Auf die Kündigungsschutzklage der Arbeitnehmerin stellte das Landesarbeitsgericht München1 fest, dass die Kündigung unwirksam sei und das Arbeitsverhältnis fortbestehe – und begründete: „Zwar mag es sein, dass von den Räumlichkeiten keine unmittelbare und akute Gefahr für Leib und Leben der Klägerin ausgegangen sein mag, ein funktionsfähiger und zumutbarer Arbeitsplatz war gleichwohl nicht vorhanden.
Bereits die von der Klägerin vorgelegten Bilder zeigen, dass auch einfachste Büroausstattung nicht vorhanden war. So stand in dem Büro statt eines den Anforderungen an die Arbeitssicherheit und Ergonomie genügenden Schreibtischstuhls ein sichtlich in die Jahre gekommener, hölzerner Küchenstuhl.
Darüber hinaus hat das Gewerbeaufsichtsamt den Arbeitsplatz durchaus beanstandet. Es hat die Beklagte u.a. aufgefordert, erforderliche Maler‑, Reinigungs- und Renovierungsarbeiten durchzuführen und den Arbeitsplatz gemäß den Vorgaben der ArbStättV einzurichten, eine ‚Freimessung‘ der Raumluft durchzuführen sowie die Maßnahmen umzusetzen, die die Fachkraft für Arbeitssicherheit bei der Begehung protokolliert hat. Auch der betriebsärztliche Dienst hat darauf hingewiesen, dass der Arbeitsplatz vor Aufnahme einer fachspezifischen Tätigkeit der Mitarbeiterin u.a. zunächst nach ergonomischen Vorgaben einzurichten und zu reinigen sei.“
BAG: „geringfügige oder kurzzeitige Arbeitsschutzverstöße“ können zumutbar sein
Das Bundesarbeitsgericht hob das Urteil indes auf2: Das LAG „durfte in tatsächlicher Hinsicht nicht allein aufgrund der von der Klägerin vorgelegten Fotos annehmen, der vorhandene Holzstuhl habe nicht ‚den Anforderungen an die Arbeitssicherheit und Ergonomie‘ genügt. Das LAG hat sich nicht auf eine eigene arbeitsschutzrechtliche Sachkunde berufen, geschweige denn begründet, woher es sie nimmt.
Auch belegen weder das Schreiben des Gewerbeaufsichtsamts, das keine Anordnungen nach § 22 Abs. 3 ArbSchG enthielt, noch dasjenige des betriebsärztlichen Dienstes, eine – auch nur vorübergehende – Nutzung des Büros sei aus Gründen der Arbeitssicherheit oder des Gesundheitsschutzes nicht ‚zumutbar‘ gewesen. In rechtlicher Hinsicht wäre zu beachten gewesen, dass selbst dann, wenn die Beklagte ihren Pflichten gemäß § 618 Abs. 1 BGB i.V.m. den öffentlich-rechtlichen Arbeitsschutznormen nicht genügt haben sollte, die Zuweisung des neuen Arbeitsplatzes deshalb nicht unbillig gewesen wäre, wenn es sich um nur geringfügige oder kurzzeitige Verstöße gehandelt haben sollte, die – wovon das LAG selbst ausgegangen ist (‚keine unmittelbare und akute Gefahr für Leib und Leben der Klägerin‘) – keinen nachhaltigen Schaden bewirken konnten“. Das BAG zitierte Kommentare „zum Nichtbestehen eines Zurückbehaltungsrechts nach § 273 Abs. 1 BGB in solchen Fällen“. Bei einem solchen Zurückbehaltungsrecht geht es um die Frage, wann die Arbeitsleistungen wegen der Arbeitsbedingungen verweigert werden darf.
Das BAG verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LAG München zurück. Das LAG musste dann aber nichts mehr zum Arbeitsschutz sagen, denn die Parteien schlossen am 14. Mai 2019 einen Vergleich, dessen Inhalt nicht bekannt ist. Es gab trotzdem noch einen Beschluss vom 9. Oktober 2019, weil die Klägerin den Vergleich widerrufen hatte – das LAG meinte aber, das sei zu spät, und stellte fest, „dass der Rechtsstreit durch den Vergleich vom 14.05.2019 beendet wurde.“
Kann ein Holzstuhl nun arbeitsschutzkonform sein?
Entscheidend bei der Frage der Arbeitsschutzkonformität eines Stuhls ist natürlich eine konkrete Gefährdungsbeurteilung – jedenfalls gemäß ArbSchG. Der KomNet Dialog 15164 der KomNet-Wissensdatenbank (Stand: 24.03.2017) sieht Bürostühle als Arbeitsmittel i.S.d. BetrSichV3. Zur „Ausstattung“ heißt es in Anhang Nr. 3.3 Abs. 2 der ArbStättV:
- „Kann die Arbeit ganz oder teilweise sitzend verrichtet werden oder lässt es der Arbeitsablauf zu, sich zeitweise zu setzen, sind den Beschäftigten am Arbeitsplatz Sitzgelegenheiten zur Verfügung zu stellen.“ Zu Anforderungen an Stühle ist aber nichts gesagt.
Früher enthielt die Technische Regel für Arbeitsstätten (ASR) 25/1 „Sitzgelegenheiten“ (Ausgabe Oktober 1985) Anforderungen an Beschaffenheit und Ausführung von Stühlen. Heute gibt es immerhin Art. 14 des ILO-Übereinkommens 120 über den Gesundheitsschutz in Handel und Büros vom 8. Juli 1964 der Internationalen Arbeitsorganisation, das mit Gesetz vom 27. August 1973 in deutsches Recht übernommen wurde (BGBl II vom 31.08.1973, S. 1255): „Den Arbeitnehmern sind geeignete Sitzgelegenheiten in ausreichender Zahl zur Verfügung zu stellen; die Arbeitnehmer müssen in vertretbarem Maße die Möglichkeit haben, diese zu benutzen.“
Etwas konkreter wird die DGUV 215–410 (bisher BGI 650) „Bildschirm- und Büroarbeitsplätze“ in Nr. 8.3.2 zum Büroarbeitsstuhl: „Der Büroarbeitsstuhl soll die natürliche Haltung des Menschen im Sitzen unterstützen und im angemessenen Verhältnis zur Arbeitsaufgabe Bewegungen fördern.“4 Ob das ein „einfacher Holzstuhl“ erreichen kann, ist zweifelhaft. Will das BAG behaupten, dass irgendeine Möglichkeit besteht, dass für die Arbeitnehmerin der Stadt ein „hölzerner Küchenstuhl“ ausreichen könne?
Sind „geringfügige oder kurzzeitige Arbeitsschutzverstöße“ wirklich hinzunehmen?
Wenn der Holzstuhl nicht arbeitsschutzkonform ist, geht es arbeits- bzw. zivilrechtlich um die „Pflicht zu Schutzmaßnahmen“ gemäß § 618 BGB5. Diese Vorschrift gilt für alle Dienstverträge – also auch Arbeitsverträge:
- „Der Dienstberechtigte hat Räume, Vorrichtungen oder Gerätschaften, die er zur Verrichtung der Dienste zu beschaffen hat, so einzurichten und zu unterhalten und Dienstleistungen, die unter seiner Anordnung oder seiner Leitung vorzunehmen sind, so zu regeln, dass der Verpflichtete gegen Gefahr für Leben und Gesundheit soweit geschützt ist, als die Natur der Dienstleistung es gestattet.“
§ 618 BGB ist nach der Rechtsprechung eine „Teilausprägung der allgemeinen Fürsorgepflicht“ des Arbeitgebers6 – und „die Fürsorgepflicht umfasst auch das, was der Arbeitgeber kraft arbeitsschutzrechtlicher Vorschriften dem Arbeitnehmer angedeihen lassen muss“7.
Entscheidend ist, dass § 618 Abs. 1 BGB „bildlich gesprochen das privatrechtliche Medium (ist), durch das das öffentlich-rechtliche Arbeitsschutzrecht im Zivilrecht seine Wirkungen entfaltet“8. Den Rechtsvorschriften des „technischen Arbeitsschutzes“ kommt „eine Doppelwirkung zu, weil ihre Schutzpflichten über § 618 Abs. 1 BGB in das Arbeitsvertragsrecht transformiert werden; dann sind sie neben öffentlich-rechtlichen Pflichten zugleich unabdingbare privatrechtliche Pflichten des Arbeitgebers im Sinne eines einzuhaltenden Mindeststandards“9.
Das BAG hat in seinem Urteil zum Holzstuhl die Wirkung des § 618 BGB als „unabdingbarer Mindeststandard“ nun etwas relativiert: Selbst wenn ein Arbeitgeber – so das BAG – seinen „Pflichten gemäß § 618 Abs. 1 BGB in Verbindung mit den öffentlich-rechtlichen Arbeitsschutznormen nicht genügt haben sollte, wäre die Zuweisung des neuen Arbeitsplatzes deshalb nicht unbillig gewesen, wenn es sich um nur geringfügige oder kurzzeitige Verstöße gehandelt haben sollte, die keinen nachhaltigen Schaden bewirken konnten“; das BAG betont letztlich um Verständnis bittend, auch das LAG habe gesagt, es bestehe „keine unmittelbare und akute Gefahr für Leib und Leben der Klägerin“.
Das BAG verweist insoweit auf zwei Urteile des BVerwG10 und des OVG Saarland11, in denen es indes nur heißt, dass „die bloße Möglichkeit einer gesundheitlichen Gefährdung durch eine (beabsichtigte) Versetzung noch nicht ausreichend ist, um die Versetzung wegen Verletzung der Fürsorgepflicht ermessensfehlerhaft zu machen“.
Elf Kritikpunkte am BAG-Urteil
Das Urteil des BAG ist aus elf Gründen zu kritisieren:
- Erstens ging es in den beiden in Bezug genommen Urteilen des BVerwG und des OVG Saarland um die (mögliche) Verletzung der Fürsorgepflicht durch eine (beabsichtigte) Versetzung und nicht um Verstöße gegen Pflichten des (technischen) Arbeitsschutzes. Diese beiden Situationen sind eher nicht so vergleichbar, dass die Aussagen zum einen Fall auf den anderen übertragen werden können, denn:
- Zweitens ging es in den beiden in Bezug genommen Urteilen des BVerwG und des OVG Saarland nur um die Wahrscheinlichkeit der Gefährdung durch eine (an sich nicht arbeitsschutzwidrige) Versetzung und nicht – wie im hier besprochenen Münchener Fall – um das Ausmaß festgestellter (so das LAG) oder unterstellter (so das BAG bei dieser Zusatzargumentation der Zumutbarkeit) Rechtsverstöße gegen den öffentlich-rechtliche Arbeitsschutz.
- Drittens regelt § 619 BGB ausdrücklich die „Unabdingbarkeit der Fürsorgepflichten“ und betont, dass die dem Arbeitgeber nach § 618 BGB obliegenden Verpflichtungen „nicht im Voraus durch Vertrag aufgehoben oder beschränkt werden können“. Es heißt nicht, dass bei Geringfügigkeiten oder (so suggeriert es das BAG) wenn nur Schäden „bewirkt“ werden können, die nicht „nachhaltig“ sind, Toleranzpflichten der Arbeitnehmer bestehen – und das BAG hatte ja auch 2008 die „unabdingbaren privatrechtlichen Pflichten des Arbeitgebers im Sinne eines einzuhaltenden Mindeststandards“ betont.
- Viertens sagt das BVerwG12, die „Versetzung des Klägers hätte die Fürsorgepflicht verletzen und sich deshalb als ermessensfehlerhaft erweisen können, wenn das vorinstanzliche Urteil festgestellt hätte, der Aufenthalt am Arbeitsplatz werde sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nachteilig auf den gesundheitlichen (körperlichen und/oder seelischen) Zustand auswirken“ und „wenn weiter festgestellt worden wäre, dass es der Arbeitgeberin ohne unangemessene Vernachlässigung dienstlicher Belange zu der in Rede stehenden Zeit möglich gewesen sei, den Kläger in eine freie Planstelle an einen anderen Ort zu versetzen, der in gesundheitlicher Beziehung für ihn günstiger ist“. Übertragen auf die hier zu beurteilende Holzstuhl-Situation: Ist es nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit (jedenfalls seelisch) gesundheitsgefährdend, wenn man in einem dreckigen Raum auf einem hölzernen Küchenstuhl sitzen muss – und vor allen Dingen: Ist es nicht einfach möglich (und deshalb zu fordern), diesen Zustand zu ändern?
- Fünftens soll durch die Technische Regel für Arbeitsstätten über „Raumabmessungen und Bewegungsflächen“ (ASR A1.2 Nr. 4 Absatz 1) „sichergestellt“ werden, „dass die Beschäftigten ohne Beeinträchtigung ihrer Sicherheit, ihrer Gesundheit oder ihres Wohlbefindens ihre Arbeit verrichten können“.
- Sechstens berichtete das LAG München, das Gewerbeaufsichtsamt „hat die Stadt u.a. aufgefordert, erforderliche Maler‑, Reinigungs- und Renovierungsarbeiten durchzuführen und den Arbeitsplatz gemäß den Vorgaben der ArbStättV einzurichten, eine ‚Freimessung‘ der Raumluft durchzuführen sowie die Maßnahmen umzusetzen, die die Fachkraft für Arbeitssicherheit bei der Begehung protokolliert hat. Auch der betriebsärztliche Dienst hat darauf hingewiesen, dass der Arbeitsplatz vor Aufnahme einer fachspezifischen Tätigkeit der Mitarbeiterin u.a. zunächst nach ergonomischen Vorgaben einzurichten und zu reinigen sei“. Das BAG meinte dann, diese Schreiben „belegen“ nicht, „eine – auch nur vorübergehende – Nutzung des Büros sei aus Gründen der Arbeitssicherheit oder des Gesundheitsschutzes nicht ‚zumutbar‘ gewesen“. Der genaue Inhalt der Schreiben ist in keinem der Urteile abgedruckt. Will aber das BAG damit sagen, dass trotz erforderlicher Reinigungs- und Renovierungsarbeiten, trotz einer Aufforderung, die ArbStättV und Maßnahmen gemäß einem Protokoll der der Fachkraft für Arbeitssicherheit umzusetzen und trotz der Erforderlichkeit, „zunächst nach ergonomischen Vorgaben einzurichten und zu reinigen sei“, eine Arbeit in dieser Räumlichkeit zumutbar sein könne?
- Siebtens ging es im Verfahren des OVG Saarland13 um die Versagung von Eilrechtsschutz in Bezug auf eine Versetzungsverfügung. In solchen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes betonen Gerichte (wie auch das OVG) immer eine „vorliegend allein möglichen summarischen Prüfung“ – und im Fall des OVG war es „nicht hinreichend wahrscheinlich, dass das von der Fachärztin festgestellte Krankheitsbild maßgeblich durch die Versetzung ausgelöst wurde“. In dem hier zu beurteilenden Holzstuhl-Fall ging es dagegen nicht um eine solche summarische – also nicht abschließende und auf Wahrscheinlichkeiten beruhende – Entscheidung.
- Achtens hat das LAG München gar nicht gesagt, dass keine unmittelbare Gefahr bestand, sondern sehr vorsichtig formuliert, dass das sein könne. Es ist schlicht unzutreffend, wenn das BAG behauptet, das LAG sei davon „ausgegangen“. Wenn Juristen formulieren, dass etwas sein „mag“ (wie das LAG sogar doppelt), bringen sie gerade zum Ausdruck, dass es ihnen darauf nicht ankommt und sie das nicht geprüft haben, eben weil ein anderer Gesichtspunkt für ihre Entscheidung im Vordergrund stand – hier war das eben für das LAG, dass „ein funktionsfähiger und zumutbarer Arbeitsplatz nicht vorhanden war“.
- Neuntens wies das BAG darauf hin, das Schreiben des Gewerbeaufsichtsamts „enthielt keine Anordnungen nach § 22 Abs. 3 ArbSchG“. Will das Gericht damit sagen, dass erst bei solchen formellen Verfügungen zur zwangsweisen Durchsetzung des Arbeitsschutzes eine Unzumutbarkeit angenommen werden könne? Die Praxis sieht häufig anders aus: selbst nach tödlichen Arbeitsunfällen wird nicht gleich ein vollstreckbarer Verwaltungsakt erlassen, sondern ein Beanstandungsschreiben geschickt. Außerdem enthielt das Schreiben (so das LAG) eine „Aufforderung“ – und es spricht vieles dafür, dass das eine „Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme“ ist, „die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist“ – das ist die Definition des Verwaltungsakts in § 35 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG).
- Zehntens diskutierte das BAG all dies im Zusammenhang mit einem „Nichtbestehen eines Zurückbehaltungsrechts nach § 273 Abs. 1 BGB in solchen Fällen“. Hier geht es indes um den Schutzstandard des § 618 BGB, der (bislang jedenfalls) nicht eingeschränkt wurde – im Gegenteil:
- Elftens deutet das BAG in zahlreichen Urteilen auch schon einmal an, dass im Einzelfall ein „Mehr“ nötig ist – nämlich „besondere Schutzmaßnahmen“14. „Besonders schutzbedürftige Arbeitnehmer können unter Umständen Anspruch auf besondere Schutzmaßnahmen haben“ – und dann „trifft den Arbeitgeber eine gesteigerte Fürsorgepflicht“15. Es gilt: „Je schwerer ein möglicher Schaden für den Arbeitnehmer sein kann, desto stärker müssen die Schutzmaßnahmen sein, die der Arbeitgeber zu treffen hat.“16
Fazit
Umgekehrt kann aber – so meine ich – nicht gelten: Je geringer der Arbeitsschutzverstoß, desto mehr muss ein Beschäftigter ihn hinnehmen. Arbeitsschutzmindestvorschriften sind auch mindestens umzusetzen. Es besteht ein Anspruch auf einen funktionsfähigen Arbeitsplatz. Die Aussagen des BAG, wenn Arbeitgeber ihren „Pflichten gemäß § 618 Abs. 1 BGB i.V.m. den öffentlich-rechtlichen Arbeitsschutznormen nicht genügt haben sollten, wäre die Zuweisung des neuen Arbeitsplatzes deshalb nicht unbillig gewesen, wenn es sich um nur geringfügige oder kurzzeitige Verstöße gehandelt haben sollte“, ist daher abzulehnen.
Damit ist übrigens noch nicht gesagt, dass die Kündigung der Arbeitnehmerin unwirksam war. Denn es ist nach Herausarbeitung aller relevanten Umstände immer – so die Rechtsprechung in abertausenden Urteilen – „zu untersuchen, ob bei Berücksichtigung dieser Umstände und der Interessenabwägung die konkrete Kündigung gerechtfertigt ist“. Das BAG hätte also gar nicht den Schutz durch § 618 BGG (i.V.m. dem öffentlich-rechtlichen Arbeitsschutzrecht) relativieren müssen, um zum beabsichtigten Ergebnis zu gelangen, dass das LAG München die Kündigung bitte noch einmal prüfen solle. Das BAG-Urteil könnte und sollte daher ein einmaliger „Ausrutscher“ bleiben.
1 LAG München, Urteil v. 06.12.2016 (Az. 9 Sha 481/16)
2 BAG, Urteil v. 28.06.2018 (Az. 2 AZR 436/17).
3 Zu ihr Wilrich, Praxisleitfaden Betriebssicherheitsverordnung – mit 33 Gerichtsurteilen, 2. Aufl. 2020.
4 Zur Bedeutung solcher Informationen und anderer technischer Regelwerke Wilrich, Die rechtliche Bedeutung technischer Normen als Sicherheitsmaßstab – mit 33 Gerichtsurteilen zu anerkannten Regeln und Stand der Technik, Produktsicherheitsrecht und Verkehrssicherungspflichten, 2017.
5 Diese Grundvorschrift wird sogar in Strafverfahren herangezogen – siehe Wilrich, Arbeitsschutz-Strafrecht: Haftung für fahrlässige Arbeitsunfälle: Sicherheitsverantwortung, Sorgfaltspflichten und Schuld – mit 33 Gerichtsurteilen, 2020.
6 BAG, Urteil v. 14.12.2006 (Az. 8 AZR 628/05) – ausführliche Fallbesprechung von Wilrich, Sicherheitsverantwortung: Arbeitsschutzpflichten, Betriebsorganisation und Führungskräftehaftung – mit
25 erläuterten Gerichtsurteilen, 2016, S. 170 – 184.
7 BAG, Urteil v. 10.03.1976 (Az. 5 AZR 34/75).
8 Staudinger/Oetker, Sonderausgabe Arbeitsrecht, 2012, BGB § 618 Rn. 15.
9 BAG, Urteil v. 12.08.2008 (Az. 9 AZR 1117/06) – ausführliche Fallbesprechung von Wilrich, Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats bei den Grundpfeilern des Arbeitsschutzes: Gefährdungsbeurteilung, Betriebsanweisung und Unterweisung, in: ZBVR online Heft 10/2017, S. 34 – 40, abzurufen unter https://www.dbb.de/fileadmin/prforum/zbvr/zbvronline_2017_10.pdf
10 BVerwG, Urteil v. 13.02.1969 (Az. II C 114/65).
11 OVG Saarland, Urteil v. 09.12.2013 (Az. 1 B 411/13).
12 BVerwG, Urteil v. 13.02.1969 (Az. II C 114/65).
13 OVG Saarland, Urteil v. 09.12.2013 (Az. 1 B 411/13).
14 BAG, Urteil v. 17.02.1998 (Az. 9 AZR 84/97).
15 BAG, Urteil v. 08.05.1996 (Az. 5 AZR 315/95).
16 BAG, Urteil v.12.08.2008 (Az. 9 AZR 1117/06)
– siehe Fußnote 9.
Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Wilrich
Hochschule München,
Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen, Professor für Wirtschafts‑, Arbeits‑, Technik‑, Unternehmensorganisationsrecht
und Recht für Ingenieure