Neue Begriffe eingeführt
An die Stelle der Begriffe „erster Fluchtweg“ und „zweiter Fluchtweg“ treten in der neuen Fassung die Begriffe „Hauptfluchtweg“ und „Nebenfluchtweg“. Sowohl Haupt- als auch Nebenfluchtwege müssen auf möglichst kurzem Weg entweder ins Freie oder, falls dies nicht möglich ist, in einen gesicherten Bereich führen. Diese Begriffe sind insofern von Bedeutung, weil „das Freie“ als ein sicherer Bereich außerhalb des Gebäudes definiert ist, in dem Personen durch den Gefahrenfall nicht beeinträchtigt werden. Balkone, Dachflächen oder Innenhöfe, die im Gefahrenfall keinen ausreichenden Schutz bieten, gelten ausdrücklich nicht als das Freie. Als „gesicherte Bereiche“ gelten jene Bereiche, die vorübergehend einen ausreichenden Schutz bieten. Innerhalb von Gebäuden sind dies insbesondere benachbarte Brandabschnitte sowie notwendige Treppenräume (ausgewiesene „Fluchttreppenhäuser“). Außerhalb von Gebäuden können Außentreppen, offene Gänge sowie gegebenenfalls auch Dachflächen als gesicherte Bereiche gelten, sofern diese im Gefahrenfall über eine ausreichende Dauer sicher genutzt werden können und ins Freie führen. Während es nach der bisherigen ASR zulässig war, dass Personen im Gefahrenfall zum Beispiel auf einer hierfür vorgesehenen und ausreichend gesicherten Dachfläche verweilen konnten, um dann von der Feuerwehr mittels Drehleiter evakuiert zu werden, muss nach der neuen Lesart der gesicherte Bereich über eine Anbindung an das Freie verfügen.
Rettungswege in das Gebäude
Rettungswege führen in das Gebäude hinein, da durch sie die Rettungskräfte schnell und zielgerichtet ihren Einsatzort erreichen sollen. Insbesondere in großen Gebäuden erfolgt der Zutritt über separate Eingänge, um die Rettungskräfte nicht durch den Strom der Flüchtenden aufzuhalten. Sofern Flucht- und Rettungswege separat geführt werden, sollten auch Rettungswege regelmäßig kontrolliert werden, damit sich Rettungskräfte nicht durch abgestellte Materialien hindurchkämpfen müssen.
Ist-Zustand im Blick behalten
Die Anforderungen an Hauptfluchtwege werden in Abschnitt 5 und die an Nebenfluchtwege in Abschnitt 6 ausführlich erläutert. Insbesondere die an Hauptfluchtwege zu stellenden neuen Anforderungen sind jedoch dergestalt, dass Sicherheitsbeauftragte darauf wenig beziehungsweise keinen Einfluss nehmen können. Dies trifft auch im Wesentlichen auf den Abschnitt 6 zu. Allerdings können Sicherheitsbeauftragte im Rahmen regelmäßiger Begehungen beziehungsweise Bestandsaufnahmen den Ist-Zustand der baulichen Gegebenheiten feststellen, damit dieser von den Verantwortlichen mit den inzwischen geltenden Anforderungen abgeglichen werden kann.
Auch hilft mitunter ein Perspektivwechsel: Sind die vorgesehenen Fluchtwege auch für ortsunkundige oder mobilitätseingeschränkte Personen nutzbar? Sind die Voraussetzungen gegeben, dass (ortsunkundige) Rettungskräfte den Einsatzort schnell und sicher erreichen können? Zu bedenken ist auch, dass die Evakuierung nicht mit dem Ende des Fluchtwegs aus dem Gebäude endet. Gemäß Abschnitt 4 (8) der ASR A2.3 muss der Bereich im Freien beziehungsweise der gesicherte Bereich so gestaltet und bemessen sein, dass sich kein Rückstau bilden kann und alle über den Fluchtweg flüchtenden Personen ohne Gefahren, wie zum Beispiel durch Verkehrswege oder öffentliche Straßen, aufgenommen werden können.
Anforderungen an Haupt- und Nebenfluchtwege
Während Hauptfluchtwege im Wesentlichen nur durch Türen geführt werden dürfen, können Nebenfluchtwege auch durch Fenstertüren („Terrassentüren“), Schlupftüren in Toren sowie Notausstiege wie Fenster, Luken oder im Zweifelsfall sogar Boden- oder Deckenöffnungen geführt werden. Notausstiege müssen allerdings so eingerichtet sein, dass sie für die darauf angewiesenen Personen möglichst schnell und ungehindert nutzbar sind. Insofern können Sicherheitsbeauftragte im Rahmen ihrer Tätigkeit durchaus zurückmelden, dass beispielsweise ein als Notausstieg vorgesehenes Kellerfenster für eine darauf angewiesene mobilitätseingeschränkte Person nicht als Nebenfluchtweg nutzbar ist.
Die Notwendigkeit eines Nebenfluchtwegs ergibt sich nach der neuen ASR A2.3 dann, wenn die Gefahr besteht, dass der Hauptfluchtweg nicht mehr sicher begehbar ist. Hiervon ist unter anderem dann auszugehen, wenn erhöhte Brandgefährdungen (siehe Begriffsdefinition der ASR) gegeben sind, der Hauptfluchtweg aufgrund seiner Länge oder Führung schlecht erreicht werden kann, viele Menschen auf den Hauptfluchtweg angewiesen sind oder sonstige Gefährdungen bestehen, welche die Nutzung des Hauptfluchtweges beeinträchtigen können. Auch in diesen Fällen können einfache Sichtkontrollen beziehungsweise Rückmeldungen der Sicherheitsbeauftragten dazu beitragen, dass Missstände aufgedeckt und abgestellt werden.
Nadelöhr Türen
Zwangsläufiges Nadelöhr eines jeden Fluchtwegs sind die Türen. Sie müssen so gestaltet sein, dass sie sich – so lange Personen auf die Nutzung der Fluchtwege angewiesen sind – ohne Hilfsmittel, wie Schlüssel, Transponder oder Codeeingaben leicht öffnen lassen. Hiervon ausgenommen sind natürlich Bereiche, in denen Abweichungen aus schwerwiegenden Gründen notwendig sind, wie zum Beispiel Justizvollzugsanstalten, Gerichtsgebäude oder psychiatrische Kliniken.
Nicht in der ASR erwähnt, jedoch im Zuge der alltäglichen Nutzung durch jeden kontrollierbar, ist die Funktion selbstschließender Türen: Fallen diese tatsächlich ins Schloss oder schlagen sie nur dagegen an, ohne dabei zu verriegeln? Im Brandfall, wenn die Funktion dieser Barriere für die sichere Evakuierung entscheidend sein kann, ist dies mitunter überlebenswichtig!
Aufschlagrichtung definiert
Oft wird auch über die richtige Aufschlagrichtung der Türen diskutiert. Hierbei muss zwischen den direkt aus dem Gebäude führenden Türen von Notausgängen und Türen im Verlauf von Fluchtwegen (zum Beispiel Türen in notwendigen Fluren und Treppenhäusern) unterschieden werden. Die aus dem Gebäude führenden Türen von Notausgängen müssen nach Anhang 1 der Arbeitsstättenverordnung in Fluchtrichtung aufschlagen. Das Gleiche gilt nun auch für sonstige manuell betätigte Türen und Tore, wenn eine erhöhte Gefährdung (zum Beispiel Möglichkeit der Freisetzung gefährlicher Stoffe, zu erwartende gewalttätige Übergriffe, Anwesenheit vieler Personen) vorliegt. Die Flucht endet jedoch schnell, wenn die Türen von außen verstellt werden. Dies kann insbesondere durch gelagerte Materialien, abgestellte Fahrzeuge oder Außenbeschattungen hervorgerufen werden. Je nach Ursache sind verschiedene Lösungsansätze möglich, wie zum Beispiel das Anbringen des Verbotszeichens „P023 Abstellen oder Lagern verboten“; Anbringen von Abweiserbügeln oder Bodenmarkierungen, Arretieren der Außenbeschattung oder gegebenenfalls deren Einbindung in die Notstromversorgung.
Der in der früheren Ausgabe enthaltene Hinweis, dass die Aufschlagrichtung von sonstigen Türen (das heißt solchen, welche die vorherigen Kriterien nicht erfüllen) im Rahmen einer Gefährdungsbeurteilung festgelegt werden kann, ist in der Neufassung der ASR A2.3 nicht mehr enthalten. Dennoch besteht diese Möglichkeit weiterhin. Wenn beispielsweise die Tür eines Flurs, über den nur wenige Personen flüchten, in ein als Hauptfluchtweg dienendes Treppenhaus aufschlägt, wären die damit verbundenen Einschränkungen im Treppenhaus wahrscheinlich schwerwiegender als der Nachteil einer entgegen der Fluchtrichtung aufschlagenden Tür in den Flur, wenn darauf nur wenige Personen angewiesen sind.
Richtige Kennzeichnung von Fluchtwegen und Notausgängen
Einen weiteren wesentlichen Beitrag können Sicherheitsbeauftragte im Rahmen regelmäßiger Begehungen leisten, indem sie auf die Kennzeichnung und Erkennbarkeit der Fluchtwege, Notausgänge und Sammelstellen achten. Als elektrische Betriebsmittel unterliegen sowohl Sicherheitsleuchten, durch die eine Mindestausleuchtung der Fluchtwege gewährleistet werden soll, als auch angeleuchtete beziehungsweise hinterleuchtete Sicherheitszeichen (allgemein: „Rettungswegkennzeichnungsschilder“ beziehungsweise „Fluchtwegpiktogramme“) einer gewissen Ausfallwahrscheinlichkeit. Nachleuchtende Sicherheitszeichen sind zwar weiterhin zulässig, oft sind sie aber verschmutzt oder werden durch Alterung oder geänderte bauliche Gegebenheiten nicht mehr ausreichend angeregt, sodass ihre nachleuchtende Wirkung schnell nachlässt. Auch dürfen Rettungswegkennzeichnungen nun nicht mehr auf Türen angebracht werden, da sie im Falle offenstehender Türen gegebenenfalls nicht mehr erkannt werden können. Weil diese Punkte im betrieblichen Alltag allzu häufig nicht mehr wahrgenommen werden, lohnt sich der entsprechend geschulte Blick eines Sicherheitsbeauftragten.
Es werde Licht!
Ohne ausreichendes Licht ist das sichere Verlassen eines Gebäudes nicht möglich. Damit diese Anforderung auch dann erfüllt wird, wenn kein ausreichendes Tageslicht vorhanden ist, muss gegebenenfalls eine Sicherheitsbeleuchtung vorhanden sein. Sofern sie nicht bereits durch das (Landes-)Baurecht vorgeschrieben wird, ergibt sich ihre Notwendigkeit aus der Frage, ob das sichere Verlassen der Arbeitsstätte auch bei Ausfall der Allgemeinbeleuchtung möglich ist. Die Antwort auf diese Frage ist dabei von vielen Faktoren abhängig, wie die Tabelle auf Seite 24 zeigt. Beleuchtete Sicherheitszeichen werden aufgrund ihrer guten Wahrnehmbarkeit und eindeutigen Funktion oft als „Sicherheitsbeleuchtung“ angesehen. Tatsächlich sind diese Leuchten aber meist unscheinbar und können oft nur durch eine in der Nähe angebrachte Stromkreiskennzeichnung von den anderen Leuchten unterschieden werden.
In Fluchtwegen muss die Beleuchtungsstärke mindestens 1 Lux (lx) betragen. Dies entspricht in etwa der Helligkeit einer Kerze bezogen auf eine Grundfläche von einem Quadratmeter. Je nach Nutzungs- und Umgebungsbedingungen können aber auch deutlich höhere Beleuchtungsstärken erforderlich sein. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn mit der Anwesenheit von ortsunkundigen Personen zu rechnen ist. Die Beleuchtungsstärke muss so gewählt werden, dass einerseits die Orientierung sichergestellt wird und andererseits auch Hindernisse erkannt werden können. Damit keine allzu starken Beleuchtungsunterschiede auftreten, muss das Verhältnis von maximaler zu minimaler Beleuchtungsstärke weniger als 40:1 betragen. Blendungen durch die Sicherheitsbeleuchtung sind nach Möglichkeit zu vermeiden. Ebenso ist die Farbwiedergabe der Sicherheitsbeleuchtung so zu wählen, dass die Erkennbarkeit von Sicherheitsfarben nicht beeinträchtigt wird.
Flucht und Rettung nicht ohne Plan
Flucht- und Rettungspläne dienen der zielgerichteten Orientierung sowohl für diejenigen, die aus dem Gebäude flüchten, als auch für diejenigen, die zur Rettung in das Gebäude vordringen müssen. Aber nicht jede Arbeitsstätte muss mit Flucht- und Rettungsplänen ausgestattet sein. Es gilt: Je einfacher beziehungsweise eindeutiger die Flucht beziehungsweise das Vordringen zur Einsatzstelle im Gebäude ist, desto geringer ist die Notwendigkeit eines Flucht- und Rettungsplans. Die Kriterien, welche für die Erstellung von Flucht- und Rettungsplänen sprechen, sind ebenfalls in der Tabelle auf Seite 24 der ASR A2.3 “Fluchtwege und Notausgänge” aufgeführt.
Wenn eine Arbeitsstätte mit Flucht- und Rettungsplänen auszustatten ist, müssen diese natürlich auch leicht aufzufinden sein. Gut geeignete Stellen sind üblicherweise vor Aufzugsanlagen und Treppenzugängen, an Kreuzungspunkten von Verkehrswegen und – insbesondere für eintreffende Rettungskräfte – in Eingangsbereichen. Flucht- und Rettungspläne müssen vom jeweiligen Standort des Betrachters lagerichtig angebracht sein.
Der Kreis schließt sich
Letztendlich schließt sich in der ASR A2.3 “Fluchtwege und Notausgänge” auch der Kreis zu den in Teil 1 beschriebenen Anforderungen der ASR 1.5 „Fußböden“, da zum Beispiel Sammelstellen gemäß Abschnitt 4 (10) auch über sicher begehbare Bodenoberflächen verfügen müssen. Sammelstellen müssen zudem außerhalb „des Wirkbereichs der fluchtauslösenden Gefahr“ liegen, womit laut den Erläuterungen insbesondere Rauch sowie umherfliegende oder herabfallende Gebäudeteile gemeint sind. Dabei hatten die Verfasser dieser ASR wohl offensichtlich die Brandgefahr als naheliegendsten Grund für eine Evakuierung vor Augen.
Jeden Blickwinkel berücksichtigen
Im Falle eines Amoklaufs ist jedoch die fluchtauslösende Gefahr eine ganz andere. Unter diesem Aspekt wäre es wichtig, dass der Sammelpunkt weder in einer möglichen Schusslinie aus dem Gebäude liegt noch durch dessen Lage die polizeilichen Maßnahmen beeinträchtigt werden könnten. Das Beispiel verdeutlicht, wie wichtig es ist, sich aller denkbaren Gefahren bewusst zu sein und dazu unterschiedliche Blickwinkel einzunehmen. Der Blickwinkelwechsel betrifft praktisch alle die Arbeitsstätte nutzenden Personenkreise, vom Kleinkind über mobilitätseingeschränkte Personen bis hin zu Sprach- oder Ortsunkundigen.
Auswirkungen der neuen Richtlinien auf Sicherheitsbeauftragte
Grundsätzlich ist der Unternehmer beziehungsweise die jeweils dafür verantwortliche Führungskraft für die Einhaltung der Vorschriften und die Umsetzung sich daraus ergebender Maßnahmen verantwortlich. Sicherheitsbeauftragte verfügen weder über die Mittel noch über die Rechte und Befugnisse, um bauliche oder organisatorische Maßnahmen, welche sich gegebenenfalls aus den überarbeiteten Richtlinien ergeben, umsetzen zu können. Dennoch können Sicherheitsbeauftragte die neuen Informationen nutzen, um sowohl den Arbeitgeber als auch die Führungskräfte auf Defizite oder schon erkannte Unfallstellen aufmerksam zu machen und ihnen gegebenenfalls Gründe zu nennen, warum weitere Maßnahmen notwendig sind. Ebenso können die so gewonnenen Erkenntnisse in die notwendigen Unterweisungen der Beschäftigten einfließen.
Die nach ASR A1.5 geforderten regelmäßigen Begehungen, durch die auch in selten genutzten Bereichen vorhandene Mängel zeitnah erkannt werden sollen, können – vorausgesetzt, dass damit keine eigenverantwortliche Tätigkeit verbunden ist – durchaus auch von Sicherheitsbeauftragten ausgeführt werden, welche dann die festgestellten Mängel weitermelden. Der Aufgabenumfang nach ASR A1.5 kann sinnvollerweise auch auf die Kontrolle der wesentlichsten Anforderungen an Verkehrs- sowie insbesondere an Flucht- und Rettungswege erweitert werden.
Lesen Sie zur ASR A1.8 “Verkehrswege”:
Lesen Sie zur ASR A1.5: „Fußböden“:
Autor:
Dipl.-Ing. Rainer Rottmann