Unternehmen bieten vielfältige Möglichkeiten arbeitssicherheitsrelevante Tatbestände zu melden. Fachkräfte für Arbeitssicherheit (Sifa) zeigen persönliche Präsenz, geben der Aufgabe ein „Gesicht“ und bieten sich für Gespräche an. In größeren Unternehmen sind sogar Kontaktmöglichkeiten mit der Compliance über eine anonyme Hotline bereitgestellt. Hinweise auf die Möglichkeiten Informationen weiter zu geben finden sich in Internet, Intranet und werden bei Informationsveranstaltungen thematisiert.
Bei der Frage, welche Auffälligkeiten gemeldet werden sollen, ist die Antwort rasch zur Hand. Im Zweifelsfall besser zu viel als zu wenig, denn es geht im Arbeitsschutz ja um den Schutz von Leib, Leben und Gesundheit. Soweit zur Theorie.
Eine andere Frage wird im Betriebsalltag allerdings kaum thematisiert, nämlich die Frage nach der Ethik. Die zur Meldung mehr oder weniger motivierten und angehaltenen Mitarbeiter kennen eventuell sogar die konsequente Verfolgung bei Arbeitsschutzverstößen und den damit verbundenen Folgen für diejenigen, welche entsprechende Vorgaben nicht einhalten. Jahrelang geduldetes Verhalten oder scheinbar unbedeutende Vergehen können zur Abmahnung oder Kündigung, letztlich zur Beendigung der beruflichen Karriere führen.
Verstöße fallen überwiegend in der Zusammenarbeit mit vertrauten Kollegen auf. Nicht anonyme Dritte, sondern Mitarbeiter oder Vorgesetzte werden auffällig. Werden diese mittels einer Meldung nicht „ans Messer geliefert“? Stellt eine Meldung dann eine Denunziation dar? Bei dieser Bewertung fühlen sich Betroffenen fast immer alleine. Dabei werden die Mitarbeiter, welche loyal zum Unternehmen stehen und an sich und andere entsprechende ethische Ansprüche stellen, von Gewissensbissen geplagt und prüfen selbstkritisch, ob ihre Meldung nicht eine Denunziation sein könnte. Deshalb sollten Verantwortliche und Arbeitsschutzabteilungen durchaus auch gemeinsam über den Sachverhalt „Denunziation“ informieren und Hinweise geben, welche Entscheidung die ethisch „Richtige“ ist.
Merkmale der Denunziation
Deutschlands Geschichte weist totalitäre Regime auf. Wer vor 25 Jahren, unter Einhaltung bestehender Gesetzte, in Magdeburg oder Potsdam jemanden denunzierte, der eine regierungskritische Äußerung gemacht hatte, konnte so die Existenz eines Menschen zerstören. Hier war der Vorwurf der Denunziation (lat. denuntio, „Anzeige erstatten“) gerechtfertigt. Deshalb ist es wichtig zu wissen, gerade hier in Deutschland, was Denunziation ist und bedeutet, aber auch was nicht.
Im ethischen Verständnis, und auch in unserer Geschichte, wird Denunziation festgestellt, wenn in einem nicht freiheitlichen System Menschen in aggressiver Weise bei staatlichen Vollzugsbehörden beschuldigt werden. Dabei ist dem anzeigenden Denunziant klar, dass er den Betroffenen damit der Gefahr der (politischen) Verfolgung aussetzt. Diese Definition gilt es für den unternehmerischen Alltag umzudeuten. Unternehmen müssen und sollen arbeitsschutzrelevanten Gesetzes- und Regelverstößen konsequent begegnen. Wer den Fortbestand des Unternehmens im Allgemeinen, aber auch ganz konkret seinen Arbeitsplatz, seine Gesundheit und die seiner Kollegen gefährdet, darf nicht die Worthülse „Denunziation“ benutzen, um Handeln oder auch Nicht-Handeln zu rechtfertigen.
Schlicht pauschal zu proklamieren, dass es in deutschen Unternehmen aufgrund der freiheitlich demokratischen Gesellschaftsordnung Denunziation nicht geben kann, macht es allerdings zu einfach. Nur ein näherer Blick auf die Definitionsbestandteile der Denunziation ermöglicht die Bewertung des einzelnen Vorganges. Tabelle 1 führt diese Merkmale auf. Im Rahmen der im Folgenden vorgestellten Schulungen und Gespräche werden diese Merkmale diskutiert.
Formale Verantwortlichkeit
Wer hierarchisch vorgesetzt ist, denunziert nicht. Wer sich der Verantwortung stellt, Mitarbeiter zu führen und Arbeitssicherheit zu verantworten, stellt sich dieser Aufgabe freiwillig, wobei die Kontrolle ein Bestandteil jeder Führungsaufgabe ist. Die Möglichkeit einer frühzeitigen Prüfung der Arbeitssicherheit nach Übernahme der Verantwortung ist für eine neue Führungskraft die Chance, das Thema Sicherheit und Gesundheit von Anfang an als wichtig und nachhaltig in die Köpfe der Mitarbeiter zu bekommen.
Mit der Akzeptanz der Verantwortung hat eine Führungskraft die Mitarbeiter darauf aufmerksam zu machen, dass Kontrollaufgaben zu seiner Position gehören. Und dass diese Kontrollaufgaben explizit auch Sachverhalte der Arbeitssicherheit beinhalten – und bei Verstößen entsprechend sanktioniert werden. Dabei ist es hilfreich, sich schwierigen, unangenehmen Tatbeständen zügig zu stellen, werden diese doch sonst unmerklich in die ferne Zukunft verschoben.
Folgen für das Unternehmen
Jeder Mitarbeiter sollte wissen, dass Arbeitsschutzverstöße Folgen nach sich ziehen: Denn die Gesundheit der Mitarbeit wird gefährdet, empfindliche Strafen drohen, die Reputation des Unternehmens wird bedroht. Scheinbar kleine Auffälligkeiten können zur Aufdeckung von systematischen Sicherheitslücken führen. Die Meldung eines Einzelfalls kann über die damit verbundene Untersuchung zur Aufdeckung weiterer, vielleicht schwerwiegender und systematischer Schwachstellen beitragen.
Persönlicher Vorteil des Meldenden
Eine Meldung nach „Oben“ kann zu persönlichen Vorteilen des Meldenden führen, da aufgrund konsequenter Maßnahmen ein schwerwiegender Verstoß zur Ablösung des Betroffenen führen kann. So lässt sich ein lästiger Konkurrent oder ein unbeliebter Vorgesetzter als willkommener Begleiteffekt „entsorgen“.
Es ist menschlich, dass die Bereitschaft zur Meldung steigt, wenn die Konsequenzen einen unbeliebten Kollegen treffen, als wenn ein vertrauter, befreundeter Arbeitskollege betroffen ist oder wenn die Möglichkeit besteht, dass die Position frei wird, welche der Meldende selber besetzten möchte. Allerdings sollte sich der Meldende bewusst machen, dass nicht er die Folgen eines Fehlverhaltens verantwortet, sondern derjenige, welcher falsch gehandelt hat, vor allem, wenn eine Führungskraft oder Arbeitsschutzabteilung wiederholt die Konsequenzen entsprechenden Verhaltens aufzeigt.
Sanktionserwartungen
Sanktionserwartungen sind unmittelbar mit dem vorherigen Punkt verknüpft. Pauschalisierte Bestrafungen durch das Unternehmen ohne Berücksichtigung der Motive und des Arbeitsumfelds führen allerdings schnell zum Eindruck einer „Bestrafung“. Dies verstärkt den Eindruck einer Denunziation, weshalb von einer Meldung zurückgeschreckt wird. Auch deshalb gilt es durch die Fachkraft für Arbeitssicherheit zu gewährleisten, dass die Maßnahmen nicht als drakonischen Strafen aufgefasst werden, sondern das Gefährdungspotential, die Dauer der Verstoßes und der Zusammenarbeit Berücksichtigung finden – und dass Arbeitsschutzverstöße keine Bagatellen sind. Erachten Unbeteiligte die Lösung als angemessen, fällt es diesen sehr viel einfacher Vorwürfe zu melden, als wenn bei geringfügigen Verstößen die berufliche Existenz des Verursachers bedroht wird.
Meldung an …
Wer erinnert sich nicht an den Vorwurf in der Schule eine „Petze“ zu sein, wenn man einem Lehrer das Fehlverhalten eines Mitschülers meldete. Vor diesem Hintergrund erscheint es oftmals angemessener, den betreffenden Mitarbeiter persönlich anzusprechen, anstatt sofort die Fachkraft für Arbeitssicherheit oder den Vorgesetzten zu informieren. Diese Aufgabe fällt im Betriebsalltag oft den Sicherheitsbeauftragten zu.
Zwar kann es im Einzelfall eine gute Lösung sein, wenn bspw. ein Kollege einmalig keine Schutzausrüstung benutzt, im Zweifelsfall sollte aber der Vorgesetze oder die Arbeitsschutzabteilung informiert werden – vor allem ist es wichtig, die Kollegen/Sicherheitsbeauftragten davor zu warnen, eigene Untersuchungen und Alleingänge als „Hilfssheriff“ durchzuführen- um anschließend die Ergebnisse vorzulegen. Diese Gefahr droht vor allem bei Vorgesetzten, die in ihrem
Verantwortungsbereich eigenständig für „Ordnung“ sorgen wollen, und von Arbeitsschutz und den zugrundeliegenden (psychologischen) Motiven keine wirkliche Ahnung haben.
Fachkräfte für Arbeitssicherheit und Sicherheitsingenieure verfügen über das notwendige Know-how, um gerichtsfeste Informationen zu erfassen, Gespräche mit „Beschuldigten“ zu führen, die Ergebnisse in einen weiteren Zusammenhang einzuordnen und notwendige Maßnahmen umzusetzen, welche den Einzelfall würdigen, aber über diesen hinaus gehen.
Führung und Denunziation
Von entscheidender Bedeutung, den Vorwurf einer Denunziation zu entkräften ist das Verhalten der Unternehmensleitung beim Befolgung von Gesetzen und Verordnungen. Dies schließt auch ein, den Primat des Rechts über die Wirtschaft zu akzeptieren, sprich auch mal einen Euro weniger zu verdienen (z.B. PSA kaufen und pflegen), dafür aber die Gesundheit der Mitarbeiter zu schonen.
Kommen die Mitarbeiter zu der Ansicht, dass Arbeitsschutzverstöße von Vorgesetzten toleriert, gedeckt oder sogar selber vorgenommen werden, ist es nutzlos an die Mitarbeiter zu appellieren, diese Verhaltensweisen zu unterlassen. Um Theodor W. Adorno zu zitieren: Es gibt nicht das gute Leben im schlechten. Wer für sich selbst den Arbeitsschutz passend „zurechtbiegt“, sollte von keinem anderen Gesetzestreue einfordern.
Vorgesetzte, Fachkräfte für Arbeitssicherheit und Sicherheitsingenieure müssen ihrer Vorbildfunktion gerecht werden, im Großen wie im Kleinen. Dies zeigt sich konkret, wenn bspw. einzelne Mitarbeitern oder Vorgesetzte „schnell“ durch die Produktion laufen und auf die notwendige Schutzausrüstung verzichten, während anderen dies dagegen verboten wird.
Ansprache in Schulungen
Wird das Thema „Denunziation oder nicht“ in Schulungen angesprochen, stehen keine fertigen Lösungen im Mittelpunkt. Vielmehr sollen die Mitarbeiter bei der Beantwortung dieser, nicht immer einfachen Frage unterstützt werden. Hierbei wird sich oft eine Verbindung mit anderen Sachverhalten anbieten, so dass gemeinsam mit der Compliance oder dem Datenschutz das Thema „Denunziation“ behandelt wird.
Im Rahmen einer Schulung können verschiedene Situationen erläutert und ergebnisoffen diskutiert werden. In z.B. einem ersten Schritt können die Teilnehmer ihre spontane Einschätzung abgegeben, was Denunziation ist und was nicht, woran sich die Diskussion anschließt. Die Schulungsteilnehmer werden ihre Meinungen, Ideen und Lösungen aufzeigen, der Schulende diese in Form der in Tabelle 2 dargestellten Punkte zusammenfassen. Dabei werden Beispiele unternehmensindividuell angepasst, um sowohl auf das Geschäftsmodell als auch einzelne Vorkommnisse, eingehen zu können.
Schlussendlich werden die Beteiligten befragt werden, ob sich ihre Meinung und Wahrnehmung zum Thema „Arbeitsschutzverstöße melden, oder Denunziation“ geändert hat, und ob ihrer Wahrnehmung nach sich Denunziation im Unternehmen ereignet hat beziehungsweise ereignen könnte.
Pro und Contra Meldungszwang
Kein Mitarbeiter kann zur Meldung von Auffälligkeiten gezwungen werden. Im Nachhinein und im Zweifelfall proklamiert ein Mitarbeiter für sich, dass er die Situation nicht entsprechend eingeschätzt oder schlicht nichts bemerkt hat. Vorgesetzte und Arbeitsschutzabteilungen können die Möglichkeit erhöhen, entsprechene Meldungen zu erhalten, indem die Vorgänge und Reaktionen seitens des Unternehmens durch eine sachliche, transparente und als angemessen wahrgenommene Vorgehensweise erläutert werden. Dabei gilt es, nicht frontale Unterrichtungen durchzuführen, sondern auch Mutmaßungen und Gerüchte, welche im Unternehmen umher gehen, aufzugreifen und darauf zur reagieren. Dies gilt vor allem dann, wenn z.B. der „Flurfunk“ meldet, dass langjährige, loyale Mitarbeiter wegen scheinbar belangloser Vergehen „drakonisch bestraft“ wurden. Solche Gerüchte ermöglichen es Interessierten, den Pauschalvorwurf der Denunziation auch dort zu adressieren, wo dieser keinesfalls angebracht ist.
Schlussfolgerung
Lösungen sind nicht schwarz oder weiß, sondern allenfalls grau, so wie die Arbeitswelt und das Verständnis der Arbeitssicherheit. Von entscheidender Bedeutung für Sifa und Sicherheitsingenieur ist, dass das Thema Denunziation nicht der „Gerüchteküche“ überlassen wird, sondern eine offene Diskussion eingeleitet und gestaltet wird.
Beim aufgezeigten Vorgehen kann nicht ausgeschlossen werden, dass Mitarbeiter einzelne relevante Vorfälle als Denunziation deuten und die Weitergabe von Informationen verweigern. Dennoch ist eine Unternehmenskultur (inklusive guter Arbeitssicherheit), die ethische Ansprüche nicht nur bei den Mitarbeitern einfordert, sondern sich diesen eigenverantwortlich stellt und vorlebt, langfristig wirkungsvoller.
Autor:
Thomas Schneider