Das von der Sonne erzeugte Tageslicht ist auch ein Zeitgeber. Es synchronisiert täglich die innere Uhr und beeinflusst unter anderem über die Produktion des Hormons Melatonin die Schlafqualität. Wenn der menschliche Organismus dauerhaft künstlichem Licht ausgesetzt ist und kaum noch den Wechsel von Sonnenlicht und Dunkelheit mitbekommt, hält er es sozusagen nicht mehr für notwendig, den natürlichen Schlaf-Wach-Rhythmus einzuhalten. Eine mögliche Folge: Die innere Uhr kommt aus dem Takt, was im Fachjargon als „Chronodisruption“ bezeichnet wird. Die Folgen können unter anderem Störungen der Leistungsfähigkeit, des Stoffwechsels und des Herz-Kreislauf-Systems sein.
Forschungsprojekt von 2018 bis 2021
Insbesondere Langzeit-Nachtschichtarbeiter sind vermehrt künstlichen Lichtquellen zu ungünstigen Tageszeiten ausgesetzt und tragen dadurch ein erhöhtes Risiko für Chronodisruption. Dies soll nun die Leuchte „Drosa“ ändern. Deren Entwicklung basiert auf einem von der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG) initiierten Forschungsprojekt, das die Hochschule München (HM) in Kooperation mit dem RHI Magnesita Werk in Marktredwitz sowie dem Lichtplanungsbüro 3lpi im Zeitraum 2018 bis 2021 realisiert hat.
Bei der Entwicklung des Beleuchtungssystems berücksichtigten Johannes Zauner und Herbert Plischke von der Fakultät für angewandte Naturwissenschaften und Mechatronik der HM den aktuellen Wissensstand über die nicht-visuellen Strahlungseffekte. Das Ergebnis ist eine Zwei-Komponenten-Leuchte, die zwei blendfreie LED-Leuchten mit in ihrem Winkel verstellbaren Flügeln kombiniert. Ein individuell programmiertes Automatisierungssystem steuert die Lichtdosierung und den zeitlichen Ablauf des Strahlungsspektrums während des Tages und der Nacht. Durch die Automation werden das Lichtspektrum, die Bestrahlungsstärke sowie der Raum- und Einfallswinkel aufeinander abgestimmt – allesamt Einflussfaktoren für die nichtvisuelle Reizstärke. Ausschlaggebend ist dabei die Relation der Komponenten zueinander. Die Flügel der LED-Leuchten können in jedem Winkel zwischen Null und 90 Grad eingestellt werden.
Kooperation im Sinne der gesunden Beleuchtung
Initiiert hatte das Projekt die VBG, weil dort der Arbeitsschutz in Sachen Beleuchtung generell ein großes Thema ist und sich die Experten dort schon seit einiger Zeit auch mit den nicht-visuellen Wirkungen von Licht beschäftigen. „Aber es mangelt an guten Praxisbeispielen, die das umsetzen, was wir im Labor erproben“, erklärt Johannes Zauner, „und die wenigen vorhandenen Beispiele sind häufig nicht gut dokumentiert.“ Zusammen mit Herbert Plischke hat er in den letzten zehn Jahren bereits ausgiebig im Bereich der gesundheitsfördernden Beleuchtung geforscht und einige Projekte realisiert.
Als Partner für die Erprobung und Anwendung des Beleuchtungssystems kam die Produktionsstätte von RHI Magnesita mit ins Boot, ein mit Hochtemperaturprozessen arbeitender Betrieb der Glas- und Keramikindustrie. Diese Prozesse lassen sich kaum herunterfahren. Aus diesem Grund sind die Mitarbeitenden dort zwangsläufig im 24-Stunden-Schichtsystem beschäftigt. Weil der Arbeitgeber ihren Gesundheitsschutz verbessern wollte und die noch vorhandenen, alten Leuchtstoffröhren ohnehin durch moderne LED ersetzt werden sollten, entschlossen sich die Beteiligten zu dem gemeinsamen Projekt.
Der Plan: Die Münchener Wissenschaftler entwickeln eine Leuchte, die mehr kann als nur Helligkeit erzeugen, und die Produktionsstätte stellt den Pilot-Arbeitsplatz. Dabei hatten die Entwickler von Anfang an im Blick, das fertige Produkt anschließend auf den Markt zu bringen. „Es fehlt dem industriellen Markt an konkreten Produkten, die diese nichtvisuellen Prinzipien umsetzen. Es sollte daher etwas dabei herauskommen, das Interessierte am Ende – mit einer Katalognummer versehen – einfach bestellen können“, sagt Johannes Zauner.
Die Entwicklung des Beleuchtungssystems
Zunächst untersuchten die Forscher die Beleuchtung der Produktionsstätte, die sich in einer etwa 130 Quadratmeter großen Industriehalle befindet, auf nicht-visuelle sowie grundlegende, visuelle Aspekte. Dazu gehören die nicht-visuelle Reizstärke in Augenhöhe der Beschäftigten sowie die horizontale Beleuchtungsstärke in ihrem Arbeitsbereich – ein Maß für die Arbeitsplatzhelligkeit. „Klassischerweise gehört zu einer Beleuchtungsplanung eine Lichtsimulation. Anhand dieser lässt sich berechnen, wie viel Licht bei der Arbeitsfläche oder am Auge des Nutzers ankommt und ob dieses Licht aktivierend ist.“
Weil die Wissenschaftler diesen gängigen Planungsschritten gefolgt sind und die nötigen Forschungsergebnisse schon vorlagen, spricht Johannes Zauner nicht von einer Innovation im klassischen Sinn. „Die Entwicklung ist natürlich insofern innovativ, weil es eine solche Leuchte zuvor noch nicht am Markt gab. ‚Drosa‘ sieht auch recht futuristisch aus: Sie bildet quasi einen kleinen künstlichen Himmel, der aufgeteilt ist in Flächensegmente. Aber im Wesentlichen steckt keine Magie dahinter. Es ist nicht bahnbrechend in dem Sinne, dass wir ganz neue wissenschaftliche Erkenntnisse dafür gewinnen mussten“, erklärt der Entwickler. Vielmehr gehe es darum, potenziellen Nutzern zu zeigen: Schaut her, das funktioniert, und niemand braucht Berührungsängste zu haben, um diese Erkenntnisse in Form der Leuchte einzusetzen.
Die innere Uhr bleibt weitgehend im Takt
Das Ergebnis: „Drosa“ verringert die kognitive Anstrengung beim Arbeiten. Ist der nichtvisuelle Reiz am Morgen hoch, wird die innere Uhr auf den normalen Tagesablauf synchronisiert und Mitarbeitende werden schneller wach und aufmerksam. Dies erfolgt durch einen hohen Blauanteil im kalt-weißen Licht der LED-Strahler. Am Abend wird der nicht visuelle Reiz auf den oder die Beschäftigte dann minimiert, während das Werkstück hingegen heller beleuchtet wird, als es bei der Bestandsbeleuchtung der Fall war. Auf diese Weise wird die innere Uhr des Menschen nur noch minimal verschoben, entsprechend bleiben auch die hormonellen Rhythmen bei Langzeitnachtschichten gefestigt. Das trägt zu einem guten Schlaf nach der Arbeit und einer erhöhten Langzeitgesundheit bei.
Klares Ziel: Die Verbreitung von Drosa
Das Prinzip der Leuchte „Drosa“ und des nicht-visuellen Simulationsverfahrens könnte nicht nur Schichtarbeitenden in der Industrie helfen, sondern auch bei nächtlicher Büroarbeit, in Pflegeheimen und anderen Arbeitsbereichen, in denen die negativen Folgen von Schichtarbeit für die Nutzer gemildert werden sollen. Dazu Johannes Zauner: „Wichtig ist der Multiplikatoreffekt. Bisher konzentrieren wir uns noch auf einen kleinen Anwendungsbereich, aber das Beleuchtungssystem ist so konzipiert, dass es nahezu universell verwendet werden kann.“ Zu bedenken sei beim bisherigen Stand, dass es sich noch um ein Pilotprojekt handele, bei dem immer Kinderkrankheiten aufkommen könnten. „Unser Ziel ist jedoch, dass sich die Leuchte ‚Drosa‘ am Ende in verschiedenen Betrieben einsetzen lässt. Ebenso ist denkbar, dass sich Unternehmen eine eigene Leuchte nach dem zugrundeliegenden Prinzip anfertigen lassen.“
Der wissenschaftliche Ausgangspunkt
Neben den Wirkungen des visuell wahrnehmbaren Lichts hat auch nicht-visuelle Strahlung gesundheitliche Effekte. Sie steuert etwa den zirkadianen, das heißt den tageszeitabhängigen Rhythmus und den Schlaf-Wach-Rhythmus. Außerdem beeinflusst sie die kognitive Leistungsfähigkeit. Verantwortlich für die Aufnahme nicht-visueller Strahlung sind lichtsensible Ganglienzellen in der Retina des Auges, die für blaues Licht empfindliches Melanopsin enthalten.
Kurz-Interview mit Andreas Schedl
Nur noch eine Frage der Feinjustierung
Herr Schedl, wie gut funktioniert Drosa in der Praxis?
Der Einbau und die weitere Entwicklung haben schon gut funktioniert. Es ist ein Prozess, weil es sich um eine spezielle Anfertigung handelt, die während der Erprobungsphase natürlich auch weiterhin justiert und optimiert werden muss, basierend auf dem Feedback unserer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Fakt ist, dass die Schichtarbeitenden bereits Verbesserungen spüren, teils aber auch noch Anpassungen wünschen.
Wie ermitteln Sie den Stand der Dinge?
Unsere Mitarbeitenden in dem Bereich werden regelmäßig befragt und ermuntert, etwas zu sagen, wenn sie sich noch nicht ganz wohlfühlen. Wir stehen weiterhin mit dem Hersteller in Verbindung und die Leuchte wird dann entsprechend verbessert. Es sind also immer kleine Schritte. Allein die Entwicklung von der Idee bis zur Realisierung hat sich über zwei Jahre gezogen. Doch inzwischen ist die Maßnahme größtenteils abgeschlossen, sodass nun nur noch Feinoptimierungen erfolgen.
Inwiefern lässt sich das Beleuchtungssystem noch verbessern?
Oft handelt es sich um technische Kleinigkeiten, die völlig normal sind, wenn ein Produkt noch in den Kinderschuhen steckt. Einmal mussten wir ein Bauteil wechseln lassen, weil bei der Charge etwas nicht passte. Außerdem werden nach den Bedürfnissen unserer Mitarbeitenden noch Licht-Farb-Justierungen vorgenommen. So wird etwa die Helligkeit abhängig von der Tageszeit weiter optimiert.
Wir müssen also zum Beispiel auf einen Mitarbeiter hören, wenn er sagt: Das ist mir jetzt noch zu dunkel für diese Uhrzeit. Damit ich auch eine saubere Qualität abliefere, wäre es besser, wenn wir es noch ein bisschen heller machen würden.
Andere wiederum wünschen, die Lichtfarbe etwas zu verändern, weil es dann angenehmer für das Auge ist. Wir reagieren also weiterhin auf die Bedürfnisse und Erkenntnisse in dem Bereich, bis feststeht: Das ist es jetzt!
Bleibt die RHI Magnesita bei dieser Art Beleuchtung?
Das ist unser Ziel. Wenn sich das System etabliert hat, wird es sicherlich auch in anderen Unternehmen die Zukunft sein, weil die Atmosphäre am Arbeitsplatz auch eine wichtige Rolle hinsichtlich der Motivation und Leistung der Beschäftigten spielt.
Das Gespräch führte Christine Lendt
Autorin:
Christine Lendt
Fachautorin und freie Journalistin