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4000 Jahre Betriebssicherheit

Endpunkt eines Denkens, das im vorderen Orient seinen Anfang nahm
4000 Jahre Betriebssicherheit — älter als gedacht

Dr. Gerald Schneider
„Wenn du ein neues Haus baust, so sollst du an deinem Dach eine Brust­wehr machen, so dass du in deinem Haus keinen Totschlag begehst, wenn ein­er, der von ihm herun­ter­fällt, umkommt.“ Diese gern zitierte Stelle aus dem Alten Tes­ta­ment wird oft als erste Arbeitss­chutzvorschrift dargestellt. Genau genom­men han­delt es sich aber um eine Verkehrssicherungspflicht und zeigt, dass bere­its in der Antike entsprechende Rechtsvorstel­lun­gen existierten.

Die Betrieb­ssicher­heitsverord­nung, das Pro­duk­t­sicher­heits­ge­setz aber auch z.B. die Lan­des­bauord­nun­gen regeln, dass von Arbeitsmit­teln, Anla­gen, Pro­duk­ten, Gebäu­den etc. keine Gefahren für Nutzer oder Dritte aus­ge­hen. Dabei han­delt es sich um Spez­i­fika­tio­nen des Prinzips der Verkehrssicherungspflicht, wobei der­jenige, der eine Gefahren­quelle schafft oder unter­hält, notwendi­ge und zumut­bare Vorkehrun­gen zu tre­f­fen hat, um Schä­den ander­er zu verhindern.
 
Diese Regelun­gen sind der End­punkt eines Denkens, das im vorderen Ori­ent seinen Anfang nahm. Sowohl heute als auch in der Antike ste­ht dabei der Betreiber beson­ders in der Ver­ant­wor­tung. Dies ist diejenige juris­tis­che oder natür­liche Per­son, die die tat­säch­liche Sach­herrschaft über eine Sache hat und daher die Verkehrssicherungspflicht­en zu gewährleis­ten hat.
 
Unter diesem Blick­winkel wollen wir nun ver­reisen: 4000 Jahre in die Ver­gan­gen­heit und rund 4000 km nach Südosten.

Mesopotamien: Codex Hammurabi

Mit dem Auf­blühen der Zivil­i­sa­tio­nen an Euphrat und Tigris im 3. Jahrtausend v. Chr. entwick­elte sich auch das Rechtssys­tem. Aus dieser ganz frühen Zeit fehlen uns allerd­ings die entsprechen­den Funde, so dass wir nicht sin­nvoll über die konkreten Inhalte informiert sind. Auch die Anord­nun­gen des „Reformkönigs“ Uruk­agin­ga von Lagasch (ca. 2370 v. Chr.) sind uns nur durch Dritte ansatzweise über­liefert – und spie­len für unsere Fragestel­lung keine Rolle. Erst ab ca. 2000 v. Chr. wur­den entsprechende, in Keilschrift ver­fasste Doku­mente als Primärquellen gefunden.
 
Unter den frühen Geset­zes­samm­lun­gen ragt die des baby­lonis­chen Königs Ham­mura­bi (etwa 1700 v. Chr.)1 beson­ders her­vor. Sie ent­stand gegen Ende der Herrschaft des Königs und ist mithin an die 4000 Jahre alt. Die Samm­lung ist uns auf ein­er über­mannshohen Stele über­liefert, die neben ein­er bildlichen Darstel­lung des Königs und des Gottes Scham­asch über und über mit Keilschrift­tex­ten verse­hen ist.
Die Auswer­tung und Über­set­zung hat ergeben, dass neben einem Pro- und einem Epi­log zu Größe und Weisheit des Königs ins­ge­samt 282 Rechtsvorschriften fest­ge­hal­ten sind, die einen weit­en Bere­ich des dama­li­gen täglichen Lebens umfassten. Das reicht von Strafvorschriften für Tötung und Raub, Ehe- und Besitzan­gele­gen­heit­en bis hin zu Ersat­zleis­tun­gen bei Fahrlässigkeit.
 
Einige dieser Vorschriften sind nur noch Fach­leuten ver­ständlich, andere dage­gen wirken hochak­tuell. So befassen sich allein neun „Para­grafen“ mit Ersat­zleis­tun­gen für ärztliche Kun­st­fehler und diverse Para­grafen zum Bau von Häusern und Schif­f­en regeln in sehr ähn­lich­er Weise wie heute Pflicht­en zur Nachbesserung bzw. Nacherfüllung.
 
Für unsere Fragestel­lung sind ins­beson­dere die Para­grafen 53 und 552 von Interesse:
  • § 53: „Wenn ein Bürg­er bei der Befes­ti­gung seines Feld­de­ich­es die Hände in den Schoß gelegt und seinen Deich nicht befes­tigt hat, in seinem Deiche eine Öff­nung entste­ht, er gar die Flur vom Wass­er wegschwem­men lässt, so erset­zt der Bürger…das Getrei­de, das er dadurch ver­nichtet hat.“
  • § 55: „Wenn ein Bürg­er seinen Graben zur Bewässerung öffnet, die Hände dann aber in den Schoß gelegt und so sein Nach­bar­feld vom Wass­er hat fortschwem­men lassen, so gibt er Getrei­de entsprechend seinem Nachbargrundstück.“
Diese Regelun­gen beziehen sich auf die kün­stliche Bewässerung der Felder, die im vor­wiegend agrarischen Mesopotamien beson­ders in den trock­e­nen südlichen Teilen die Voraus­set­zung war, um reiche Ern­ten vom bis zum 30fachen der Aus­saat zu erzie­len (Abb. 1). Die Felder waren durch Dämme abge­gren­zt, so dass die Fluten aus den zuführen­den Kanälen gezielt auf die Felder geleit­et wer­den konnten.
Würde das Wass­er nun durch einen undicht­en oder gebroch­enen Deich aus dem Feld her­aus bzw. durch eine unzure­ichende Kanal­isierung auf Nach­bar­felder fließen, so war damit zu rech­nen, dass sowohl Saat als auch Bodenkrume weggeschwemmt wur­den. Den dadurch entste­hen­den Schaden bzw. Ern­teaus­fall hat­te der Bürg­er dem Besitzer des Feldes zu erstatten.
 
Anders als in der heuti­gen Nor­men­land­schaft sind im Codex Ham­mura­bi die Anforderun­gen nur indi­rekt aus den Rechtsvorschriften zu erschließen. Wir kön­nen aber feststellen:
  • Die Schaden­sreg­ulierung ist an ein Fehlver­hal­ten gebun­den, das einen Schaden bewirkt ( „Hände in den Schoß legen“)
  • Dies impliziert daher ein „Tätig-Wer­den“ zur Ver­mei­dung des Schadens
  • Die Vorschrift richtet sich nicht an den Eigen­tümer, son­dern an den­jeni­gen, der das Feld bebaut, denn die meis­ten Klein­bauern waren nicht Besitzer ihrer Felder son­dern Pächter oder Mietlinge von Groß­grundbe­sitzern oder gar dem königlich ver­wal­teten Land.
Damit erfüllt dieser Sachver­halt die Def­i­n­i­tion der Verkehrssicherung, denn hier gibt es einen Betreiber, der die Sach­herrschaft über eine Gefahren­quelle hat und daher pflichtwidrig han­delt, wenn er Sicherungs­maß­nah­men unterlässt.
 
Inter­es­san­ter­weise find­en wir eine ähn­liche, aber undif­feren­zierte Verpflich­tung im soge­nan­nten Codex Ur-Nam­mu. Er ist rund 300 Jahre älter (ca. 2000 v. Chr.) und die derzeit älteste Rechtssamm­lung, die wir besitzen. So heißt es als 32. Vorschrift: „Wenn jemand das Feld eines anderen über­schwemmt, soll er pro iku Feld drei kur Getrei­de geben.“3
 
Aus dieser For­mulierung wird nun aber nicht klar, ob hier ein Verse­hen, ein Unglück, ein Ver­säum­nis oder alles drei geah­n­det wurde. Dieses Beispiel zeigt sehr deut­lich, wie sich die Rechts­set­zung bis Ham­mura­bi durch Konkretisierun­gen verbessert hat.
 
Sehen wir uns dazu ein anderes Beispiel an, den § 267 des Codex Hammurabi:
  • „Wenn der Hirte säu­mig war und im Viehhofe eine Drehkrankheit hat entste­hen lassen, wird der Hirte den Schaden der Drehkrankheit, den er im Viehhofe hat entste­hen lassen, an den Rindern und dem Klein­vieh heilen, und gibt [die Tiere] deren Eigentümern.“
Hier wird offen­sichtlich eine beson­dere Sorgfalt­spflicht beim Betrieb eines Viehhofes angemah­nt. Möglicher­weise han­delt es sich dabei um bes­timmte Hygien­e­maß­nah­men. Da wir aber die „Drehkrankheit“ nicht ken­nen, kann das nur Ver­mu­tung bleiben.
 
Ähn­lich wie bei den Bewässerungs­däm­men ist der Hirt nicht der Eigen­tümer der Anlage (das geht aus § 266 her­vor), wohl hat er aber die Sach­herrschaft darüber. Damit ist er nach unser­er Def­i­n­i­tion ein Betreiber und hat die notwendi­ge Verkehrssicherungspflicht aufzuwen­den, um einen sicheren Betrieb des Hofes zu gewährleis­ten. Da so ein Hof auch als Anlage ver­standen wer­den darf, ist hier­mit auch die Betrieb­ssicher­heit im Sinne ein­er Spez­i­fizierung der all­ge­meinen Verkehrssicherung zu erfüllen.
 
Notwendi­ge Sorgfalt­spflicht­en gal­ten auch für die Erstel­lung von Gew­erken, denn „… Wenn [z.B.] ein Baumeis­ter einem Bürg­er ein Haus gebaut, aber seine Arbeit nicht fest genug aus­ge­führt hat und das Haus, das er gebaut hat, eingestürzt ist und er dadurch den Hau­seigen­tümer ums Leben gebracht hat, so wird dieser Baumeis­ter getötet“ (§ 229 u.a.).
 
Bei­de Beispiele zeigen deut­lich, dass die Gedankenkon­struk­tio­nen, die hin­ter unseren heuti­gen Verkehrs- und Betrieb­ssicherungspflicht­en ste­hen, bere­its zu Ham­mura­bis Zeit vorhan­den waren. Sie haben sich möglicher­weise zwis­chen 2000 und 1800 v. Chr. entwick­elt oder zumin­d­est konkretisiert, denn wed­er bei Ur-Nam­ma noch bei Lip­it-Ishtar (s.u.) find­en sich entsprechende Formulierungen.
 
Was ist nun aber in ein­er vor allem auf Land­wirtschaft basieren­den Zivil­i­sa­tion eigentlich mit Tieren, mit Vieh? Kann man dafür so etwas wie Betrieb­ssicher­heit oder Betreiberpflicht­en ein­fordern? Zumin­d­est wurde das damals so gese­hen. Rinder waren ein hohes Wirtschaftsgut, das sich wohl nicht jed­er leis­ten kon­nte, denn die Geset­zes­samm­lung des Lip­it-Ishtar (ca. 1950 v. Chr.)4 enthält allein vier Para­grafen zum Aus­gle­ich von Schäden/Verletzungen an aus­geliehenen (!) Rindern. Wofür wur­den sie aus­geliehen? Vielle­icht zur Zucht, wahrschein­lich aber eher für die Arbeit: Zum Ziehen des Pfluges oder von Kar­ren, zum Antrieb von Wasser­rädern oder Mahlw­erken, zum Dreschen des Getrei­des und so weit­er. Zum Teil erfüllen sie diese Funk­tion ja noch heute.
 
Da der Umgang mit diesen „Arbeitsmit­teln“ aber offen­sichtlich nicht ohne Risiko war, gal­ten entsprechende Sicherungspflicht­en. Dabei ist in den drei nach­fol­gen­den Beispie­len ins­beson­dere die Ken­nt­nis des „nicht ord­nungs­gemäßen Zus­tandes“ wichtig. Neben­bei: Hier find­en wir auch die ersten Zeug­nisse für jenen geistig-intellek­tuellen Prozess, den wir heute „Gefährdungs­beurteilung“ nennen.
Codex von Esch­nun­na (ca. 1850 v. Chr.):
  • „Wenn ein Rind stößig ist und die Bezirk­sautoritäten haben es seinem Eign­er bekan­nt gegeben, wenn er das Rind nicht sichert und es spießt einen Men­schen auf – Der Eign­er soll 2/3 Minen Sil­ber abwiegen.“ (§ 54)5
Codex Ham­mura­bi (ca. 1750 v. Chr.):
  • „Wenn das Rind des Bürg­ers stößig ist, als stößig es seine Behörde ihm bekan­nt gegeben [hat], er seine Hörn­er aber nicht ges­tutzt, sein Rind nicht fest­ge­bun­den hat, und dann dieses Rind einen Bürg­er­sohn gestoßen und dadurch ums Leben gebracht hat, so gibt er eine ½ Mine Sil­ber.“ (§ 251)
Tho­ra (ca. 750 v. Chr.):
  • „Wenn der Sti­er schon seit zwei oder drei Tagen stößig war und das seinem Her­ren gemeldet wurde und er ihn nicht ent­fer­nt hat und er einen Mann oder eine Frau getötet hat, so soll der Sti­er gesteinigt wer­den, und sein Herr soll auch ster­ben.“ (2. Mose 21, 29)6
Das let­zte Beispiel leit­et über zu ein­er anderen antiken Quelle des vorderen Ori­ents, der Thora.

Israel: Die Thora

Die Tho­ra, die „Büch­er der Weisung“, uns bess­er als die „Moses­büch­er“ oder der „Pen­ta­teuch“ bekan­nt, stellen einen Teil dessen dar, was wir Chris­ten heute als „Altes Tes­ta­ment“ beze­ich­nen. Die fünf Teile waren aber für die antiken Israeliten die ersten und einzi­gen Nor­men set­zen­den Heili­gen Schriften (Abb. 2). Deshalb soll hier nur dieser Begriff ver­wen­det wer­den, denn als die Tho­ra aufgeze­ich­net wurde, war an ein „Altes Tes­ta­ment“ noch lange nicht zu denken7.
 
Wann nun die Thora/der Pen­ta­teuch ent­standen ist, darüber stre­it­en die Gelehrten sehr eifrig und disku­tieren eine großzügige Spannbre­ite, die zwis­chen cir­ca 1000 und 400 v. Chr. liegt. Wie auch immer, die Tho­ra ist grob gerech­net rund 1000 Jahre jünger als der Codex Hammurabi.
 
Deshalb erstaunt die Ähn­lichkeit des eben gegeben Beispiels zwis­chen dem Codex von Esch­nun­na und dem Codex Ham­mura­bi nicht wirk­lich, wohl aber die fast gle­ich lau­t­ende Anweisung in der Thora.
 
Hat nun Ham­mura­bis Geset­zeswerk bei der Aus­for­mulierung weltlich­er Belange der Tho­ra Pate ges­tanden? Viele Ähn­lichkeit­en leg­en es nahe, aber nach einge­hen­den Prü­fun­gen sowie der archäol­o­gisch-his­torischen Analy­sen ist dies nicht der Fall.8 Vielmehr muss davon aus­ge­gan­gen wer­den, dass bei­de Doku­mente (und viele weit­ere) alt-vorderor­i­en­tal­is­che Recht­sprax­is beschreiben. Dabei scheint eine hohe zeitliche Kon­ti­nu­ität vorhan­den gewe­sen zu sein.
 
Aus dieser Sach­lage ergibt sich aber ein Vorteil: Wenn bei­de Doku­mente nicht voneinan­der abhängig sind, son­dern „nur“ die all­ge­meine Recht­sprax­is wider­spiegeln, sind sie stel­lvertre­tende Zeug­nisse und die jew­eili­gen Vorschriften dür­fen mit ein­er gewis­sen Vor­sicht als über­re­gion­al gültig ver­standen werden.
 
Daher dür­fen wir auch erwarten, dass z.B. im Umgang mit Zis­ter­nen oder Gruben ein über­re­gionaler alto­ri­en­tal­is­ch­er „com­mon sense“ herrschte:
  • „Wenn jemand eine Zis­terne offen ste­hen lässt oder eine Zis­terne aushebt und sie nicht zudeckt und es fällt ein Jungsti­er oder ein Esel hinein, so soll der Herr der Zis­terne dafür bezahlen.“ (2. Mose 21, 33 –34)
Hier wird also voraus­ge­set­zt, dass Gruben, Zis­ter­nen oder ähn­liche Anla­gen abgedeckt, also gegen Unfälle gesichert wer­den. Das gehört zu ein­er ordentlichen Betrieb­s­führung genau so wie diese auch für die bäuer­lichen Tätigkeit­en anzuwen­den ist, wenn z.B. Vieh zum Wei­den getrieben und dann – fahrläs­siger­weise – sich selb­st über­lassen wird:
  • „Wenn aber jemand ein Feld oder einen Wein­garten abwei­den lässt und er lässt sein Vieh ein anderes Feld abwei­den, so soll er dessen Ertrag von seinem Feld erset­zen.“ (2. Mose 22, 4)
 
In ähn­lich­er Weise wird bei der Benutzung von Feuer eine Art „Betrieb­ssicherungspflicht“ erwartet, denn:
  • „Wenn jemand Feuer macht und es erfasst eine Dor­nen­hecke und greift auf einen Gar­ben­haufen über oder es ver­nichtet ste­hen­des Getrei­de, dann muss er vollen Ersatz leis­ten.“ (2. Mose 22,5)
Pflicht­en bei der Erstel­lung von Gebäu­den wur­den ja schon ganz am Anfang dieses Artikels ange­sprochen. Trotz­dem sei das Zitat an dieser Stelle aus einem wichti­gen Grunde noch ein­mal gegeben:
  • „Wenn du ein neues Haus baust, so sollst du an deinem Dach eine Brust­wehr machen, so dass du in deinem Haus keinen Totschlag begehst, wenn ein­er, der von ihm herun­ter­fällt, umkommt.“ (5. Mose 22,8)
Was uns hier ent­ge­gen­tritt, ist ein völ­lig ander­er Aus­sagetyp. Die bish­er genan­nten Stellen sind ja Straf- und Aus­gle­ichsvorschriften, aus denen auf die Betreiberpflicht­en rück­geschlossen wer­den musste und auch konnte.
 
Hier jedoch wird diese Pflicht expres­sis ver­bis genan­nt. Das Gesetz sagt uns, was zu tun ist, ist nicht Strafan­dro­hung son­dern vor allem Hand­lungsrichtlin­ie. Das mod­erne Gegen­stück zu 5. Mose 22,8 klingt dann so:
  • „In, an und auf baulichen Anla­gen sind Flächen, die im All­ge­meinen zum Bege­hen bes­timmt sind und unmit­tel­bar an mehr als 1m tiefer liegende Flächen angren­zen, zu umwehren.“ (§ 41, Abs. 1 Lan­des­bauord­nung NRW) Nichts wirk­lich Neues also.
Die alten mesopotamis­chen Geset­ze waren kasu­is­tisch oder kon­di­tion­al for­muliert, was sich aus den ver­wen­de­ten „wenn …dann“-Konstruktionen ergibt. In der Tho­ra find­en wir dage­gen sowohl kasu­is­tis­che als auch apodik­tis­che Rechts­for­mulierun­gen. Let­ztere zeich­nen sich durch „Du sollst“-Formulierungen aus. Dabei kön­nen sie abstrakt („Du sollst nicht töten“) oder auch konkret sein („Du sollst eine Brust­wehr anbringen“).
 
Für die Prax­is gibt es bis heute das Zusam­men­spiel zwis­chen kasu­is­tis­ch­er und apodik­tis­ch­er Betra­ch­tung. Die apodik­tis­chen Aus­sagen enthal­ten näm­lich keine Strafvorschriften. Diese müssen kasu­is­tisch geregelt wer­den. Ein Blick z.B. auf die Betrieb­ssicher­heitsverord­nung gibt uns „apodik­tisch“ im § 14 zu ver­ste­hen, dass überwachungs­bedürftige Anla­gen geprüft wer­den müssen und weist uns kasu­is­tisch im § 25 auf die möglicher­weise entste­hende Ord­nungswidrigkeit hin.
 
Damit wird bere­its zu einem so frühen Zeit­punkt wie der Tho­raab­fas­sung das Präven­tion­sprinzip erkennbar, das apodik­tisch die Umset­zung von Lösungsvari­anten nach Stand der Tech­nik fordert. Diese und andere Stellen unter­schei­den sich von ihrem Charak­ter her nicht von DIN-Nor­men oder Tech­nis­chen Regeln.
 
Ger­adezu wie eine Tech­nis­che Regel muten daher die Anweisun­gen aus 3. Mose 14, 34ff darüber an, wie man „Aus­satz“ an Häusern behan­delt. Diese sehr lange Stelle ist insofern einzi­gar­tig, da sie mit hoher Wahrschein­lichkeit eine Schim­melpilzsanierung beschreibt, die in ihren Grundzü­gen mit heuti­gen Meth­o­d­en ver­gle­ich­bar ist: Befun­dauf­nahme, Sanierung der betrof­fe­nen Stellen, erneute Prü­fung auf Befall und im schlecht­esten Fall Abriss des ganzen Haus­es (Abb. 3). Der Priester erfüllt hier die Rolle des Sachver­ständi­gen oder der „Befähigten Person“.
Dies ist – so weit wir es hier überblick­en kön­nen – eine höhere Entwick­lungsstufe als sie noch bei Ham­mura­bi erkennbar war.

Zusammenfassung

Die hier gegeben Beispiele zeigen, dass der Gedanke ein­er Verkehrssicherungspflicht und der Betrieb­ssicher­heit im alten Ori­ent vor cir­ca 4000 Jahren ent­standen ist. Da sich die Vorschriften meist an die Per­so­n­en richt­en, die – wie wir heute sagen wür­den – die Sach­herrschaft innehat­ten, scheint es auch den Gedanken des Betreibers als den eigentlichen Ver­ant­wortlichen zur Umset­zung dieser Verkehrssicherungspflicht­en gegeben zu haben. Ob ähn­liche Vorstel­lun­gen auch im antiken Ägypten entwick­elt wur­den, kann auf­grund ungenü­gen­der Zeug­nisse nicht gesagt wer­den. Es scheint aber nicht der Fall zu sein.
 
Während dabei zunächst reak­tive For­mulierun­gen im Sinne von Strafvorschriften kod­i­fiziert wur­den, kom­men spätestens mit der Tho­ra pos­i­tive, hand­lungslei­t­ende Vorschriften mit präven­tivem Ansatz zum Tra­gen. Einige Stellen weisen hohe Ähn­lichkeit­en mit heuti­gen Regel­w­erken auf.
 
Dies soll nicht bedeuten, dass es in anderen alto­ri­en­tal­is­chen Tex­ten nicht vielle­icht auch entsprechende Anweisun­gen gibt. Durch die Tho­ra und dann auch als Bestandteil des christlichen Alten Tes­ta­ments haben sie jedoch schon früh eine weite Ver­bre­itung erfahren, während die alto­ri­en­tal­is­chen Doku­mente langsam im Sand ver­sanken und für min­destens 2000 Jahre der Lek­türe ent­zo­gen waren. Ob nun aber die alto­ri­en­tal­is­chen Vorstel­lun­gen die direk­ten Vor­läufer unser­er Recht­skon­struk­tio­nen sind oder ob sich diese Gedanken unab­hängig voneinan­der entwick­elt haben, ist dabei nicht von Belang.
 
Den­noch, wenn wir heute z.B. die Betrieb­ssicher­heitsverord­nung lesen, so schaut durch die Nebel der Ver­gan­gen­heit immer noch Ham­mura­bi zu uns Nachge­bore­nen hinüber, oder um es mit einem Wort von Dida­cus Stel­la aus dem 17. Jahrhun­dert zu sagen: „Pig­mei gigan­tum humeris imposi­ti plusquam ipsi gigantes – Etwas frei über­set­zt: Nur die Zwerge auf den Schul­tern von Riesen sehen weit­er als die Riesen.
 
Anmerkun­gen
  • 1 Die Jahreszahlen im alten Ori­ent sind naturgemäß schw­er festzustellen. Auf­grund divergieren­der Ermit­tlungskri­te­rien existieren unter den Wis­senschaftlern derzeit vier Chronolo­gi­etypen: Die lange, zwei sog. mit­tlere und eine kurze Chronolo­gie (oder lang, mit­tel, kurz und ultra­kurz). Je länger die Chronolo­gie, umso weit­er rutscht das Ereig­nis in die Ver­gan­gen­heit. Die Regierungszeit­en Ham­mura­bis wären dem­nach: Lang: 1848–1806 v. Chr., mit­tel (1): 1792–1752 v. Chr., mit­tel (2): 1728–1686 v. Chr., kurz: 1696–1654 v. Chr. Heute wer­den meist die lange und die ultra­kurze Chronolo­gie als nicht zutr­e­f­fend angesehen.
  • 2 Alle Zitate des Codex Ham­mura­bi aus: W. Eil­ers: Codex Ham­mura­bi. Die Geset­zesstele Ham­mura­bis. Mar­ixver­lag, Wies­baden, 2009
  • 3 Text des Codex Ur-Nam­mu (in Englisch) siehe: http://realhistoryww.com/world_history/ancient/Misc/Sumer/ur_nammu_law.htm
  • 4 F. R. Steele: The Code of Lip­it-Ishtar. – The Uni­ver­si­ty Muse­um, Philadel­phia, 1948
  • 5 Text aus: R. Yaron: The Laws of Esh­nun­na. – The Magnes Press, Jerusalem, 1988; Die Esch­nun­na­texte geben noch ein weit­eres Beispiel für die Bedeu­tung der Gefahren­wahrnehmung: „Wenn eine Mauer einzustürzen dro­ht und die Bezirk­sautoritäten haben den Eign­er darauf hingewiesen, und er ver­stärkt die Mauer nicht und sie bricht zusam­men und tötet den Sohn eines Men­schen: [Es geht ums] Leben: Entscheid des Königs.“
  • 6 Alle Zitate der Tho­ra aus: W. Krauss und M. Kar­rer: Sep­tu­ag­in­ta Deutsch. – Deutsche Bibelge­sellschaft, Stuttgart 2009
  • 7 Der Begriff „Altes Tes­ta­ment“ stammt von christlichen The­olo­gen, wurde erst­mals um 180 n. Chris­tus ver­wen­det und beze­ich­net eine Samm­lung der jüdis­chen heili­gen Schriften. Die zugrunde liegen­den jüdis­chen Schriften ent­standen zu ver­schiede­nen Zeit­en im ersten vorchristlichen Jahrtausend. Tra­di­tion­s­gemäß wird die Tho­ra, d.h. die fünf Moses­büch­er, als die ältesten Schriften ange­se­hen. Soll­ten die sog. Früh­datierun­gen stim­men, liegen zwis­chen der Tho­ra und dem Alten Tes­ta­ment rund 1000 Jahre, ggf. sog­ar noch deut­lich mehr. Eine erste Zusam­men­stel­lung dieser heili­gen Schriften mit Über­set­zung ins Griechis­che erfol­gte durch jüdis­che Gelehrte um 250 v. Chr. in Alexan­drien. Das ent­standene Werk trägt den Namen „Sep­tu­ag­in­ta“.
  • 8 H.W.F. Sag­gs: Völk­er im Lande Baby­lon. – Theiss Ver­lag, 2005
Autor
Dr. Ger­ald Schneider
 
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