Herr Dr. Nickel, wie sind Ihre bisherigen Erfahrungen mit der Simulationstechnik VR – kann sie einen echten Beitrag zum Arbeitsschutz leisten?
Ja, in der Tat, VR hat sich über die letzten Jahre zu einem Simulationswerkzeug entwickelt, das nicht nur technische Prozesse abbilden kann. Die Beschäftigten können Arbeitsprozesse in einer realitätsnahen Umgebung sehen, hören, fühlen und miterleben. Für den Arbeitsschutz und auch für Human Factors- und Usability-Studien blicken wir genau auf die Interaktion von Mensch und Technik. Mit relativ geringem Aufwand können wir mithilfe von VR technische Arbeitsbedingungen so entwickeln und gestalten, dass der Mensch sie sicher und gesund nutzen kann. Der Arbeitsschutz ist damit schon heute in der Zukunft.
Womit beschäftigt sich das VR-Labor aktuell?
Mithilfe von VR-Simulationen im großen VR-Labor konnten wir jüngst das Arbeitsschutzniveau großer technischer Anlagen bereits im Planungs- und Konstruktionsprozess steigern. Dafür sorgten Risiko- und Gefährdungsbeurteilungen in 150 Arbeitsszenarien für standardisierte Schleusen, die erst zukünftig gebaut werden.
Aktuell integrieren wir ein Qualifizierungsmodul in ein Seminar zur Risikobeurteilung von Maschinen. Ein virtuelles Arbeitsszenario wird speziell für das Modul so entwickelt, dass selbstgesteuertes und erfahrungsgeleitetes Lernen gefördert und Lerninhalte vertieft werden. Die Seminarteilnehmer tauchen in die virtuelle Arbeitswelt mit VR-Brillen ein und setzen dort Maßnahmen zur Risikominderung um. Die Integration in das Seminar und die VR-Entwicklung folgt einem praktisch bewährten Human-Factors-Konzept aus der Ingenieurpsychologie, das die Definition von Lernzielen, Aufgaben- und Nutzeranalysen sowie Moduldesign vor und über die VR-Programmierung stellt und dazu Usability und Lernerfolge evaluiert. Die positiven Rückmeldungen schreiben wir diesem Vorgehen zu.
Wo stößt VR an Grenzen beziehungsweise gibt es auch Risiken beim Einsatz von simulierten Arbeitsabläufen?
Ja, es gibt Grenzen; solche, die wir überwinden werden und andere, die wir einplanen können. Beachtet werden sollten vor allem die folgenden drei Themen:
Erstens: Beim Arbeitsschutz für VR sind noch einige Fragen offen: Was alles ist bei der Gefährdungsbeurteilung für den VR-Einsatz am Arbeitsplatz zu berücksichtigen? Welche Gestaltungsanforderungen an VR sind für den betrieblichen Einsatz relevant? Wie lange kann in VR ununterbrochen gearbeitet werden? Welche Arbeiten sind nicht mit VR zu empfehlen?
Zweitens: Bei einer Simulation und damit auch in VR handelt es sich immer um eine reduzierte und vereinfachte Realität. Ergebnisse aus Aktivitäten von Personen in VR lassen sich nicht einfach 1:1 auf die Realität übertragen. Am tatsächlichen Arbeitsplatz muss ein Lösungsvorschlag aus VR nochmal geprüft, gegebenenfalls angepasst und dokumentiert werden.
Drittens: Wie jedes gute Werkzeug ist auch VR nur ein Hilfsmittel, ein Mittel zum Zweck, das kompetente Beschäftigte zur Unterstützung ihrer Aufgaben nutzen wollen. VR kann erst dann Arbeitsaufgaben und Arbeitsprozesse unterstützen, wenn die VR speziell dafür ausgestaltet wird. Und das können wir Arbeitsgestalter in Zusammenarbeit mit den betrieblichen Akteuren.
Unternehmen wie die BASF oder Audi nutzen VR-Anwendungen bereits im Betriebsalltag – insbesondere zu Schulungszwecken. Was denken Sie: Welchen Stellenwert wird VR im betrieblichen Arbeitsschutz gewinnen?
VR ist im Trainingsbereich sehr verbreitet und wird erfolgreich genutzt. Gerade dort ist es wichtig, dass es nicht Selbstzweck wird und Lerninhalte auch in VR pädagogisch und psychologisch so aufbereitet werden, dass sie zu einem Lernerfolg führen.
Der Stellenwert von VR wird insgesamt steigen, da wir damit die Zukunft der Arbeit entwickeln, das heißt bereits heute die Mensch-System-Interaktionen in der Arbeitswelt 4.0 simulieren und bereits heute ergonomische, sichere und gesunde Gestaltungslösungen für Arbeitsprozesse und Arbeitsschutzlösungen von morgen entwickeln.
Unterstützt durch den Einsatz von VR konnten über die vergangenen Jahrzehnte schon viele Lösungen für den Arbeitsschutz und weitere betriebliche Fragestellungen entwickelt werden. Modellieren und Simulieren mit 3D CAD und VR nähert sich aneinander an und unterstützt die betrieblichen Akteure – und damit auch die Sicherheitsbeauftragten. Das bezieht sich schon heute auf ein Auslegen von Arbeitsplätzen, ein Erproben von Arbeitsprozessen durch Beschäftigte an neuen Arbeitsplätzen, ein virtuelles Inbetriebnehmen von Maschinen und Anlagen, ein Entwickeln von Schutzkonzepten an Maschinenbedienplätzen, ein Voraussimulieren von Steuerungseingriffen in modularen Produktionsprozessen und vieles andere mehr.
Vielen Dank für das Gespräch!