Jeder betriebliche Arbeits- und Gesundheitsschützer sollte die Relevanz der arbeitsmedizinischen Regeln einordnen können und wissen:
- AMR konkretisieren die Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) und werden vom Ausschuss für Arbeitsmedizin beschlossen.
- Auch für die AMR – derzeit liegen 17 Regeln vor – gilt die Vermutungswirkung.
- Für den Betriebsarzt stellt eine AMR – analog zum Stand der Technik in den technischen Regelwerken – den Stand der Arbeitsmedizin dar.
Zentral in der AMR zu Muskel-Skelett-Belastungen: „wesentlich erhöhte körperliche Belastung“
Der Vorläufer der neuen AMR 13.2 wurde erstmals 2014 mit dem Titel „Tätigkeiten mit wesentlich erhöhten körperlichen Belastungen mit Gesundheitsgefährdungen für das Muskel-Skelett-System“ veröffentlicht. Dieser Titel ist gleichgeblieben, doch der Umfang der neuen Fassung ist von neun auf dreizehn Seiten gewachsen.
Auffallend ist, dass diese AMR zu Muskel-Skelett-Belastungen sich gleich im ersten Satz an den Arbeitgeber – und nicht etwa den Betriebsarzt – wendet. Der Arbeitgeber muss seinen Beschäftigten in regelmäßigen Abständen arbeitsmedizinische Vorsorge anbieten bei Tätigkeiten mit wesentlich erhöhten körperlichen Belastungen, die mit Gesundheitsgefährdungen für das Muskel-Skelett-System verbunden sind. Solche wesentlich erhöhten Belastungen entstehen in den meisten Fällen – auch dies stellt die AMR gleich zu Beginn fest – durch eine der folgenden drei Arbeitssituationen:
- manuelles Bewegen von Lasten, das heißt Heben, Halten, Tragen, Ziehen oder Schieben
- repetitive manuelle Tätigkeiten, das heißt Aufgaben mit gleichförmigen, sich häufig wiederholenden Bewegungsabläufen, bei denen eine Regenerationsphase fehlt
- Arbeiten in erzwungenen Körperhaltungen, zum Beispiel im Knien, in der Hocke, im Fersensitz, aber auch mit gedrehtem Rumpf oder über Kopf
Belastung und Beanspruchung
Die AMR 13.2 definiert wesentlich erhöhte körperliche Belastungen als „regelmäßig oder dauerhaft am Arbeitsplatz wiederkehrende Belastungen, die zu einer Überbeanspruchung mit der Folge von Beschwerden, Funktionsstörungen oder Schädigungen insbesondere am Muskel-Skelett-System führen können.“ Das klingt auf den ersten Blick nach einem Zirkelschluss und ist nur bedingt für die Praxis hilfreich. Denn als Gesundheitsschützer man kann nicht abwarten, bis Schmerzen oder Funktionsstörungen auftreten, um dann festzustellen, dass die vorausgegangene Belastung zu einer Überbeanspruchung des Kollegen geführt hat und somit wesentlich erhöht war.
Hier setzt die AMR zu Muskel-Skelett-Belastungen an und hat die Aufgabe, zu konkretisieren, wann Arbeitgeber, Vorgesetzte und Betriebsärzte in ihren Gefährdungsbeurteilungen von einer wesentlich erhöhten körperlichen Belastung ausgehen können. Wichtig ist zunächst, zwischen Belastung und Beanspruchung zu differenzieren. Eine Belastung ist objektiv und meist relativ gut messbar, zum Beispiel als das Gewicht einer anzuhebenden Last. Eine Beanspruchung dagegen ist subjektiv und individuell unterschiedlich. Beim Beispiel des Anhebens einer Last wären die Fitness, die Körperkräfte, das Ausmaß der Vorbelastung, Muskelermüdung und physische Erschöpfung individuelle Faktoren, die sich meist nicht auf die Schnelle messen lassen. Das Einschätzen einer Beanspruchung erfordert daher einen gewissen Aufwand (siehe unten) oder sogar die Fachkenntnisse eines Arztes.
Physische Belastungen auch im digitalen Zeitalter
Zweifellos hat die physische Arbeitsschwere in vielen Berufen abgenommen, Maschinen entlasten den Menschen und in der 4.0‑Arbeitswelt sollen schwere Lasten mehr und mehr durch Roboter transportiert werden, die weder Ermüdung noch Zwangshaltungen kennen. Und auch wenn auf dem Weg in die Dienstleistungsgesellschaft an immer mehr Arbeitsplätzen eher der Bewegungsmangel zum Gesundheitsproblem wird, muss in einigen Branchen nach wie vor jede Menge Muskelkraft aufgebracht werden. Laut dem DGB-Index Gute Arbeit von 2018 muss mehr als die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland oft in ungünstigen Körperhaltungen arbeiten und jeder dritte regelmäßig körperlich schwere Arbeit verrichten.
Unstrittig sind die möglichen unerwünschten gesundheitlichen Folgen, wenn Mitarbeiter am Arbeitsplatz Fehlbeanspruchungen durch erhöhte physische beziehungsweise biomechanische Belastungen des Muskel-Skelett-Systems ausgesetzt sind:
- Überforderung und Ermüdung der Muskulatur, Muskelverspannungen und Schmerzen
- Überbeanspruchung von Knochen, Knorpeln, Bandscheiben, Sehnen und Bändern
- degenerative Veränderungen der Wirbelsäule und Gelenke, zum Beispiel Bandscheiben- oder Meniskusschäden
- chronische Beschwerden wie Arthrosen von Hüft- und Kniegelenken, Sehnenscheidenentzündungen, Karpaltunnelsyndrom u. a.
- Belastungen des Herz-Kreislauf-Systems, die sich zum Beispiel als Bluthochdruck oder Krampfadern äußern
Laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) ist jeder vierte Arbeitsunfähigkeitstag durch Muskel-Skelett-Beschwerden bedingt, zudem die Hälfte aller Rehabilitationen und mehr als jede vierte Frühverrentung. Nicht zufällig sind mehr als ein Dutzend Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems als Berufskrankheiten anerkannt und der Bedarf an Prävention ist nach wie vor hoch.
Unterschiedliche Vorgehensweisen bei der Gefährdungsbeurteilung
Physische Arbeitsschwere zu erkennen, fällt uns leicht. Muskelarbeit und Kraftaufwand bei einer Tätigkeit sind offensichtlicher als etwa eine psychische Fehlbelastung am gleichen Arbeitsplatz. Doch das Beurteilen einer Belastung des Muskel-Skelett-Systems im Hinblick auf mögliche Gesundheitsfolgen ist keineswegs trivial. Die AMR 13.2 verweist explizit darauf, dass der Arbeitgeber sich dabei vom Betriebsarzt oder der externen betriebsärztlichen Betreuung beraten lassen soll.
Für die Gefährdungsbeurteilung von Arbeitsplätzen mit körperlicher Belastung schlägt die AMR zu Muskel-Skelett-Belastungen ein mehrstufiges Vorgehen vor:
- Zunächst soll ein Grobscreening der Orientierung über die Belastungsarten dienen und erste Hinweise ergeben, ob eine Belastung wesentlich erhöht sein kann. Die AMR verweist hier auf einen Basis-Check der BAuA und eine neue Checkliste in der arbeitsmedizinischen Fachliteratur.
- Nachfolgende speziellere Screenings wie etwa die bewährten Leitmerkmalmethoden haben die Aufgabe, eine Belastung einem Risikobereich zuzuordnen (s. Tabelle).
- An letzter Stelle stehen Expertenscreenings (zum Beispiel das MEGAPHYS-Verfahren), betriebliche Messungen und Labormessungen. Ein solcher Aufwand wird jedoch nur für sehr komplexe Belastungssituationen als notwendig erachtet und dürfte für viele Betriebe kaum erforderlich werden.
Risikobereiche für physische Belastungen
Hilfreich für den Praktiker ist die Einordnung der Belastungsarten beziehungsweise Belastungsintensitäten in vier Risikobereiche. Die AMR zu Muskel-Skelett-Belastungen zeigt diese Einteilung im Anhang, hier verkürzt in Tabellenform dargestellt.
Der zentrale Tatbestand der „wesentlich erhöhten körperlichen Belastung“ ist nach dieser Einteilung erreicht für die Risikobereiche 3 oder 4. Für diese Risikobereiche muss der Arbeitgeber seinen Beschäftigten arbeitsmedizinische Vorsorge anbieten.
Die Einteilung in die Risikobereiche ist jedoch nur als Orientierungshilfe zu verstehen, die Abgrenzungen sind fließend, und ein Arbeitsplatz bzw. eine Tätigkeit wird sich nicht immer eindeutig einer Kategorie zuordnen lassen. Intensität und Dauer einer körperlichen Belastung können variieren und sind nicht immer einfach und schnell zu erfassen. Die AMR 13.2 verweist daher aus gutem Grund auf die bewährten Leitmerkmalmethoden der BAuA für
- „Heben, Halten und Tragen von Lasten“,
- „Ziehen und Schieben“ sowie
- „Manuelle Arbeitsprozesse“.
Die Arbeitsblätter dieser Leitmerkmalmethoden können kostenfrei auf der Website der BAuA heruntergeladen werden. Sie ermöglichen es jedem Vorgesetzten oder betrieblichen Gesundheitsschützer, die Belastungsschwere von unterschiedlichen manuellen Tätigkeiten wie Heben, Tragen oder Ziehen auf einfache Art und Weise zu ermitteln. Der Vorteil ist, dass dabei weder aufwendige Messungen erforderlich werden noch der Anwender arbeitsmedizinisches Fachwissen benötigt. Beim Heben, Halten und Tragen zum Beispiel werden lediglich einige Rahmenparameter der Tätigkeit angekreuzt, ihre Anzahl und Dauer eingetragen und mit weiteren Faktoren wie Körperhaltung und Position der Last gewichtet. Daraus ergeben sich Punktsummen für eine Arbeitsschicht pro Belastungsart. Sobald ein solcher Zahlenwert die Punktzahl für den Risikobereich 3 erreicht, kann eine wesentlich erhöhte körperliche Belastung im Sinne der AMR 13.2 angenommen werden.
Wunschvorsorge auch ohne wesentlich erhöhte körperliche Belastung
Das oben geschilderte Vorgehen ist nicht neu und wurde im Wesentlichen bereits in der früheren AMR 13.2 beschrieben. Auffallend ist, dass die Neufassung explizit betont, dass der Arbeitgeber seinen Beschäftigten Wunschvorsorge ermöglichen muss und zwar auch dann, wenn die Beurteilung der Arbeitsbedingungen ergeben hat, dass keine wesentlich erhöhte körperliche Belastung vorliegt. Hintergrund dieser Regelung ist, dass die Physis der Mitarbeitenden sich stark unterscheiden kann, so dass im Einzelfall eine körperliche Überbeanspruchung nicht auszuschließen ist. Über diese Wunschvorsorge muss der Arbeitgeber zudem seine Beschäftigten explizit informieren, zum Beispiel in einer Unterweisung, er darf also nicht stillschweigend voraussetzen, dass sich Betroffene von selbst melden beziehungsweise den Betriebsarzt aufsuchen.
Neu und positiv zu bewerten ist auch, dass die aktualisierte AMR die Zusammenhänge zwischen Belastungsarten und Beschwerden nun deutlich ausführlicher darstellt. Der Abschnitt 3 zu den arbeitsmedizinischen Grundlagen ist gut dreimal so lang wie zuvor. Was man hier erfährt, etwa dass auch ein langdauerndes erzwungenes Sitzen zu Beschwerden und Gesundheitsbeeinträchtigungen führen kann, dient nicht nur dem Selbststudium, sondern lässt sich auch für Unterweisungen verwenden.
Neu erfasst: Ganzkörperkräfte und Körperfortbewegung bei der Lastenhandhabung
Erstmals thematisiert wird in der Neufassung nun auch das Aufbringen von Ganzkörperkräften. Zu einer solchen Belastung kann es beim Bearbeiten großer Werkstücke kommen oder wenn ein schweres Werkzeug benutzt wird. Typische Beispiele für eine solche „Ganzkörperarbeit“ sind das Arbeiten mit Vorschlaghämmern, Kettensägen, Brechstangen, Schaufeln oder Flaschenzügen. Aber auch der Patiententransfer in der Pflege erfordert oft Ganzkörperkräfte und es kann zu Fehlbelastungen und Überbeanspruchung kommen. Auch für solche Ganzkörper-belastende Tätigkeiten kann eine eigene Leitmerkmalmethode genutzt werden.
Auch die „Körperfortbewegung“ wird erstmals als eine eigene Belastungsart beschrieben. Sie ist spätestens dann zu berücksichtigen, wenn eine Last
- über längere Distanzen, das heißt mehr als 10 Meter,
- in Verbindung mit erschwertem Gehen, genannt sind beispielhaft Ackerboden, Schächte, Leitern und Treppen, oder
- mit Steigung oder Gefälle größer 10 Grad
transportiert werden muss.
Last, but not least, gilt unabhängig von der AMR zu Muskel-Skelett-Belastungen nach wie vor die Lastenhandhabungsverordnung (LasthandhabV). Danach soll manuelles Bewegen von Lasten vermieden werden, wenn es die Gesundheit gefährdet. Wo dies nicht umsetzbar ist, gilt ein Minimierungsgebot. Das heißt, es sind im Betrieb alle Möglichkeiten zu nutzen, die Belastung abzusenken. Dazu dienen in erster Linie technische Transport- und Hebehilfen, ob Saugheber oder Rutschbrett, Flaschenzug oder Rollwagen. Daneben sind oftmals auch organisatorische Schritte umsetzbar. Dazu gehören etwa Vorgaben, schwere Gegenstände nur zu zweit zu bewegen oder sich bei besonders belastenden Tätigkeiten abzuwechseln, so dass jeder seine Kräfte in ausreichendem Maße regenerieren kann.
Wer kritisch und lösungsorientiert hinschaut, wird Stellschrauben entdecken, um die körperlichen Belastungen für sich selbst, seine Kollegen oder Mitarbeiter zu senken. Manchmal kann schon ein höhenverstellbarer Hubtisch statt einer fixierten Ablagefläche Erleichterung bringen oder dass schon bei der Beschaffung kleinere Gebindegrößen gewählt werden. Wo dennoch physisch belastende Aufgaben unvermeidbar bleiben, kommt die neue AMR 13.2 ins Spiel und zeigt, wie beim Bewerten der Gesundheitsrisiken vorzugehen ist.
Autor:
Dr. Friedhelm Kring
Redaktionsbüro BIOnline