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Gesundheitsschädigende Schwingungen

Gesundheitsschädigende Schwingungen
Good Vibrations?

Petra Hannen
Schleif­maschi­nen und Bohrhäm­mer, Hub­wa­gen und Lkw, Motor­räder und Ped­elecs – alle über­tra­gen bei der Nutzung mech­a­nis­che Schwingun­gen auf den men­schlichen Kör­p­er. Sind die Vibra­tio­nen zu stark oder dauern sie zu lange an, kön­nen sie Knochen- und Gelenkschä­den sowie Durch­blu­tungsstörun­gen verur­sachen. Bei vie­len mod­er­nen Geräten wird daher der Vibra­tionss­chutz schon bei der Entwick­lung mitgedacht, um gesund­heitss­chädi­gende Schwingun­gen zu ver­mei­den – und stellt ein wichtiges Kri­teri­um bei der Beschaf­fung und Nutzung schwin­gen­der Werk- und Fahrzeuge dar.

„The sec­ond best feel­ing“, das zweitbeste aller Gefüh­le – so beschrieb Con­ti­nen­tal ein­mal in ein­er Wer­bekam­pagne das Motor­rad­fahren. Fragt man Motor­bike-Fans nach diesem Gefühl, ist oft vom „Charak­ter“ ihrer Mas­chine und der „See­len­mas­sage“ beim Fahren die Rede. Gemeint sind damit die Vibra­tio­nen, die an fast jedem Motor­rad mehr oder weniger stark auftreten. Je nach Fre­quenz und Stärke kön­nen diese Schwingun­gen allerd­ings auch anstren­gend und nervig sein, spätestens wenn nach ein­er län­geren Fahrt die Fin­ger kribbeln und die Füße einschlafen.

Messungen bei Dienstmotorrädern

Jür­gen Adamek, Pro­fes­sor für Kon­struk­tion­stech­nik an der Hochschule Osnabrück, hat die mech­a­nis­chen Schwingun­gen genauer unter­sucht, die über Lenker, Fußras­ten und Sitzbank über­tra­gen wer­den. Basis sein­er Analyse waren Motor­räder im Dien­st­ge­brauch bei der Polizei und der Johan­niter Unfall­hil­fe. Die Mes­sun­gen zeigten sowohl im Hand-Arm- als auch im Ganzkör­per­bere­ich Schwingungswerte, die zum Teil deut­lich jen­seits der geset­zlich vorgegebe­nen Gren­zw­erte lagen. Die Vibra­tio­nen wer­den ein­er­seits ent­lang der ver­tikalen Achse über die Basis und die Rück­seite des Sitzes auf das Gesäß und den Rück­en und ander­er­seits über die Ped­ale und die Lenker­griffe auf die Füße, Hände und Arme übertragen.

„Viele Fahrer bemerken Auswirkun­gen auf den Kör­p­er, doch die meis­ten empfind­en die Vibra­tio­nen nicht als Prob­lem”, so Jür­gen Adamek. Dabei kön­nten die Schwingun­gen nicht nur langfristig zu ver­schiede­nen Erkrankun­gen führen, son­dern auch kurzfristig die Leis­tungs­fähigkeit ins­ge­samt beein­trächti­gen, wodurch sich das Unfall­risiko erhöhe. Etliche Her­steller stat­ten daher die Lenkeren­den und Fußras­ten mit zusät­zlichen Gewicht­en aus oder befes­ti­gen die Motoren in Gum­mi­lagern, um Schwingun­gen zu reduzieren – auch wenn das die Mas­chine „Charak­ter“ kostet.

Starke Hand-Arm-Vibrationen

Jen­seits der Bik­er­szene würde ohne­hin kaum jemand diese Lieb­haber­beze­ich­nung ver­wen­den, um das Vib­ri­eren eines Fahrzeugs oder Werkzeugs zu beschreiben. Viele empfind­en die Schwingun­gen vielmehr als unan­genehm oder zumin­d­est als ermü­dend, außer­dem sind vib­ri­erende Geräte häu­fig auch laut. Daher hat die Reduk­tion dieser Eigen­schaft für die Unternehmen einen hohen Stel­len­wert. Hinzu kommt der Gefährdungsaspekt. Der US-Pro­duzent Stan­d­ley Black & Deck­er, der unter anderem mit der Marke Dewalt in Deutsch­land vertreten ist, weist darauf hin, dass EU-weit etwa 25 Mil­lio­nen Men­schen im regelmäßi­gen Kon­takt mit starken Vibra­tio­nen sind. Dem­nach laufen davon mehr als fünf Mil­lio­nen Men­schen ern­sthaft Gefahr, durch Hand-Arm-Vibra­tio­nen gesund­heitliche Schä­den zu erlei­den. Das Unternehmen schätzt, dass durch Human­schwingun­gen verur­sachte Krankheit­en EU-weit bis zu fünf Mil­liar­den Euro im Jahr kosten, in Deutsch­land sei von rund 500 Mil­lio­nen Euro jährlich auszugehen.

Technischer Schutz vor gesundheitsschädigenden Schwingungen

Dabei kön­nen schon kleine tech­nis­che Änderun­gen eine große Ent­las­tung bedeuten. Elek­trow­erkzeugher­steller Mil­wau­kee gibt an, mit seinem Anti-Vibra­tions-Sys­tem (AVS), das etwa in Bohr- und Meißel­häm­mern sowie Schlag­bohrmaschi­nen steckt, die Belas­tung um bis zu 50 Prozent reduzieren zu kön­nen. Ziel solch­er AVS ist es, die Über­tra­gung von Schwingun­gen auf die Hände und Arme zu ver­ringern, etwa indem im Gerät ver­schiedene Teile ganz voneinan­der entkop­pelt oder mit dämpfend­en Mate­ri­alien ver­bun­den wer­den. Bei Winkelschleifern ist es laut Mil­wau­kee beispiel­sweise möglich, mit Hil­fe eines soge­nan­nten Auto­bal­ance-Sys­tems die Vibra­tio­nen um bis zu 70 Prozent zu ver­ringern. Ein solch­er automa­tis­ch­er Unwuch­taus­gle­ich­er ähnelt einem Kugel­lager und sitzt auf oder in der Nähe der Antrieb­swelle. Frei bewegliche Kugeln in seinem Inneren wirken den Unwucht­en der Schleif­scheibe ent­ge­gen und gle­ichen sie so kon­tinuier­lich aus. Hil­fre­ich sind dem Her­steller zufolge auch Soft­grip-Aufla­gen auf den Hand­grif­f­en von Elek­trow­erkzeu­gen. Deren dämpfend­er Effekt wird bei Mil­wau­kee mit einem zusät­zlichen Luft­pol­ster zwis­chen Gerätege­häuse und Soft­grip weit­er erhöht. Dieser min­i­male Abstand ver­hin­dert eine Weit­er­gabe der Vibra­tio­nen an die Auflagefläche.

Dämpfung von Ganzkörper-Schwingungen

Entkop­peln, dämpfen, pol­stern – diese Ansätze find­en sich nicht nur beim Schutz gegen Hand-Arm-Vibra­tio­nen, son­dern auch im Bere­ich der Ganzkör­p­er-Schwingun­gen. Für Nutz­fahrzeuge und Arbeits­maschi­nen wie Lkw oder Busse, Gabel­sta­pler oder Land­maschi­nen gibt es bere­its seit Jahren schwingungs­dämpfende luft­gefed­erte Sitze, die im Ide­al­fall über eine automa­tis­che Gewicht­se­in­stel­lung ver­fü­gen. Und auch für Geräte, die im Ste­hen bedi­ent und gefahren wer­den und bei denen aus Grün­den der Stand­sicher­heit die Schwingun­gen nicht über das Fahrw­erk abge­fan­gen wer­den kön­nen, gibt es Lösun­gen. Von Linde Mate­r­i­al Han­dling kommt beispiel­sweise ein Nieder­hub-Kom­mis­sion­ier­er mit einem voll­ständig gefed­erten Fahrerar­beit­splatz. Diese Federung soll die über Lenkrad und Fahrer­stand wirk­enden Human­schwingun­gen um rund 30 Prozent senken. Mit ein­er Reduk­tion um 40 Prozent wirbt Still bei einem Nieder­hub­wa­gen mit luftgedämpfter Stand­plat­tform, die sich indi­vidu­ell auf das Kör­pergewicht des jew­eili­gen Beschäftigten ein­stellen lässt.

Knackpunkt Lastenpedelecs

Ver­stärkt in den Fokus des Schutzes vor gesund­heitss­chädi­gen­den Schwingun­gen rückt zurzeit ein weit­eres Fahrzeug: das Las­ten­ped­elec, das vor allem in städtis­chen Bere­ichen von immer mehr Branchen genutzt wird, etwa von Zustell­dien­sten, dem Handw­erk und der ambu­lanten Pflege. Das Lan­desin­sti­tut für Arbeitss­chutz und Arbeits­gestal­tung Nor­drhein-West­falen (LIA) hat die Vibra­tio­nen unter­sucht und kri­tisiert, dass in den Betrieb­san­leitun­gen viel­er Räder noch entsprechende Dat­en fehlen, obwohl die Maschi­nen­verord­nung die Angabe vorschreibt. Max­i­male Ein­satzzeit­en und Schutz­maß­nah­men für die Beschäftigten seien so nur schw­er zu ermit­teln. Dabei kommt es den LIA-Ergeb­nis­sen zufolge bei Las­ten­ped­elecs zu Prob­le­men, die an die Vibra­tions­be­las­tung auf einem Motor­rad erin­nern: zu Ganzkör­p­er-Schwingun­gen über Sat­tel und Ped­ale sowie zu Hand-Arm-Vibra­tio­nen über den Lenker.

Route, Fahrstil, Gewicht sind ausschlaggebend für gesundheitsschädigende Schwingungen

Auss­chlaggebend für das Aus­maß der Schwingun­gen ist vor allem die Fahrbah­nober­fläche, also ob die Route vor allem über Kopf­steinpflaster führt oder über asphaltierte Straßen und wie viele Schlaglöch­er und Bor­d­steinkan­ten unter­wegs genom­men wer­den müssen. Wie viel Gerüt­tel beim Men­schen ankommt, hängt dann von mehreren Fak­toren ab, etwa dem per­sön­lichen Fahrstil, dem Reifendruck und der Ausstat­tung des Gefährts mit Federun­gen, dem Kör­pergewicht der Fahren­den und dem Gewicht der Zuladung. Ins­ge­samt, so das LIA, seien bei Las­ten­ped­elecs die Vibra­tio­nen als nicht ver­nach­läs­sig­bar zu betra­cht­en – noch so eine „See­len­mas­sage“ also, vor der Unternehmen ihre Beschäftigten schützen müssen.


Richtlinien und Verordnungen

  • Die Richtlin­ie 2002/44/EG soll Beschäftigte an ihrem Arbeit­splatz vor der Gefährdung durch mech­a­nis­che Schwingun­gen bewahren. Seit Inkraft­treten beste­ht für Unternehmen europaweit die Verpflich­tung, Arbeit­splätze mit Vibra­tion­sein­wirkung in Bezug auf die Gefährdung von Beschäftigten zu beurteilen und diese vor entsprechen­den gesund­heitlichen Risiken zu schützen. Deutsch­land hat die Richtlin­ie im Jahr 2007 mit der Lärm- und Vibra­tions-Arbeitss­chutzverord­nung (Lär­mVi­bra­tionsArb­SchV) umge­set­zt. Darin wer­den unter anderem Expo­si­tion­s­gren­zw­erte und Aus­lösew­erte für Vibra­tio­nen sowie Maß­nah­men zur Ver­mei­dung und Ver­ringerung der Expo­si­tion festgelegt.
  • Die EG-Maschi­nen­richtlin­ie verpflichtet Her­steller dazu, Maschi­nen so zu kon­stru­ieren und zu bauen, „dass Risiken durch Maschi­nen­vi­bra­tio­nen ins­beson­dere an der Quelle so weit gemindert wer­den, wie es nach dem Stand des tech­nis­chen Fortschritts und mit den zur Ver­ringerung von Vibra­tio­nen ver­füg­baren Mit­teln möglich ist.“ Außer­dem müssen sie konkrete Angaben zur Emis­sion von Lärm und Vibra­tio­nen machen. Vibra­tionsken­nwerte wer­den in den tech­nis­chen Daten­blät­tern in Meter pro Quadrat­sekunde (m/s²) angegeben, der Ein­heit für Beschle­u­ni­gung. Im Bere­ich der Hand-Arm-Vibra­tio­nen beispiel­sweise gel­ten Werte bis zu 2,5 m/s² als unprob­lema­tisch. Bei höheren Werten muss die Ein­schaltzeit berück­sichtigt und ein­berech­net wer­den, also die Zeit, in der mit dem Gerät tat­säch­lich gear­beit­et wird. Bei schw­eren handge­führten Werkzeu­gen wie Abbruch­häm­mern müssen dann unter Umstän­den Ein­satzzeit­en verkürzt werden.

Humanschwingungen

Human­schwingun­gen sind als die Ein­wirkung mech­a­nis­ch­er Schwingun­gen auf den men­schlichen Kör­p­er definiert. Diese Wirkung hängt von Fre­quenz, Stärke, Art und Rich­tung der Schwingung sowie der Belas­tungs­dauer ab, hinzu kom­men indi­vidu­elle Aspek­te wie Alter und kör­per­liche Voraus­set­zun­gen. Am häu­fig­sten sind neben den Ganzkör­p­er-Schwingun­gen, die auf den gesamten Kör­p­er ein­wirken, die Hand-Arm-Schwingun­gen, die vor allem Hände und Arme betreffen.

  • Ganzkör­p­er-Schwingun­gen wer­den am häu­fig­sten über Sitze oder Böden ver­schieden­ster Fahrzeuge über­tra­gen. Sie wer­den oft mit Schmerzen im Bere­ich der Wirbel­säule in Verbindung gebracht, außer­dem mit Müdigkeit und Kopf­schmerzen, Seh- und Gle­ichgewichtsstörun­gen sowie der soge­nan­nten See- und Luftkrankheit.
  • Hand-Arm-Schwingun­gen gehen meis­tens mit der Ver­wen­dung handge­führter vib­ri­eren­der Werkzeuge und Geräte ein­her. Sie beein­trächti­gen die Ner­ven, Blut­ge­fäße, Muskeln und Gelenke der Hände und Arme, was unter anderem zu Kribbeln und Taub­heit in den Fin­gern, ein­er Ver­min­derung der Grif­fkraft und des Tastsinns sowie ein­er Beein­träch­ti­gung der Blutzirku­la­tion führen kann, dem soge­nan­nten vibra­tions­be­d­ingten vasospastis­chen Syn­drom, auch „Weißfin­gerkrankheit“ genan­nt. Typ­is­che Prob­leme sind zudem der soge­nan­nte Mond­bein­tod oder der Ermü­dungs­bruch des Kahn­beins im Handwurzelbereich.

Petra Hannen
Petra Han­nen; Foto: © Bar­bara Dietl

Autorin:
Petra Hannen
Fachjournalistin

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