Richter reagieren allergisch, wenn man sagt, man habe anwendbare Vorschriften nicht gekannt. Denn es „sind die Kenntnisse zu fordern, die für die Erfüllung der obliegenden Aufgaben notwendig sind. Die fehlende Kenntnis von den zu beachtenden Sicherheitsanforderungen ist ein für die Beurteilung des Verschuldensgrades wesentlicher – zu Lasten gereichender – Umstand“1. Der BGH warf der beklagten Leiterin eines Stadtbauhofes vor, „dass sie sich selbst darauf beruft, keine Kenntnis von den geltenden Vorschriften gehabt zu haben“: Die „fehlende Kenntnis von den zu beachtenden Sicherheitsanforderungen der für die Bauaufsicht zuständigen Beklagten ist ein für die Beurteilung des Verschuldensgrades wesentlicher Umstand. Von der Beklagten sind die Kenntnisse zu fordern, die für die Erfüllung der ihr obliegenden Aufgaben notwendig sind. Hätte sich die Beklagte in der gebotenen Weise informiert, hätte sie gewusst, dass zur Abstützung des Grabens bei einer Tiefe von 1,80 m unter Umständen Baumaterial erforderlich sein würde, das dem Baggerführer zur Verfügung stehen musste“2.
Nichtkenntnis von Rechtsvorschriften regelmäßig straferhöhend
Regelrecht entrüstet war einmal das Bayerische Oberste Landgericht, zeigte aber auch Handlungsmöglichkeiten auf3: Lässt „die Gewinnsituation eines Betriebes die Organisation einer internen Kontrolle mit externer Überwachung nicht zu, sieht sich aber der Inhaber andererseits aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur nicht in der Lage, den Inhalt der für seinen Betrieb wesentlichen Vorschriften zu erlernen und/oder deren Beachtung innerbetrieblich durchzusetzen, so verstößt er damit gegen seine Aufsichtspflicht“. Und: „Kennt oder versteht ein Betriebsinhaber wesentliche für seinen Geschäftsbetrieb geltende Bestimmungen nicht, so entfällt deswegen nicht seine Überwachungspflicht. Vielmehr stehen ihm zu deren Erfüllung zwei Wege offen. Er kann sich entweder die für seine Überwachungsaufgabe erforderlichen Kenntnisse verschaffen, um seinen Pflichten selbst nachkommen zu können, oder er hat ein innerbetriebliches Kontrollsystem zu organisieren, das er extern überwachen lässt“.
Irrtümliche Nichtkenntnis eines Verbots ausnahmsweise strafbefreiend
Ein anderes Urteil des BayOblG zeigt, dass man sich auch mal erfolgreich auf einen Verbotsirrtum gemäß § 17 StGB berufen kann, nachdem das Hauptzollamt gegen den Bauherrn wegen fahrlässigen Nichtgewährens des Mindestlohns und fahrlässigen Nichtentrichtens des Sozialkassenbeitrags Geldbußen von DM 4.500, – und 5.500, – verhängt hatte4: Dem Bauherrn sei „die Unkenntnis dieser Normen nicht vorzuwerfen. Auch wenn sich der Bauherr vor der Errichtung seines Bauvorhabens über die dafür geltenden Bestimmungen einschließlich derer zu unterrichten hatte, die damals für die Entlohnung seiner Arbeitnehmer galten, so war er nicht verpflichtet, sich durch Erholung von Auskünften von Fachbehörden sachkundig zu machen. Ebenso genügte es, dass er sich in den Verkündungsblättern über die einschlägigen Vorschriften informierte. Dabei aber brauchte sich der Betroffene nur mit den Gesetzen zu befassen, deren Titel erwarten ließ, dass sie auch die Ausführung von Bauvorhaben der vom Betroffenen geplanten Art regeln. Denn die Annahme, dass sich auch die Inhaber kleinerer Baubetriebe laufend über alle jeweils geltenden Vorschriften zu unterrichten haben, um so auch Bestimmungen zur Kenntnis zu nehmen, die nur durch Lesen sämtlicher Gesetze und Verordnungen in Erfahrung zu bringen sind, würde das Maß des Zumutbaren ebenso überschreiten wie die Forderung, dass sich jeder gewerblich tätige Bauunternehmer ungeachtet seiner Betriebsgröße in regelmäßigen Abständen auch bei den mit Arbeits‑, Sozial- und Baurecht befassten Fachbehörden nach den für ihn geltenden Rechtspflichten zu erkundigen hat“. Zu den Gesetzen, über deren Inhalt man „sich danach zu informieren hat, zählt das AEntG nicht. Dessen vollständiger Titel lautet: ‚Gesetz über zwingende Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen (Arbeitnehmer-Entsendegesetz – AEntG)‘. Angesichts einer solchen Überschrift ist es für einen Durchschnittsbürger nicht erkennbar, dass dieses Gesetz über den in seiner Überschrift zum Ausdruck gekommenen Regelungsgehalt hinaus auch den inländischen Arbeitgeber, der im Inland Arbeitnehmer beschäftigt, mit Geldbuße bedroht, wenn er einen für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag nicht beachtet. Deswegen war die irrtümliche Annahme, ein derartiges Verbot existiere nicht, für ihn unvermeidbar“.
Keine Abstriche bei kleineren Unternehmen
Trotz dieses gnädigen Urteils aus Bayern gilt, dass auch von kleineren Unternehmen (einerseits selbstverständlich, andererseits aber auch nicht ganz unproblematisch) die Kenntnis aller relevanten Rechtsgrundsätze erwartet wird. Als ein nach behördlichen Marktüberwachungsmaßnahmen mit einem Kostenbescheid in Anspruch genommener Unternehmer sich verteidigte, er „betreibe eher einen Kiosk“, hielt man ihm vor5: Es „kommt nicht darauf an, ob ihm die Bestimmungen des Produktsicherheitsrechts bekannt sind. Als Unternehmer, der im Geltungsbereich des Produktsicherheitsrechts Verbraucherprodukte in den Verkehr bringt, muss er die Sicherheitsvorschriften dieses Gesetzes einhalten. Es liegt in seiner Sphäre, sich insoweit sachkundig zu machen. Auf Unkenntnis kann er sich dementsprechend nicht berufen“6.
Strenge Anforderungen in Sachen Arbeitsschutz und Sicherheit
In Geltungsbereich des Arbeitsschutzrechts und der Sicherheitsvorschriften ist die Hürde für eine haftungsbefreiende Wirkung fehlender Rechtskenntnis hoch – aus mehreren Gründen:
- Erstens schauen Gerichte insbesondere nach Unfällen aus der Rückschau eher genauer hin und werten strenger.
- Zweitens gelten – neben den konkreten Sicherheitsvorschriften – auch immer allgemeine (Verkehrs-)Sicherheitspflichten, sodass letztlich die Grundsatzanforderung gilt, alle „notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern“7. Arbeitsschutzpflichten können sich nicht nur aus dem Arbeitsschutzrecht ergeben, sondern haften „kann jedermann, der gegen ihn treffende Sorgfaltspflichten (z.B. Verkehrssicherungspflichten) verstößt“8. So geht es dann gar nicht um die Kenntnis konkreter Rechtsvorschriften, sondern um eine Tatsachenfrage: War der Arbeitsunfall vorhersehbar?
- Wenn die Verantwortung zur Einhaltung des Rechts sich nicht nur auf konkrete Sicherheitsvorschriften bezieht, sondern auch auf allgemeine und nicht klar gesetzlich umrissene Rechtspflichten, ist – drittens – ein Vorwurf leichter, wie ihn das LG Paderborn einem Stadtdirektor machte, nachdem ein Kind im Brunnen der Stadt Steinheim ertrank: Wenn ihm „die Rechtslage nicht geläufig war, musste er sich um die Klärung bemühen“9 – und mit Rechtslage ist hier eben eher die tatsächliche Wertung gemeint: letztlich die Gefährdungsbeurteilung.
- Viertens stellen Gerichte (wie es einfacher ist!) nicht auf die konkreten Rechtsvorschriften ab, sondern begründen schlicht einen Handlungsfehler – letztlich eine Verletzung der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht. Zur Begründung heißt es dann (bitte halten Sie sich jetzt fest): Erforderlich sei nur eine „Parallelbewertung in der Laiensphäre“. Das LG Wuppertal begnügte sich etwa (nach einer Explosion im Schulunterricht) mit der Feststellung: „Da die Mischung nur wenig handhabungssicher war, liegt auch der Schaden im Bereich des Vorhersehbaren.“ Die Argumentation mit der Laiensphäre ist fast beleidigend und eine Verdrehung der Verhältnisse, denn eigentlich sind die Juristen die (chemischen oder technischen) Laien. Das zeigt sich ja auch daran, dass im Urteil keine Einordnung in das EU-System zur Einstufung von gefährlichen Chemikalien erfolgt und die einschlägige Unfallverhütungsvorschrift nicht benannt wird10.
Alle Vorschriften sind frei und voll abrufbar
Insbesondere durch das Internet sind alle Rechtsvorschriften unkompliziert und komplett in Sekundenschnelle frei abrufbar. Das löst zwar noch nicht das Problem zu erkennen, welche der zahlreichen Rechtsvorschriften nun wie weit in welcher Lage einschlägig sind. Aber es erschwert die Argumentation mit der Nichtkenntnis – und das Argument der „Nichtkenntnismöglichkeit“ ist ersichtlich unzureichend. Das bringt § 2 des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs (ABGB) so zum Ausdruck: „Sobald ein Gesetz gehörig kund gemacht worden ist, kann sich niemand damit entschuldigen, daß ihm dasselbe nicht bekannt geworden sey.“ Diese jahrhundertealte Formulierung auf heutige Verhältnisse übertragen bedeutet:
- Arbeitsschutzrecht ist auf https://www.gesetze-im-internet.de/ und
- Unfallverhütungsvorschriften (UVV) sind auf https://publikationen.dguv.de/regelwerk/
gehörig kundgegeben.
Fußnoten
1 LG Aachen, Urteil v. 26.02.2015 (Az. 12 O 178/14) – Fallbesprechung 18 in Wilrich, Sicherheitsverantwortung – Arbeitsschutzpflichten, Betriebsorganisation und Führungskräftehaftung, S. 198 ff.
2 BGH, Urteil v. 18.02.2014 (Az. VI ZR 51/13).
3 BayObLG, Beschluss v. 10.08.2001 (Az. 3 ObOWi 51/01).
4 BayObLG, Beschluss v. 13.10.1999 (Az. 3 ObOWi 88/99).
5 VG Gelsenkirchen, Beschluss v. 28.02.2008
(Az. 7 L 123/08).
6 Zum Rechtsgebiet vgl. Wilrich, Produktsicherheitsrecht und CE-Konformität, VDE-Verlag 2021.
7 Z.B. BGH, Urteil v. 02.03.2010 (Az. VI ZR 223/09) – Fallbesprechung 17 „Unfall an der DIN-normwidrigen Glastür“ in Wilrich, Bestandsschutz oder Nachrüstpflicht? Betreiberverantwortung und Sicherheit bei Altanlagen, 2. Aufl. 2019, S. 206 ff.
8 Wiebauer, in: Landmann / Rohmer, GewO,
77. Lieferung Oktober 2017, ArbSchG, § 26 Rn. 21.
9 Fall 6 „Brunnen Kump“ in Wilrich, Sicherheitsverantwortung (Fn. 1), S. 129 ff.
10 Fall 24 „Raketentreibstoff im Schullabor“ in Wilrich, Gefahrstoffrecht vor Gericht, 2021, S. 191 ff.
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Befehlsverweigerung bei Erkennbarkeit der Sicherheitswidrigkeit
Autor:
Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Wilrich
Hochschule München, Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen, Professor für Wirtschafts‑, Arbeits‑, Technik‑, Unternehmensorganisationsrecht
und Recht für Ingenieure