Dr. Antje Boetius, Sie erforschen Lebensräume, die für Menschen ziemlich oder gänzlich unwirtlich sind. Ihre erste Polar-Expedition führte Sie 1993 in die Arktis. Was war für Sie die größte Herausforderung während dieser Wochen im ewigen Eis?
Damals hatte ich schon einige Expeditionen im Atlantik und Pazifik hinter mir und auch schon Stürme erlebt. Aber es war mein erstes Mal mit dem Forschungseisbrecher im Eis. Die Arktis rund um den Nordpol ist Ozean mit einem Deckel aus Eisschollen obendrauf. Dort ist es sehr kalt, oft windig und ganz weiß. Damals war das Eis noch ein paar Meter dick, und es hat ordentlich gescheppert, wenn wir am Eisbrechen waren, um voranzukommen bis in die sibirischen Randmeere. Ich stand manches Mal auf der Brücke und wunderte mich, wie ein Schiff das aushalten kann. Wenn der Eisbrecher sich auf die Scholle schiebt, muss die ja unter seinem Gewicht brechen. Und manchmal waren die Schollen so dick, dass das Schiff sich ordentlich in Schräglage neigte, bis es dann mit einem Ruck durchbrach. Im Labor musste da alles festgeklemmt werden, und vom Lärm konnte ich zuerst nicht gut schlafen. Aber es war dann absolut aufregend, mal das Schiff zu verlassen und auf dem Eis spazieren zu gehen, mit über vier Kilometer Wasser darunter bis zum Meeresboden.
Im Sommer ist es auch immer hell, die ganze Nacht hindurch, aber man kann an vielen Tagen den Übergang zwischen Eis, Schnee und Wolken nicht unterscheiden. Bevor wir draußen Proben nehmen und Experimente durchführen, ziehen wir sehr warme Kleidung an und dicke Socken und Schuhe, das ist überlebenswichtig. Man muss auch Kopf und Gesicht bedecken, damit man nicht auskühlt.
Noch einzigartiger sind ihre „Ausflüge“ auf den Meeresgrund. Bei Ihrem tiefsten Tauchgang mit dem Forschungs-U-Boot sanken Sie im Mittelmeer auf 3,5 Kilometer Tiefe. Wie lange dauert so eine Reise?
Das war mit dem französischen Tauchboot Nautile. Wir sind zu Schlammvulkanen auf dem Nil-Fächer im östlichen Mittelmeer getaucht. Es hat circa zweieinhalb Stunden gedauert, dorthin zu kommen, dann verbrachten wir etwas über zwei Stunden unten und benötigten wieder circa zwei Stunden nach oben. Ich konnte mich dort unten gar nicht satt sehen – am Selbstleuchten der Meerestiere, den Salzwasser-Seen im Krater des Schlammvulkans und an den ganz bunten Bakterienmatten in Weiß, Orange und Rot.
In dieser Tiefe lastet auf dem U‑Boot ein enormer Druck. Welche Maßnahmen führen dazu, dass Sie sich dort unten dennoch geborgen fühlen? Treffen Sie auch persönliche Sicherheitsvorkehrungen?
In der bemannten Forschungstauchfahrt ist noch niemand ein Leid geschehen. Auch die, die im Mariannen-Graben auf über zehn Kilometer waren, sind wieder heil nach oben gekommen. Das zu wissen, hilft natürlich, Angst zu nehmen. Die meiste Vorbereitungszeit geht in die Planung der wissenschaftlichen Aufgaben. Die Crew macht zudem eine Reihe von Technik- und Sicherheitstests mit dem U‑Boot – es ist alles gut vorbereitet, wenn der Tauchgang losgeht. Die Wettervorhersage wird auch geprüft, man will ja nicht vom Sturm überrascht werden, wenn es ans Auftauchen geht. Persönlich versuche ich, vorher wenig zu trinken und zu essen, denn so ein U‑Boot ist sehr klein, und es gibt keine Toilette. Ansonsten freue ich mich einfach nur, denn in die Tiefsee abtauchen gehört zu den schönsten Momenten meiner Forschung.
Von Astronauten heißt es, dass sie eine gewisse charakterliche Eignung mitbringen müssen, um unter den außerordentlichen und beengten Verhältnissen in der Raumstation mit sich und anderen zurechtzukommen. Gilt dies auch für Tauchgänge zum Meeresboden? Brauchen alle Beteiligten eine gute physische und psychische Verfassung?
Gut ist, wenn man nicht zu leicht seekrank wird, denn beim Ein- und Aussteigen schaukelt es ganz schön. Man sollte auch einigermaßen beweglich sein und nicht zu temperaturempfindlich, denn oft geht es von zu heiß an der Oberfläche nach ein bisschen kalt in der Tiefsee. Und man hockt meist etwas hart und krumm in den kleinen U‑Booten, weil man alles sehen will, schreiben und fotografieren, während man taucht. Aber da es so eine wunderschöne Aufgabe ist, das fremde Leben zu entdecken, habe ich noch nie jemand klagen hören. Ich würde sogar sagen, es schütten sich da enorm viele Glückshormone aus, die die Psyche befrieden.
Die Tiefsee ist vielen Menschen unheimlich. Mythen, Spielfilme oder auch Romane handeln von Seeungeheuern und gefährlichen Wesen, die dort auf uns lauern. Was treibt Sie an, der Sache auf den Grund zu gehen?
Es ist eine besondere Erfahrung, in die Tiefsee abzutauchen, die ohne Sonnenlicht ist, die keine Pflanzen hat und ganz fremdartiges Leben. Und man erkennt beim Abtauchen, was das bedeutet, wenn Sonnenlicht schwindet, weil man im Wasser ja zuerst diese unglaublichen Blautöne mitbekommt, bevor es richtig dunkel wird. Das Tollste ist der Moment, wo man in die absolute Schwärze eintaucht. Das ist dann so unterhalb von 500 Metern, und dann funkelt und glitzert es, weil das Leben dort in diesen Tiefen bis runter zum Meeresboden Licht als Kommunikationsmittel nutzt.
Dieser riesige Lebensraum Tiefsee macht ja eigentlich 90 Prozent des belebten Raums der Erde aus, und wir kennen erst sehr wenig vom Leben darin. Der Meeresboden ist noch ganz wenig vermessen, manchmal scheint mir die Tiefsee wie ein fremder Planet im Planeten Erde. Mich begeistert, dass jeder Tauchgang neue Erkenntnisse bringt, wie das Leben auf der Erde funktioniert – aber auch welche Spuren wir Menschen in der Tiefsee hinterlassen, wie zum Beispiel die Folgen des Klimawandels und der Vermüllung der Meere.
Und zum Abschluss: Welche Begegnungen oder Entdeckungen zählen zu Ihren persönlichen Highlights Dr. Antje Boetius?
Wir haben erstaunliche Welten von Mikroorganismen im tiefen Schwarzen Meer entdeckt, wo kein Sauerstoff ist, aber viel Methangas. Dann hatte ich das große Glück, als Erste die Schwarzen Raucher der eisbedeckten Arktis zu finden und zu fotografieren. Vor Kurzem hatte ich die Möglichkeit, mit dem Astronauten Alexander Gerst vor den Azoren im U‑Boot, in der Lula 1000, abzutauchen. Es war toll, mit ihm darüber zu sprechen, wie die Entdeckung des Lebens auf der Erde und im All vorangeht.
Wir danken Ihnen für das Gespräch Dr. Antje Boetius!
Steckbrief von Dr. Antje Boetius
- geboren 1967 in Frankfurt am Main
- Professorin für Geomikrobiologie an der Universität Bremen und Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung
- erforscht aktuell die Auswirkungen des Klimawandels auf den Arktischen Ozean sowie die Lebensvielfalt der Tiefsee
- wurde mit dem Deutschen Umweltpreis 2018 ausgezeichnet
- erhielt 2019 das Bundesverdienstkreuz
- macht sich auf vielerlei Weise darum verdient, die Bedeutung von Forschung in die Gesellschaft zu kommunizieren
- verbindet mit ihren Expeditionen Glücksgefühle