Ob Elektrounfall, umgekippte Hubarbeitsbühne oder ein Crash mit dem Firmenwagen – ein Arbeitsunfall mit schweren Verletzungen geht auch an der Psyche nicht spurlos vorbei. Das gilt nicht nur für das Unfallopfer, sondern auch für Zeugen und Ersthelfende, die sich um bewusstlose, schreiende, blutende oder eingeklemmte Mitarbeitende kümmern. Bei manchen Unfällen und gesundheitlichen Notfällen wie einem Herzversagen am Arbeitsplatz, aber auch bei Naturkatastrophen – etwa in Form von Sturm, Hochwasser oder Lawinen – kommt die Konfrontation mit dem Tod hinzu. In einigen Berufen sehen sich die Beschäftigten zudem häufiger mit Suiziden konfrontiert, darunter Lokführende, Polizistinnen und Polizisten sowie Mitarbeitende im Justizvollzug. Auf derartige psychische Notfälle gilt es, vorbereitet zu sein.
Plötzliche Gewaltausbrüche
Eine weitere Ursache seelischer Erschütterungen sind Gewalterfahrungen, ob physischer, psychischer oder verbaler Natur. Physische Gewalt kann sich gegen Einrichtungsgegenstände richten und zu Sachbeschädigungen oder Vandalismus führen. Sie kann sich zudem an Personen entzünden und entladen. Das reicht vom Anspucken oder Begrapschen bis zum Schlagen und Bedrohen mit Waffengewalt. Aggressionen können von betriebsfremden Personen ausgehen, aber auch von Klienten, Patienten, Besuchern sowie Kollegen. Das Erleben hat – unabhängig von einem körperlichen Kontakt oder gar Schaden – stets auch eine psychische Komponente. Auch verbale Gewalt in Form von Beschimpfungen, Beleidigungen oder Bedrohungen erleben wir als aggressiven Angriff auf die eigene Person. All diesen Situationen und Zwischenfällen ist gemeinsam, dass sie – im Gegensatz zu anderen psychischen Fehlbelastungen etwa durch Mobbing oder Burnout – plötzlich und unerwartet eintreten. Gerade dieses Gefühl, schlagartig einer neuen und bedrohlichen Situation ausgeliefert zu sein, kann extrem belasten.
Wer ist besonders gefährdet?
Mit einem Arbeits- oder Wegeunfall ist branchenübergreifend fast jeder im Lauf seines Berufslebens irgendwann konfrontiert. Durch Gewaltereignisse besonders gefährdet sind Mitarbeitende von Geldinstituten, Juweliergeschäften, Tankstellen, Apotheken, Einzelhandelsbetrieben, Wach- und Sicherheitsdiensten oder Taxiunternehmen. Auch im Gesundheitswesen, in Heimen, Sozialstationen und Behinderteneinrichtungen kann es zu angespannten Situationen, Gewalt und Aggression kommen. Ebenfalls gefährdet sind Beschäftigte in öffentlichen Verwaltungsbereichen mit Bürgerkontakten wie Sozial‑, Jugend- und Ordnungsämter. Dazu kommt die erschreckende Entwicklung, dass immer häufiger auch die Einsatzkräfte von Polizei, Rettungsdiensten, Freiwilliger oder Berufsfeuerwehren von verbalen und körperlichen Bedrohungen berichten. Das reicht von Beleidigungen und Bespucken bis zu tätlichen Angriffen. Laut einer von der DGUV im Februar 2022 veröffentlichten Umfrage der Feuerwehr-Unfallkasse Niedersachsen haben mehr als ein Drittel der Feuerwehrleute bereits Gewalt erlebt.
Psychologie der Unfallbewältigung
Ob Unfall oder Überfall – an die Grenzen der eigenen Belastbarkeit geführt zu werden, ist ein einschneidendes Ereignis, auf das Körper und Psyche reagieren. Typische Symptome eines Schockzustands kurz nach Erleben einer Extremsituation sind:
- Herzklopfen, Zittern, Weinen, Atemnot, Nervosität und Schweißausbrüche, aber auch körperliche Unruhe oder Apathie
- Gefühle der Hilfslosigkeit, Ohnmacht, Verunsicherung, Entsetzen, des Ausgeliefertseins
- ein Tunnelblick, in dem die Emotionen der Extremsituation immer wiederkehren, ohne dass man die Gesamtsituation wahrnimmt
- ein Blackout, Gedächtnisverlust oder „Filmriss“ bis zur Amnesie, dem totalen Vergessen
Dazu können je nach Situation Scham, Gewissensbisse, Selbstvorwürfe und Schuldzuweisungen kommen, zum Beispiel wenn eigenes Fehlverhalten mitursächlich für den schlimmen Vorfall war.
Als normale Reaktionen verstehen
Wichtig zum Verständnis ist, dass all diese Symptome völlig normale Reaktionen von Körper und Psyche sind. Sie können bei jedem gesunden Menschen auftreten, Intensität und Dauer sind jedoch individuell sehr verschieden. Nicht jede seelisch belastende Situation wirkt auf jeden Menschen gleichermaßen traumatisierend und jeder Mensch reagiert in solchen Situationen anders. Das reicht von hektischer Überaktivität bis zur Apathie und kann auch zwischen diesen Extremen schwanken. Entscheidend ist nicht die Schwere des Vorfalls, sondern das subjektive Empfinden und Erleben des Einzelnen.
Auch „harte Kerle“ brauchen Abstand
Aus Sicht von Vorgesetzten und Kollegen ist es wichtig, dass Betroffene nach psychischen Notfällen auf keinen Fall mit einer gefährlichen Arbeit fortfahren sollten, auch wenn sie als „harte Kerle“ gelten und keine äußeren Anzeichen eines Schocks zeigen. Denn in der Schockphase steigt das Unfallrisiko. Nicht selten irren zum Beispiel Zeugen eines Verkehrsunfalls anschließend kopflos über die Straße und bringen sich ebenfalls in Gefahr. Gefährliche Tätigkeiten oder Maschinen sollten daher stets gestoppt werden, wenn sich in der Nähe ein Zwischenfall ereignet hat.
Genügen die Selbstheilungskräfte nach psychischen Notfällen?
Betroffene sollten wissen, dass Schocksymptome normale Körperreaktionen sind und meist nach wenigen Tagen oder Wochen wieder abklingen. Mithilfe der Selbstheilungskräfte und auf Basis der individuellen Resilienz gelingt es in den meisten Fällen von selbst, einen inneren Abstand zum Erleben zu gewinnen und die psychische Stabilität wiederzufinden. Ob dies der Fall ist oder ob Betroffene eine Beratung oder Therapie benötigen, lässt sich jedoch kaum vorhersehen.
Heilt die psychische Verletzung nicht von selbst, droht eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Wenn Anspannung, Schreckhaftigkeit, Angstzustände oder Schlafstörungen sich auch nach Wochen nicht legen, ist spätestens jetzt professionelle Hilfe gefragt, bevor ein Leiden chronisch wird. Als ein typisches Symptom einer PTBS gelten zum Beispiel Flashbacks. Das sind plötzliche, etwa durch Geräusche oder Gerüche hervorgerufene Erinnerungen, sodass betroffene Personen das Gefühl haben, die schlimmen Szenen nie mehr loszuwerden. Typisch ist auch ein Vermeidungsverhalten, bei dem die Betroffenen allen Situationen aus dem Weg gehen, die eine Erinnerung an das Trauma wachrufen könnten.
Chronifizierung vermeiden
Ein unbewältigtes Extremereignis kann zu großem persönlichen Leid führen und eine Störung chronifizieren. Eine solche PTBS kann mit einer Suchtproblematik, Persönlichkeitsveränderungen und Suizidgedanken einhergehen oder diese Tendenzen verstärken. Aus Sicht des Arbeitgebers droht nach psychischen Notfällen ein möglicherweise langer Ausfall der betroffenen Person – oder gar der Verlust einer bewährten Kollegin oder eines bewährten Kollegen durch dauerhafte Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit. Eine psychologische Erstbetreuung vor Ort sowie eine fachkompetente Soforthilfe können dem vorbeugen.
Schock, Trauma, PTBS
Schock, Trauma, PTBS – was verbirgt sich hinter diesen Begriffen, die nicht selten durcheinandergewürfelt werden? Die akute Belastung in einer Extremsituation sollte in jedem Fall von einer möglicherweise daraus entstehenden Erkrankung unterschieden werden.
- Schock ist die akute psychische Belastungsreaktion nach einen Extremereignis. Die akute Schockphase kann nach einigen Minuten vorbei sein, Schocksymptome wie Angst, Rückzug, Apathie, Hektik oder Desorientierung können jedoch auch über Stunden oder Tage andauern. All diese Belastungsreaktionen wie auch Tunnelblick oder Blackout sind Schutzreaktionen unseres Gehirns. Ein Schock ist daher keine Krankheit!
- Trauma meint zum einen die Ausnahmesituation mit beziehungsweise nach einer starken psychischen Erschütterung, zum anderen die dadurch ausgelöste psychische Verletzung (Psychotrauma).
- PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) ist ein Sammelbegriff für verzögerte oder langanhaltende Reaktionen auf belastende Ereignisse. Solche Spätfolgen sind eine ernstzunehmende Erkrankung, die unbehandelt chronisch werden kann und unbedingt in die Obhut professioneller Begleitung gehört.
Achtung: Mediziner verwenden diese Begriffe oft anders als Psychologen. Ein Arzt oder Notarzt bezeichnet auch eine lebensgefährliche Kreislaufstörung mit mangelnder Sauerstoffversorgung als Schock und eine körperliche Verletzung durch Gewalteinwirkung als Trauma. Man sollte daher stets auf den Kontext achten und wissen, über was man spricht.
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Autor:
Dr. Friedhelm Kring
Freier Journalist, Redakteur und Referent