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psychische Notfälle im Unternehmen

Vorbereitung auf psychische Notfälle
Seelische Erschütterungen

Dr. Friedhelm Kring
Arbeit­sun­fälle, Gewal­ter­fahrun­gen oder andere poten­ziell trau­ma­tisierende Extremereignisse kön­nen an jedem Arbeit­splatz auftreten. Wer einen solchen Schock ver­ar­beit­en muss, sollte wis­sen, welche psy­chis­chen Reak­tio­nen „nor­mal“ sind und wann sich pro­fes­sionelle Unter­stützung emp­fiehlt. Wie das belas­tende Ereig­nis ver­ar­beit­et wird, hängt aber auch und ger­ade davon ab, wie gut der Betrieb auf psy­chis­che Not­fälle vor­bere­it­et ist.

Ob Elek­troun­fall, umgekippte Hubar­beits­bühne oder ein Crash mit dem Fir­men­wa­gen – ein Arbeit­sun­fall mit schw­eren Ver­let­zun­gen geht auch an der Psy­che nicht spur­los vor­bei. Das gilt nicht nur für das Unfal­lopfer, son­dern auch für Zeu­gen und Ers­thelfende, die sich um bewusst­lose, schreiende, blu­tende oder eingek­lemmte Mitar­bei­t­ende küm­mern. Bei manchen Unfällen und gesund­heitlichen Not­fällen wie einem Herzver­sagen am Arbeit­splatz, aber auch bei Naturkatas­tro­phen – etwa in Form von Sturm, Hochwass­er oder Law­inen – kommt die Kon­fronta­tion mit dem Tod hinzu. In eini­gen Berufen sehen sich die Beschäftigten zudem häu­figer mit Suiziden kon­fron­tiert, darunter Lok­führende, Polizistin­nen und Polizis­ten sowie Mitar­bei­t­ende im Jus­tizvol­lzug. Auf der­ar­tige psy­chis­che Not­fälle gilt es, vor­bere­it­et zu sein. 

Plötzliche Gewaltausbrüche

Eine weit­ere Ursache seel­is­ch­er Erschüt­terun­gen sind Gewal­ter­fahrun­gen, ob physis­ch­er, psy­chis­ch­er oder ver­baler Natur. Physis­che Gewalt kann sich gegen Ein­rich­tungs­ge­gen­stände richt­en und zu Sachbeschädi­gun­gen oder Van­dal­is­mus führen. Sie kann sich zudem an Per­so­n­en entzün­den und ent­laden. Das reicht vom Anspuck­en oder Begrap­schen bis zum Schla­gen und Bedro­hen mit Waf­fenge­walt. Aggres­sio­nen kön­nen von betrieb­s­frem­den Per­so­n­en aus­ge­hen, aber auch von Klien­ten, Patien­ten, Besuch­ern sowie Kol­le­gen. Das Erleben hat – unab­hängig von einem kör­per­lichen Kon­takt oder gar Schaden – stets auch eine psy­chis­che Kom­po­nente. Auch ver­bale Gewalt in Form von Beschimp­fun­gen, Belei­di­gun­gen oder Bedro­hun­gen erleben wir als aggres­siv­en Angriff auf die eigene Per­son. All diesen Sit­u­a­tio­nen und Zwis­chen­fällen ist gemein­sam, dass sie – im Gegen­satz zu anderen psy­chis­chen Fehlbe­las­tun­gen etwa durch Mob­bing oder Burnout – plöt­zlich und uner­wartet ein­treten. Ger­ade dieses Gefühl, schla­gar­tig ein­er neuen und bedrohlichen Sit­u­a­tion aus­geliefert zu sein, kann extrem belasten.

Wer ist besonders gefährdet?

Mit einem Arbeits- oder Wege­un­fall ist branchenüber­greifend fast jed­er im Lauf seines Beruf­slebens irgend­wann kon­fron­tiert. Durch Gewal­tereignisse beson­ders gefährdet sind Mitar­bei­t­ende von Geldin­sti­tuten, Juwe­liergeschäften, Tankstellen, Apotheken, Einzel­han­dels­be­trieben, Wach- und Sicher­heits­di­en­sten oder Tax­i­un­ternehmen. Auch im Gesund­heitswe­sen, in Heimen, Sozial­sta­tio­nen und Behin­dertenein­rich­tun­gen kann es zu anges­pan­nten Sit­u­a­tio­nen, Gewalt und Aggres­sion kom­men. Eben­falls gefährdet sind Beschäftigte in öffentlichen Ver­wal­tungs­bere­ichen mit Bürg­erkon­tak­ten wie Sozial‑, Jugend- und Ord­nungsämter. Dazu kommt die erschreck­ende Entwick­lung, dass immer häu­figer auch die Ein­satzkräfte von Polizei, Ret­tungs­di­en­sten, Frei­williger oder Berufs­feuer­wehren von ver­balen und kör­per­lichen Bedro­hun­gen bericht­en. Das reicht von Belei­di­gun­gen und Bespuck­en bis zu tätlichen Angrif­f­en. Laut ein­er von der DGUV im Feb­ru­ar 2022 veröf­fentlicht­en Umfrage der Feuer­wehr-Unfal­lka­sse Nieder­sach­sen haben mehr als ein Drit­tel der Feuer­wehrleute bere­its Gewalt erlebt.

Psychologie der Unfallbewältigung

Ob Unfall oder Über­fall – an die Gren­zen der eige­nen Belast­barkeit geführt zu wer­den, ist ein ein­schnei­den­des Ereig­nis, auf das Kör­p­er und Psy­che reagieren. Typ­is­che Symp­tome eines Schock­zu­s­tands kurz nach Erleben ein­er Extrem­si­t­u­a­tion sind:

  • Herzk­lopfen, Zit­tern, Weinen, Atem­not, Ner­vosität und Schweißaus­brüche, aber auch kör­per­liche Unruhe oder Apathie
  • Gefüh­le der Hil­f­s­losigkeit, Ohn­macht, Verun­sicherung, Entset­zen, des Ausgeliefertseins
  • ein Tun­nel­blick, in dem die Emo­tio­nen der Extrem­si­t­u­a­tion immer wiederkehren, ohne dass man die Gesamt­si­t­u­a­tion wahrnimmt
  • ein Black­out, Gedächt­nisver­lust oder „Film­riss“ bis zur Amne­sie, dem total­en Vergessen

Dazu kön­nen je nach Sit­u­a­tion Scham, Gewis­sens­bisse, Selb­stvor­würfe und Schuldzuweisun­gen kom­men, zum Beispiel wenn eigenes Fehlver­hal­ten mitursäch­lich für den schlim­men Vor­fall war.

Als normale Reaktionen verstehen

Wichtig zum Ver­ständ­nis ist, dass all diese Symp­tome völ­lig nor­male Reak­tio­nen von Kör­p­er und Psy­che sind. Sie kön­nen bei jedem gesun­den Men­schen auftreten, Inten­sität und Dauer sind jedoch indi­vidu­ell sehr ver­schieden. Nicht jede seel­isch belas­tende Sit­u­a­tion wirkt auf jeden Men­schen gle­icher­maßen trau­ma­tisierend und jed­er Men­sch reagiert in solchen Sit­u­a­tio­nen anders. Das reicht von hek­tis­ch­er Über­ak­tiv­ität bis zur Apathie und kann auch zwis­chen diesen Extremen schwanken. Entschei­dend ist nicht die Schwere des Vor­falls, son­dern das sub­jek­tive Empfind­en und Erleben des Einzelnen.

Auch „harte Kerle“ brauchen Abstand

Aus Sicht von Vorge­set­zten und Kol­le­gen ist es wichtig, dass Betrof­fene nach psy­chis­chen Not­fällen auf keinen Fall mit ein­er gefährlichen Arbeit fort­fahren soll­ten, auch wenn sie als „harte Ker­le“ gel­ten und keine äußeren Anze­ichen eines Schocks zeigen. Denn in der Schock­phase steigt das Unfall­risiko. Nicht sel­ten irren zum Beispiel Zeu­gen eines Verkehrsun­falls anschließend kopf­los über die Straße und brin­gen sich eben­falls in Gefahr. Gefährliche Tätigkeit­en oder Maschi­nen soll­ten daher stets gestoppt wer­den, wenn sich in der Nähe ein Zwis­chen­fall ereignet hat.

Genügen die Selbstheilungskräfte nach psychischen Notfällen?

Betrof­fene soll­ten wis­sen, dass Schocksymp­tome nor­male Kör­per­reak­tio­nen sind und meist nach weni­gen Tagen oder Wochen wieder abklin­gen. Mith­il­fe der Selb­s­theilungskräfte und auf Basis der indi­vidu­ellen Resilienz gelingt es in den meis­ten Fällen von selb­st, einen inneren Abstand zum Erleben zu gewin­nen und die psy­chis­che Sta­bil­ität wiederzufind­en. Ob dies der Fall ist oder ob Betrof­fene eine Beratung oder Ther­a­pie benöti­gen, lässt sich jedoch kaum vorhersehen.

Heilt die psy­chis­che Ver­let­zung nicht von selb­st, dro­ht eine Post­trau­ma­tis­che Belas­tungsstörung (PTBS). Wenn Anspan­nung, Schreck­haftigkeit, Angstzustände oder Schlaf­störun­gen sich auch nach Wochen nicht leg­en, ist spätestens jet­zt pro­fes­sionelle Hil­fe gefragt, bevor ein Lei­den chro­nisch wird. Als ein typ­is­ches Symp­tom ein­er PTBS gel­ten zum Beispiel Flash­backs. Das sind plöt­zliche, etwa durch Geräusche oder Gerüche her­vorgerufene Erin­nerun­gen, sodass betrof­fene Per­so­n­en das Gefühl haben, die schlim­men Szenen nie mehr loszuw­er­den. Typ­isch ist auch ein Ver­mei­dungsver­hal­ten, bei dem die Betrof­fe­nen allen Sit­u­a­tio­nen aus dem Weg gehen, die eine Erin­nerung an das Trau­ma wachrufen könnten.

Chronifizierung vermeiden

Ein unbe­wältigtes Extremereig­nis kann zu großem per­sön­lichen Leid führen und eine Störung chronifizieren. Eine solche PTBS kann mit ein­er Sucht­prob­lematik, Per­sön­lichkeitsverän­derun­gen und Suizidgedanken ein­herge­hen oder diese Ten­den­zen ver­stärken. Aus Sicht des Arbeit­ge­bers dro­ht nach psy­chis­chen Not­fällen ein möglicher­weise langer Aus­fall der betrof­fe­nen Per­son – oder gar der Ver­lust ein­er bewährten Kol­le­gin oder eines bewährten Kol­le­gen durch dauer­hafte Arbeits- und Erwerb­sun­fähigkeit. Eine psy­chol­o­gis­che Erst­be­treu­ung vor Ort sowie eine fachkom­pe­tente Soforthil­fe kön­nen dem vorbeugen.


Schock, Trauma, PTBS

Schock, Trau­ma, PTBS – was ver­birgt sich hin­ter diesen Begrif­f­en, die nicht sel­ten durcheinan­dergewür­felt wer­den? Die akute Belas­tung in ein­er Extrem­si­t­u­a­tion sollte in jedem Fall von ein­er möglicher­weise daraus entste­hen­den Erkrankung unter­schieden werden.

  • Schock ist die akute psy­chis­che Belas­tungsreak­tion nach einen Extremereig­nis. Die akute Schock­phase kann nach eini­gen Minuten vor­bei sein, Schocksymp­tome wie Angst, Rück­zug, Apathie, Hek­tik oder Des­ori­en­tierung kön­nen jedoch auch über Stun­den oder Tage andauern. All diese Belas­tungsreak­tio­nen wie auch Tun­nel­blick oder Black­out sind Schutzreak­tio­nen unseres Gehirns. Ein Schock ist daher keine Krankheit!
  • Trau­ma meint zum einen die Aus­nahme­si­t­u­a­tion mit beziehungsweise nach ein­er starken psy­chis­chen Erschüt­terung, zum anderen die dadurch aus­gelöste psy­chis­che Ver­let­zung (Psy­chotrau­ma).
  • PTBS (Post­trau­ma­tis­che Belas­tungsstörung) ist ein Sam­mel­be­griff für verzögerte oder lan­gan­hal­tende Reak­tio­nen auf belas­tende Ereignisse. Solche Spät­fol­gen sind eine ern­stzunehmende Erkrankung, die unbe­han­delt chro­nisch wer­den kann und unbe­d­ingt in die Obhut pro­fes­sioneller Begleitung gehört.

Achtung: Medi­zin­er ver­wen­den diese Begriffe oft anders als Psy­cholo­gen. Ein Arzt oder Notarzt beze­ich­net auch eine lebens­ge­fährliche Kreis­lauf­störung mit man­gel­nder Sauer­stof­fver­sorgung als Schock und eine kör­per­liche Ver­let­zung durch Gewal­tein­wirkung als Trau­ma. Man sollte daher stets auf den Kon­text acht­en und wis­sen, über was man spricht.


Lesen Sie zu diesem The­ma auch: 

Akutes Han­deln nach belas­ten­den Ereignissen

Vor­bere­it­et sein – auch auf Unvorhersehbares


Dr. Friedhelm Kring
Dr. Fried­helm Kring; Foto: privat

Autor:
Dr. Fried­helm Kring
Freier Jour­nal­ist, Redak­teur und Referent

 

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