichkeit, „zunächst nach ergonomis­chen Vor­gaben einzuricht­en und zu reini­gen sei“, eine Arbeit in dieser Räum­lichkeit zumut­bar sein könne?
  • Siebtens ging es im Ver­fahren des OVG Saar­land13 um die Ver­sa­gung von Eil­rechtss­chutz in Bezug auf eine Ver­set­zungsver­fü­gung. In solchen Ver­fahren des vor­läu­fi­gen Rechtss­chutzes beto­nen Gerichte (wie auch das OVG) immer eine „vor­liegend allein möglichen sum­marischen Prü­fung“ – und im Fall des OVG war es „nicht hin­re­ichend wahrschein­lich, dass das von der Fachärztin fest­gestellte Krankheits­bild maßge­blich durch die Ver­set­zung aus­gelöst wurde“. In dem hier zu beurteilen­den Holzs­tuhl-Fall ging es dage­gen nicht um eine solche sum­marische – also nicht abschließende und auf Wahrschein­lichkeit­en beruhende – Entscheidung.
  • Acht­ens hat das LAG München gar nicht gesagt, dass keine unmit­tel­bare Gefahr bestand, son­dern sehr vor­sichtig for­muliert, dass das sein könne. Es ist schlicht unzutr­e­f­fend, wenn das BAG behauptet, das LAG sei davon „aus­ge­gan­gen“. Wenn Juris­ten for­mulieren, dass etwas sein „mag“ (wie das LAG sog­ar dop­pelt), brin­gen sie ger­ade zum Aus­druck, dass es ihnen darauf nicht ankommt und sie das nicht geprüft haben, eben weil ein ander­er Gesicht­spunkt für ihre Entschei­dung im Vorder­grund stand – hier war das eben für das LAG, dass „ein funk­tions­fähiger und zumut­bar­er Arbeit­splatz nicht vorhan­den war“.
  • Neun­tens wies das BAG darauf hin, das Schreiben des Gewer­beauf­sicht­samts „enthielt keine Anord­nun­gen nach § 22 Abs. 3 Arb­SchG“. Will das Gericht damit sagen, dass erst bei solchen formellen Ver­fü­gun­gen zur zwangsweisen Durch­set­zung des Arbeitss­chutzes eine Unzu­mut­barkeit angenom­men wer­den könne? Die Prax­is sieht häu­fig anders aus: selb­st nach tödlichen Arbeit­sun­fällen wird nicht gle­ich ein voll­streck­bar­er Ver­wal­tungsakt erlassen, son­dern ein Bean­stan­dungss­chreiben geschickt. Außer­dem enthielt das Schreiben (so das LAG) eine „Auf­forderung“ – und es spricht vieles dafür, dass das eine „Entschei­dung oder andere hoheitliche Maß­nahme“ ist, „die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebi­et des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmit­tel­bare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist“ – das ist die Def­i­n­i­tion des Ver­wal­tungsak­ts in § 35 Ver­wal­tungsver­fahrens­ge­setz (VwVfG).
  • Zehn­tens disku­tierte das BAG all dies im Zusam­men­hang mit einem „Nichtbeste­hen eines Zurück­be­hal­tungsrechts nach § 273 Abs. 1 BGB in solchen Fällen“. Hier geht es indes um den Schutz­s­tan­dard des § 618 BGB, der (bis­lang jeden­falls) nicht eingeschränkt wurde – im Gegenteil:
  • Elftens deutet das BAG in zahlre­ichen Urteilen auch schon ein­mal an, dass im Einzelfall ein „Mehr“ nötig ist – näm­lich „beson­dere Schutz­maß­nah­men“14. „Beson­ders schutzbedürftige Arbeit­nehmer kön­nen unter Umstän­den Anspruch auf beson­dere Schutz­maß­nah­men haben“ – und dann „trifft den Arbeit­ge­ber eine gesteigerte Für­sorgepflicht“15. Es gilt: „Je schw­er­er ein möglich­er Schaden für den Arbeit­nehmer sein kann, desto stärk­er müssen die Schutz­maß­nah­men sein, die der Arbeit­ge­ber zu tre­f­fen hat.“16

Fazit

Umgekehrt kann aber – so meine ich – nicht gel­ten: Je geringer der Arbeitss­chutzver­stoß, desto mehr muss ein Beschäftigter ihn hin­nehmen. Arbeitss­chutz­min­destvorschriften sind auch min­destens umzuset­zen. Es beste­ht ein Anspruch auf einen funk­tions­fähi­gen Arbeit­splatz. Die Aus­sagen des BAG, wenn Arbeit­ge­ber ihren „Pflicht­en gemäß § 618 Abs. 1 BGB i.V.m. den öffentlich-rechtlichen Arbeitss­chutznor­men nicht genügt haben soll­ten, wäre die Zuweisung des neuen Arbeit­splatzes deshalb nicht unbil­lig gewe­sen, wenn es sich um nur ger­ingfügige oder kurzzeit­ige Ver­stöße gehan­delt haben sollte“, ist daher abzulehnen.

Damit ist übri­gens noch nicht gesagt, dass die Kündi­gung der Arbeit­nehmerin unwirk­sam war. Denn es ist nach Her­ausar­beitung aller rel­e­van­ten Umstände immer – so die Recht­sprechung in aber­tausenden Urteilen – „zu unter­suchen, ob bei Berück­sich­ti­gung dieser Umstände und der Inter­essen­ab­wä­gung die konkrete Kündi­gung gerecht­fer­tigt ist“. Das BAG hätte also gar nicht den Schutz durch § 618 BGG (i.V.m. dem öffentlich-rechtlichen Arbeitss­chutzrecht) rel­a­tivieren müssen, um zum beab­sichtigten Ergeb­nis zu gelan­gen, dass das LAG München die Kündi­gung bitte noch ein­mal prüfen solle. Das BAG-Urteil kön­nte und sollte daher ein ein­ma­liger „Aus­rutsch­er“ bleiben.

1 LAG München, Urteil v. 06.12.2016 (Az. 9 Sha 481/16)

2 BAG, Urteil v. 28.06.2018 (Az. 2 AZR 436/17).

3 Zu ihr Wilrich, Prax­isleit­faden Betrieb­ssicher­heitsverord­nung – mit 33 Gericht­surteilen, 2. Aufl. 2020.

4 Zur Bedeu­tung solch­er Infor­ma­tio­nen und ander­er tech­nis­ch­er Regel­w­erke Wilrich, Die rechtliche Bedeu­tung tech­nis­ch­er Nor­men als Sicher­heits­maßstab – mit 33 Gericht­surteilen zu anerkan­nten Regeln und Stand der Tech­nik, Pro­duk­t­sicher­heit­srecht und Verkehrssicherungspflicht­en, 2017.

5 Diese Grund­vorschrift wird sog­ar in Strafver­fahren herange­zo­gen – siehe Wilrich, Arbeitss­chutz-Strafrecht: Haf­tung für fahrläs­sige Arbeit­sun­fälle: Sicher­heitsver­ant­wor­tung, Sorgfalt­spflicht­en und Schuld – mit 33 Gericht­surteilen, 2020.

6 BAG, Urteil v. 14.12.2006 (Az. 8 AZR 628/05) – aus­führliche Fallbe­sprechung von Wilrich, Sicher­heitsver­ant­wor­tung: Arbeitss­chutzpflicht­en, Betrieb­sorgan­i­sa­tion und Führungskräfte­haf­tung – mit
25 erläuterten Gericht­surteilen, 2016, S. 170 – 184.

7 BAG, Urteil v. 10.03.1976 (Az. 5 AZR 34/75).

8 Staudinger/Oetker, Son­der­aus­gabe Arbeit­srecht, 2012, BGB § 618 Rn. 15.

9 BAG, Urteil v. 12.08.2008 (Az. 9 AZR 1117/06) – aus­führliche Fallbe­sprechung von Wilrich, Mitbes­tim­mungsrechte des Betrieb­srats bei den Grundpfeil­ern des Arbeitss­chutzes: Gefährdungs­beurteilung, Betrieb­san­weisung und Unter­weisung, in: ZBVR online Heft 10/2017, S. 34 – 40, abzu­rufen unter https://www.dbb.de/fileadmin/prforum/zbvr/zbvronline_2017_10.pdf

10 BVer­wG, Urteil v. 13.02.1969 (Az. II C 114/65).

11 OVG Saar­land, Urteil v. 09.12.2013 (Az. 1 B 411/13).

12 BVer­wG, Urteil v. 13.02.1969 (Az. II C 114/65).

13 OVG Saar­land, Urteil v. 09.12.2013 (Az. 1 B 411/13).

14 BAG, Urteil v. 17.02.1998 (Az. 9 AZR 84/97).

15 BAG, Urteil v. 08.05.1996 (Az. 5 AZR 315/95).

16 BAG, Urteil v.12.08.2008 (Az. 9 AZR 1117/06)
– siehe Fußnote 9.


Foto:© Thomas Wilrich

Recht­san­walt Prof. Dr. Thomas Wilrich

Hochschule München,

Fakultät Wirtschaftsin­ge­nieur­we­sen, Pro­fes­sor für Wirtschafts‑, Arbeits‑, Technik‑, Unternehmensorganisationsrecht
und Recht für Ingenieure

www.rechtsanwalt-wilrich.de

info@rechtsanwalt-wilrich.de

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