Die Bau- und Landwirtschaft gehören zu den Branchen, in denen regelmäßig mit schweren Maschinen gearbeitet wird. In beiden kommt es auch gehäuft zu Unfällen: Mit 48,5 meldepflichtigen Arbeitsunfällen pro 1.000 Vollarbeitenden belegte der Bereich Landwirtschaft, Forst und Gartenbau in der Unfallstatistik 2020 den traurigen zweiten Platz nach der Baubranche.
Die Ursachen dafür sind ebenso vielfältig, wie die durchgeführten Arbeiten und die dafür eingesetzten Arbeitsmittel. Zudem werden selbst die einfachsten Grundregeln zum sicheren Umgang mit Werkzeugen und Maschinen nicht immer eingehalten – darunter die Vorgabe, dass nur an stillgesetzten Geräten Wartungs- und Reparaturarbeiten zur Fehlerbeseitigung vorzunehmen sind.
Warum diese Regel missachtet wird – darüber kann viel spekuliert werden. Die Gründe reichen von Zeitdruck über Unwissenheit bis hin zur weitverbreiteten Annahme: „Beim letzten Mal haben wir es auch so gemacht. Das wird schon gut gehen.“
Blockierte Förderschnecke führt zu einem Unfall mit einem Düngerstreuer
Wozu diese nachlässige Einstellung führen kann, zeigt der nachfolgende Unfall mit einem Düngerstreuer. Dieser basiert auf einem tatsächlichen Ereignis, wird hier aber frei nacherzählt. Die Schlussfolgerungen sollen eine Hilfestellung zur Vermeidung künftiger Unfälle geben.
Ein Beschäftigter eines landwirtschaftlichen Betriebs sollte mit einem an einem Traktor angebauten Düngerstreuer mit Hydraulikantrieb Dünger ausbringen. Dazu befüllte er auf dem Betriebshof das Gerät mit pulverförmigem Dünger und fuhr auf das Feld, um dort seine Arbeit durchzuführen. Nach der Rückkehr auf den Betriebshof musste der Düngerstreuer gereinigt und für den nächsten Einsatz vorbereitet werden. Die Reinigung erfolgte mittels Hochdruckreiniger. Dabei bemerkte der Beschäftigte, dass die Förderschnecke im Düngerstreuer nicht richtig förderte. Um dies zu kontrollieren, demontierte er ein Abdeckgitter und sah, dass sich dort ein fester Gegenstand verklemmt hatte.
Um diesen zu entfernen, griff er mit der rechten Hand in den Förderschneckenraum und löste den Gegenstand. In diesem Augenblick lief die Förderschnecke wieder an und verletzte den Beschäftigten schwer an der Hand und am Unterarm. Dabei wurden die Muskeln, Sehnen und Blutgefäße des Unterarms zerschnitten. In der Unfallklinik konnten die herausgetrennten Muskeln und Sehnen transplantiert und auch die Funktionsfähigkeit des Arms und der Hand in Teilen wiederhergestellt werden. Die volle Funktionsfähigkeit wurde aber nicht mehr erreicht.
Deutlicher Warnhinweis am Gerät
Wie kommt es zu so einem Unfall? Eine Antwort lässt sich in der Regel nur schwer finden, weil auch die Verunfallten diese Frage meist nicht eindeutig beantworten können. Bei ihrer Unfalluntersuchung ermittelte die zuständige staatliche Aufsichtsbehörde zum einen, dass der Düngerstreuer als Arbeitsmittel über eine CE-Kennzeichnung verfügte. Die notwendigen Schutzabdeckungen, die gleichzeitig als Einfüllsiebe fungierten, waren zwar vorhanden, wurden aber teilweise demontiert. Zudem befand sich an dem Gerät der Warnhinweis „ACHTUNG! GEFÄHRLICHE FÖRDERSCHNECKE! Es ist untersagt, das Einfüllsieb zu entfernen, bevor die Hydraulikanlage und der Schlepper abgestellt sind. Zündschlüssel abziehen! Die Förderschnecke schaltet sich automatisch ein!“ Damit waren die wichtigsten Verhaltensregeln auch noch einmal am Gerät dargestellt.
Gefährdungsbeurteilung geprüft
Die Unfalluntersuchung ergab zudem, dass eine Gefährdungsbeurteilung für die Arbeit mit dem Düngerstreuer vorlag, in dieser allerdings der Punkt „Verhalten bei Störungen“ nicht betrachtet worden war. In der in der Werkstatt vorliegenden Betriebsanweisung nach § 12 Abs. 2 BetrSichV war unter Schutzmaßnahmen der Text des oben genannten Warnhinweises zum Thema „Verhalten bei Störungen und Instandsetzungen“ aufgenommen worden. Gemäß der vom Unternehmen vorgelegten Dokumentation war diese Betriebsanweisung auch Bestandteil der regelmäßig durchgeführten Unterweisungen. Damit waren wesentliche Teile des organisatorischen Arbeitsschutzes erfüllt.
Schutzabdeckung leicht zu entfernen
Die genauere Untersuchung des Anbaudüngerstreuers zeigte aber, dass sich die als Schutzabdeckung für die Förderschnecke verwendeten Einfüllsiebe einfach und ohne Hilfe von Werkzeug entfernen ließen und es keine Sicherung gegen den Anlauf der Förderschnecke bei ausgehobenen Einfüllsieben gab – außer dem bereits genannten Warnhinweis. Auch die Bedienungsanleitung des Herstellers wiederholte im Punkt Sicherheitshinweise nur den Text des Warnhinweises.
Warnhinweis nicht verinnerlicht
Der Verunfallte gab an, dass er zwar den Traktor geparkt, aber den Motor nicht abgestellt hatte. Somit war die Hydraulikanlage des Anbaustreuers weiter unter Druck und die Förderschnecke konnte nach dem Beseitigen der Blockade wieder anlaufen. Den Warnhinweis kannte er, hatte ihn aber offensichtlich nicht als Verhaltensanforderung verinnerlicht.
War dieser Unfall mit einem Düngerstreuer zu verhindern?
Die Betriebssicherheitsverordnung besagt in § 9 Abs 6 Satz 1: „Kraftbetriebene Arbeitsmittel müssen mit einer schnell erreichbaren und auffällig gekennzeichneten Notbefehlseinrichtung zum sicheren Stillsetzen des gesamten Arbeitsmittels ausgerüstet sein, mit der Gefahr bringende Bewegungen oder Prozesse ohne zusätzliche Gefährdungen unverzüglich stillgesetzt werden können.“ Solch eine Notbefehlseinrichtung war am Düngerstreuer nicht vorhanden. In § 10 Absatz 3 Nummer BetrSichV heißt es: „Der Arbeitgeber hat alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit Instandhaltungsarbeiten sicher durchgeführt werden können. Dabei hat er insbesondere …
6. Gefährdungen durch bewegte oder angehobene Arbeitsmittel oder deren Teile sowie durch gefährliche Energien oder Stoffe zu vermeiden,
7. dafür zu sorgen, dass Einrichtungen vorhanden sind, mit denen Energien beseitigt werden können, die nach einer Trennung des instand zu haltenden Arbeitsmittels von Energiequellen noch gespeichert sind; diese Einrichtungen sind entsprechend zu kennzeichnen …“
Und Absatz 4 Satz 1 lautet: „Werden bei Instandhaltungsmaßnahmen an Arbeitsmitteln die für den Normalbetrieb getroffenen technischen Schutzmaßnahmen ganz oder teilweise außer Betrieb gesetzt oder müssen solche Arbeiten unter Gefährdung durch Energie durchgeführt werden, so ist die Sicherheit der Beschäftigten während der Dauer dieser Arbeiten durch andere geeignete Maßnahmen zu gewährleisten.“
Somit hätte die Beseitigung der Störung nur bei vom Traktorantrieb abgekoppelten und entspannten Hydraulikantrieb vorgenommen werden dürfen. Das war aber dem Beschäftigten so eindeutig nicht bekannt. Aus Sicht des Autors hätte auch der Hersteller des Geräts einen solchen Unfall verhindern können, indem für die Demontage der Einfüllsiebe Werkzeug erforderlich wäre und es zusätzlich eine Sicherung der Förderschnecke gegen Wiederanlaufen bei demontierten Einfüllsieben geben würde.
Das hier beschriebene Unfallbeispiel zeigt deutlich, dass es zwischen den rechtlichen Vorgaben für die Hersteller von Arbeitsmitteln wie der EU-Maschinenrichtlinie und dem Produktsicherheitsgesetz und den Regelungen für die Anwender, hier der Betriebssicherheitsverordnung, sehr viel Spielraum gibt. Es reicht nicht, wenn dem Anwender eines Arbeitsmittels in einer Rechtsverordnung Pflichten zugewiesen werden, die er nur sehr bedingt mit organisatorischen und personellen Schutzmaßnahmen erfüllen kann, weil die vom Hersteller einzubauenden technischen Sicherheitseinrichtungen nicht bereitgestellt wurden. Nicht umsonst besagt das „TOP-Prinzip“ der Arbeitssicherheit, dass technische Schutzmaßnahmen die höchste Sicherheitsstufe bilden. Warnhinweise sind gut und richtig, aber allein vermeiden sie keine Unfälle.
Autor:
Dipl.-Ing. Ulf‑J. Schappmann
Sicherheitsingenieur VDSI
SIMEBU Thüringen GmbH