Sprache als Spiegel der Gesellschaft zeigt, wie über Rollen und Funktionen gedacht, welchen Stellenwert oder welches Ansehen Personen haben und was man ihnen zutraut. Die deutsche Sprache hat viele Möglichkeiten, präzise auszudrücken, was gesagt werden soll. Doch wenn Vertrautes aus der Sprache verschwindet oder wenn „wörtlich“ mit einer Tradition gebrochen wird, tun wir uns schwer, wie die folgenden Beispiele zum Gendern zeigen.
Trennungsschmerz beim „Fräulein“
Im Jahr 1972 verfügte das deutsche Bundesinnenministerium, dass in Bundesbehörden bei der Anrede erwachsener weiblicher Personen statt „Fräulein“ nun „Frau“ zu verwenden sei. Einige ältere, unverheiratete Frauen legten allerdings weiterhin Wert auf die Anrede Fräulein. Junge Frauen dagegen empörten sich immer öfter, wenn man sie so ansprach. Vor allem wenn sie eine Familie mit Kindern hatten, was damals zunehmend ohne Trauschein der Fall war. Eine Weile gab’s dann das „Fräulein“ noch im Café, bis sich das neutrale Wort „Bedienung“ durchgesetzt hatte.
Reform stieß auf Gegenwehr
Bei der Umstellung von „daß“ zu „dass“ taten sich selbst renommierte Schriftsteller und bekannte Zeitungen schwer. Günter Grass und Loriot verfügten zum Beispiel, dass ihre Werke auch künftig nach traditionellen Regeln gedruckt werden. Und die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), der Spiegel sowie die Zeitungen des Axel-Springer-Verlags, darunter Bild, kehrten kurz nach der Reform zur alten Rechtschreibung zurück. Doch 2006 verließen die drei Verlage ihren Sonderweg, da in den Schulen eine andere Rechtschreibung gelehrt wurde, als in ihren Zeitungen zu lesen war. Außerdem war die Reform noch einmal reformiert und dadurch die Regeln vereinfacht worden.
Bundespräsident gendert
Auch Politiker reden gemäß ihrer Zeit. 1952 sprach Bundespräsident Theodor Heuss in seiner Neujahrsansprache die Bevölkerung als „Deutsche“ an. Spätere Bundespräsidenten wählten die Anrede „Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger“ oder „Liebe Landsleute“. Bei der Weihnachtsansprache 2016 genderte Bundespräsident Joachim Gauck offensiv. Er begann seine Rede mit „Guten Abend“ und verwendete im Weiteren mal die weibliche Form wie Kindergärtnerinnen und Soldatinnen, mal die männliche wie Lehrer und Polizisten. Sonst sprach er von Menschen und Mitmenschen.
Soldatinnen im Einsatz
In den vergangenen Jahren waren es überwiegend Frauen, die sich dafür eingesetzt haben, dass Frauen in der deutschen Sprache „sichtbar“ werden. Das verwundert wenig, da Männer ja bereits immer genannt sind. Im Deutschen ist es jedoch möglich, weibliche Wortformen zu bilden, wie das zum Beispiel die Bundeswehr macht, seitdem Frauen nicht mehr nur im Sanitätsdienst tätig sind. Mittlerweile sind Soldatinnen „in fast jedem Bereich der ehemaligen Männerdomäne“ angekommen, wie die Bundeswehr auf ihrer Internetseite schreibt. Und so finden sich dort unter anderem die Bezeichnungen Boots- oder Panzerkommandantin, die Ärztin oder die IT-Informationstechnik-Spezialistin.
Wort des Jahres: Bundeskanzlerin
Ein prominentes Beispiel, wie und warum sich Sprache immer wieder wandelt, ist Angela Merkel. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde in Deutschland eine Regierung unter weiblicher Führung immer denkbarer. Und so wurde 2004 die Anrede „Frau Bundeskanzlerin“ in den Duden aufgenommen. Im darauffolgenden Jahr wurde Merkel Bundeskanzlerkandidatin und nach der Wahl Bundeskanzlerin. Noch im gleichen Jahr kürte die Gesellschaft für deutsche Sprache das Wort „Bundeskanzlerin“ zum Wort des Jahres. An das „in“ hinter dem Bundeskanzler haben sich alle schnell gewöhnt.
Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Einführung eines dritten Geschlechtseintrags 2017 wollen nun auch die Menschen sprachlich „sichtbar“ werden, die sich keinem der beiden Geschlechter zugehörig fühlen, weil sie nicht-binär, transgender, und intergeschlechtlich sind. Und nein, es geht nicht darum, statt „Mann, oh Mann“ in Zukunft „Frau, oh Frau“ oder „Divers, oh Divers“ zu rufen. Andererseits, warum nicht?
Spielerischer Umgang mit Sprache
Die wenigsten haben Germanistik oder Sprachwissenschaften studiert. Deshalb sind Diskussionen wie etwa über das generische Maskulin für viele unverständlich. Womöglich sollte man Sprache weniger wissenschaftlich betrachten und eher spielerisch damit umgehen. Vielleicht dürfen wir mutig etwas Neues ausprobieren. Und ja, es wird eine Weile dauern, bis es sich „normal“ anfühlt und selbstverständlich ist. Beim Verschwinden von „Fräulein“ und „daß“ war das genauso. Sprache spiegelt die Gesellschaft wider. Ungewohnte Formulierungen regen zur Diskussion an, doch bis sich die Realität verändert, kann es dauern. So gibt es beispielsweise die Romantitel „Päpstin“ und „Kardinälin“. Doch in der Wirklichkeit sind diese Ämter und Titel wie eh und je Männern vorbehalten. Und so ist das auch beim Kölner Dreigestirn. Der Prinz? Immer ein Mann. Der Bauer? Ebenso. Und selbst die Jungfrau – außer 1938 und 1939 – immer ein Mann, da der Kölner Karneval früher eine reine Männergesellschaft war. Und so ist das Dreigestirn in der Stadt, die immer und überall für Toleranz und Vielfalt wirbt, auch 2022 ausschließlich männlich.
Jede:r ist gemeint beim Gendern
Sprache hat in den vergangenen Jahren auch durch die Digitalisierung Veränderung erfahren. In sozialen Medien wird zum Beispiel wenig Wert auf korrekte Grammatik oder Groß- und Kleinschreibung gelegt. Wörter, ja ganze Redewendungen werden durch Abkürzungen oder Emojis ersetzt. Bilder in allen Formen spielen eine große Rolle.
Hier zeigt sich, dass Gendern über die geschriebene oder gesprochene Sprache und über männlich, weiblich, divers hinausgeht. Wer Vielfalt leben will, muss in allen Bereichen Vielfalt zulassen und sichtbar machen. Letztlich geht es um die Vielfalt aller Menschen: groß, klein, dick, dünn, blond, grau, mit asiatischen Wurzeln, sportlich, gehandicapt, jung, alt … Es geht um alle. Ja, jeder ist gemeint. Jeder – was für ein tolles Wort: Es hat die weibliche Form gleich mit drin und mit zwei Punkten meint es wirklich jede:n. So einfach kann es sein!
Unterschied zwischen männlich und maskulin
Die meisten Sprachen kennen bei Lebewesen ein biologisches Geschlecht, zwei werden benannt: der Mann, die Frau, der Stier, die Kuh. Bei vielen Sprachen gibt es zudem ein grammatikalisches Geschlecht – Genus genannt – das ebenfalls bei Lebewesen Anwendung findet. Im Deutschen sind das „der, die, das“. Im Französischen gibt es nur „le, la“. Das Englische unterscheidet ebenso wie das Chinesische gar kein Genus. So heißt es zum Beispiel im Deutschen „der Arbeiternehmer“, „die Arbeitnehmerin“, „das kleine Kind“, im Französischen „le travailleur“, „la travailleuse“, „le petit enfant“ und im Englischen immer „the employee“, „the employee“ sowie „the child“.
Das Genus wird aber auch bei Nicht-Lebewesen benutzt. So heißt es im Deutschen „der Tisch“, im Französischen dagegen „la (= die) table“. Ein Tisch ist also nicht „männlich“, sondern „maskulin“, so die grammatikalische Bezeichnung. Man spricht auch vom generischen Maskulin. Das generische Maskulin steht nicht für „Männer“ oder „männlich“, sondern ist eine grammatikalische Form, die geschlechtsneutral gemeint ist. Es gibt im Deutschen auch Beispiele für ein generisches Feminin sowie Neutrum, das mit dem natürlichen Geschlecht nicht übereinstimmt: die Drohne (= männliche Biene), das Huhn (= weiblicher Vogel). Allerdings ist in diesen Fällen das jeweils andere biologische Geschlecht nicht automatisch mitgemeint. Für das generische Maskulin wird jedoch gerne eine Geschlechtsneutralität angeführt.
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Autorin:
Bettina Brucker
Freie Autorin und Journalistin