Mit Musik auf den Ohren zur Bushaltestelle rennen, telefonierend zum Sport radeln, beim Autofahren doch kurz auf die eingehende Textnachricht schauen oder bereits die ersten E‑Mails auf dem Weg zur Arbeit bearbeiten: All dies ist möglich dank der Smartphones, die mittlerweile immer und überall dabei sind. Die damit einhergehende Ablenkung wird jedoch häufig unterschätzt. „Wir glauben, wir können mehrere Dinge gleichzeitig tun. Dies ist allerdings ein Irrtum. So erfordert insbesondere die aktive Teilnahme am Straßenverkehr jederzeit volle Konzentration“, so Christian Kellner, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Verkehrssicherheitsrates (DVR). Folglich kann selbst ein kurzer Blick aufs Handy schnell böse enden und tödliche Folgen haben. Die Wahrscheinlichkeit für einen so verursachten Unfall steigt zum Beispiel beim Telefonieren um das Zweifache. beim Lesen oder Texten sogar um das Sechsfache und beim Wählen einer Telefonnummer mit dem Handy in der Hand auf das Zwölffache.
Aktuelle Umfrageergebnisse
Eine Umfrage unter 1.509 Personen von forsa im Auftrag des Automobil-Clubs Verkehr (ACV) und der Deutschen Verkehrswacht (DVW) zeigt, dass über die Hälfte (64 Prozent) der befragten Perso-nen im Fahrzeug auf ihr Smartphone nicht verzichten kann: 62 Prozent der Autofahrerinnen und Autofahrer nutzen es im Stau, 56 Prozent beim Warten an der roten Ampel, 17 Prozent bei Fahrten auf der Autobahn, 14 Prozent bei Fahrten auf der Landstraße und zwölf Prozent im Stadtverkehr. Die Befragten nutzen demnach das Handy vor allem in Situationen, in denen ihre Geduld auf die Probe gestellt wird, wie es etwa im Stau der Fall ist. Eine weitere Befragung von 2.000 Perso-nen durch das Marktforschungsinstitut Ipsos im Auftrag des DVR zeigt, dass sich der Großteil der deutschen Autofahrer und Autofahrerinnen über die Gefahren bei der Smartphone-Nutzung bewusst ist. Drei Viertel der befragten Personen sind der Meinung, dass das Telefonieren (78 Prozent), das Lesen oder Schreiben von SMS (73 Prozent) und das Nutzen des Internets (55 Prozent) beim Autofahren besonders gefährlich sind. Die Befragten sind also davon überzeugt, dass speziell die mentale Ablenkung – etwa durch Gespräche am Telefon sowie die visuelle Ablenkung, beispielsweise durch das Lesen einer Nachricht – besonders gefährlich sind.
Präventive Maßnahmen
Aber warum lassen wir uns ablenken? „Wir blenden nicht nur mögliche Gefahren und eventuelle Folgen aus, sondern glauben auch noch dank unserer Erfah-rungen zu wissen, was passieren wird – auch wenn wir mal nicht hinsehen“, erklärt Christian Kellner. Daher rechnen wir weder mit dem Kind, das binnen dieser Sekunde auf die Straße läuft, noch mit dem Auto, das uns in dem Moment die Vorfahrt nimmt.
Für viele Menschen ist das Smartphone eine wichtige Verbindung zum Freundes- und Bekanntenkreis. Eine Nachricht zu verpassen, ist aus ihrer Sicht undenkbar. Bei anderen hat die Kommunikation während dienstlicher Fahrten eine derart hohe Priorität, als sei ihr Arbeitsplatz in Gefahr. Hinzu kommt die Überzeugung, mehrere Dinge gleichzeitig tun zu können. Aber können wir das wirklich? Nein, denn das Gehirn kann Entscheidungen nur nacheinander treffen und ist bei zu vielen Aufgaben schnell überfordert. Dennoch hält sich hartnäckig die Vorstellung, Multitasking könne problemlos funktionieren. Für die Prävention ist das eine Herausforderung. Wie geht man mit falsch gesetzten Prioritäten um?
Mit der diesjährigen Schwerpunktaktion „Risiko-Check“ des DVR, der gewerblichen Berufsgenossenschaften und Unfallkassen werden neue Wege der Kommunikation beschritten. Ein Online-Spiel entführt die Versicherten in unterschiedliche Situationen auf dem Weg von der Arbeit nach Hause. Sie müssen immer wieder Entscheidungen zum Verhalten treffen und Prioritäten setzen.
Die Jugendaktionen des DVR, der gewerblichen Berufsgenossenschaften und Unfallkassen thematisieren regelmäßig Ablenkung in zielgruppengerechter Ansprache und motivieren junge Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen.
Verantwortungsvolle Unternehmen untersagen ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern jegliche Kommunikation während einer Dienstfahrt. Sie werden verpflichtet, sich erst dann zurückzumelden, wenn sie nicht mehr fahren.
Mit dem Wettbewerb „Unterwegs – aber sicher“ des VDSI und des DVR haben Unternehmen die Chance, ihre Maßnahmen zur Verhinderung von Ablenk-ungen im Straßenverkehr einzureichen und in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Gesucht werden gute Beispiele aus der betrieblichen Praxis für die betriebliche Praxis.
Mangel an Daten
Trotz der aktuellen Brisanz dieses Themas und der zahlreichen Maßnahmen hierzu fehlen noch immer Studien und Daten in Deutschland, die erfassen, wie viele Unfälle tatsächlich durch abgelenkte Verkehrsteilnehmerinnen und ‑teilnehmer verursacht werden. Dies liegt vor allem daran, dass Ablenkung schwer nachweisbar und damit nicht als eigene Kategorie bei der Unfallaufnahme erfasst wird. Fachleute gehen davon aus, dass in Deutschland mindestens jeder zehnte Unfall durch Ablenkung verursacht wird. „Wir brauchen mehr Daten, auch mit Blick auf die intensivere Erforschung der Wechselwirkungen zwischen Fahrzeug- und Verkehrstechnik, Ablenkung und Überforderung“, fordert daher DVR-Hauptgeschäftsführer Christian Kellner. Darüber hinaus sei es notwendig, die Unfallursache „Ablenkung“ in der EU einheitlich zu erfassen. Standardisierte Ablenkungsaufgaben in der Fahrerlaubnisprüfung und der Fahrausbildung sowie die Berücksichtigung des Themas in der Berufsfahrerweiterbildung seien weitere wichtige Aspekte. Außerdem müssten die gesetzlichen Vorschriften für die Nutzung von modernen Kommunikationsmitteln bei der Verkehrsteilnahme dringend aktualisiert werden, „denn sie stammen aus vorsintflutlichen verkehrsrechtlichen Zeiten“, so Christian Kellner.
Autor
Sven Rademacher Referatsleiter Presse beim Deutschen
Verkehrssicherheitsrat
E‑Mail: SRademacher@dvr.de