Menschen unterschiedlichen Geschlechts, Alters, Ethnizität und Nationalität, sexueller Identität, Behinderung und Befähigung sowie religiöser Anschauung sollten niemals aufgrund ihrer Andersartigkeit benachteiligt werden – das ist ja der Kern des Themas Diversität – aber es passiert trotzdem. Welche Auswirkungen haben Benachteiligungen im Allgemeinen und bei der Arbeit?
Poppelreuter: Benachteiligungen, eine als ungerecht empfundene Behandlung oder auch offene unsachgemäße Kritik und Beleidigungen haben immer einen Einfluss auf menschliches Wohlbefinden. Je nach Ausmaß und Häufigkeit können sie krankmachen oder aber auch zu massiven Gegenreaktionen führen. Am Arbeitsplatz stiften sie Unfrieden, beeinträchtigen das Betriebsklima und fördern verdeckte oder auch offene Feindseligkeiten, die im schlimmsten Fall zu massiven verbalen oder auch handgreiflichen Auseinandersetzungen führen können.
Windemuth: Zudem bewirken systematische Benachteiligungen nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, sondern auch bei Erwachsenen eine Verunsicherung oder negative Veränderung der Identität. Jede Benachteiligung, jede Diskriminierung beinhaltet eine brutale Aussage: „Du bist ein schlechterer Mensch als wir“. Bekommen Menschen über längere Zeit bestimmte Eigenschaften zugeschrieben, übernehmen sie diese in ihr Bild von sich selbst. Oder, wenn diese Zuschreibung gar nicht zum bestehenden Selbstbild passt, werden Menschen in ihrer Identität verunsichert. Damit ist der Weg in eine psychische Krankheit schon fast gebahnt.
Bedingt durch den aktuellen Krieg (Stand heute: 29. März 2022) in der Ukraine gibt es mit Sicherheit auch in dem einen oder anderen Unternehmen Anfeindungen oder auch eisiges Schweigen zwischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern russischer und ukrainischer Herkunft. Dazu gibt es historisch gewachsene Urteile und Vorurteile, auch zum Beispiel zwischen Mitarbeitenden aus Polen, Rumänien und Menschen aus dem Baltikum und nicht zuletzt auch von uns Deutschen. Wie sehr sehen Sie dies als Problem im Arbeitsumfeld?
Windemuth: Ja, Anfeindungen bis zur Verfolgung und Ermordung von Menschen in der Öffentlichkeit, weil sie aus einer anderen Kultur oder einem anderen Land kommen, sind leider Realität. Allerdings wissen die meisten, dass nicht jeder einzelne Mensch alle Entscheidungen seiner Staatsführung mitträgt. Und auch die meisten Russen wollen keinen Krieg, verstehen ihn auch nicht. Wer kann schon einen Krieg verstehen? Russen und Ukrainer sehen sich nicht grundsätzlich als Feinde. Im Gegenteil, auch in Deutschland gibt es zwischen ihnen viele Freundschaften. Deshalb ist es sehr wichtig, wie die Medien, auch die sozialen Medien, mit dem Thema umgehen. Nicht „die Russen“ führen Krieg, es ist die russische Staatsführung, die Krieg führt. Gegen den Willen sehr vieler Russen. Sprechen wir von „den Russen“ oder „den Ukrainern“, geht der einzelne Mensch unter und Vorurteile können gedeihen.
Poppelreuter: Stereotype und Vorurteile sind so alt wie die Menschheit, insbesondere solche, die auf nationalen oder religiösen Fundamenten aufsetzen. Je stärker solche Urteile mit Emotionen verbunden sind, umso brenzliger kann die Situation werden. Man kann das jedes Wochenende in den Fankurven der Bundesligastadien beobachten. Auch in Betrieben kann sich diese Abgrenzung finden. Hier spielen Faktoren wie Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft und viele andere mehr eine Rolle. Die in vielen Unternehmen vorgeblich praktizierte Diversität ist leider noch längst nicht in allen Köpfen angekommen, sodass es hier auch immer wieder zu Konflikten kommt. Ethnische oder religiöse Konflikte – insbesondere von Menschen aus anderen Kulturkreisen und geographischen Regionen – irritieren uns hier in Deutschland mitunter ob der Heftigkeit, mit der sie ausgetragen werden. Dennoch müssen wir solche Auseinandersetzungen ernst nehmen. Das fängt bei der sprachlichen Verständigung an, setzt sich über die Akzeptanz religiöser Praktiken und Vorschriften fort und endet bei notwendigen Anpassungen der Arbeitsprozesse noch längst nicht. Denken Sie beispielsweise an die veränderte Nahrungsaufnahme gläubiger Muslime während des Ramadans. In der aktuellen Situation können sich Animositäten zwischen russischen und ukrainischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitsnehmern selbstverständlich nachteilig auf das Betriebsklima und die Zusammenarbeit auswirken.
Was können Unternehmen und auch Mitarbeitende aus der Arbeitssicherheit und HSE tun, um ein friedliches Miteinander zu fördern, zu vermitteln oder zu „helfen“?
Poppelreuter: Es ist wichtig, sich auf mögliche Konflikte und Auseinandersetzungen einzustellen und diese auch zu verstehen. So mag es sinnvoll sein, Führungskräfte, aber auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf solche Konfliktpotenziale aufmerksam zu machen und gegebenenfalls sogar im Umgang mit ihnen zu schulen. Solche Herausforderungen ergeben sich aber nicht nur aus ethnischen Differenzen, denken Sie nur an die aktuell immer noch und wahrscheinlich auch noch längere Zeit die Betriebe beschäftigenden unterschiedlichen Ansichten zum Thema Impfen in der Coronakrise. Hilfreich sind hier klare Vorgaben seitens der Unternehmensleitung. Regeln, die verdeutlichen, wie mit solchen konkreten Konflikten umgegangen wird und die festsetzen, dass diskriminierende Äußerungen oder Handlungen keinesfalls geduldet werden, von Straftaten wie Beleidigung, Volksverhetzung oder Körperverletzung ganz zu schweigen. Zusätzlich aber bedarf es der Information, Aufklärung und des wiederkehrenden Appells für ein friedliches Zusammenarbeiten. Unterstützend können auch Veranstaltungen sein, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlichen Glaubens oder unterschiedlicher politischer Orientierung zusammenführen und in den Austausch bringen.
Windemuth: Das Zusammenführen kann auch anderswo erfolgen. Menschen, die gemeinsame Arbeiten verrichten, können sich persönlich besser kennenlernen. Das hilft gegen Vorurteile beziehungsweise baut diesen vor. Gemeinsamer Sport verbindet, gemeinsame Erfolge und so weiter. Das ist nicht immer ein Selbstläufer – zum Beispiel im Wettkampf können auch Streitigkeiten entstehen. Deshalb müssen entsprechende Aktivitäten gut vorbereitet sein und geführt werden. Eine besondere Rolle kommt auch bei diesem Thema den Sicherheitsbeauftragten zu. Sie sind in der Regel im Betrieb anerkannt, weil sie bei den Kollegen vor Ort sind. Weil sie die gleiche Sprache wie die meisten anderen Beschäftigten sprechen und auf dem Gebiet von Sicherheit und Gesundheit qualifiziert sind. Dadurch sind sie auch Vorbilder. So können sie im Betrieb als Vorbilder im wertschätzenden Umgang mit Menschen aus allen Ländern präventiv wirken. Im Falle von Konflikten können sie aber auch vermitteln – als eine akzeptierte Person aus der Belegschaft.
Wie gingen Unternehmen und Organisation bisher mit der Vielfalt speziell im Hinblick auf Ethnizität und Nationalität um? Wie sehr wird dies Ihrer Meinung nach kurz- und mittelfristig stärker Thema sein?
Poppelreuter: Wir erleben im Vordergrund ja auf allen Ebenen unseres gesellschaftlichen Zusammenseins eine permanente Betonung der Wichtigkeit von Diversität, Gerechtigkeit und Toleranz. Das ist die eine Seite. Anderseits erfahren wir immer wieder – als Betroffene oder aber aufmerksame Beobachterinnen und Beobachter – dass es im Alltag mitunter anders aussieht. In den Unternehmen kommt es auch heute noch immer wieder zu Beleidigungen, Konflikten und mitunter sogar Schlägereien, wenn unterschiedliche Nationalitäten aufeinandertreffen. Dieses Problem gibt es nicht erst seit dem Ukraine-Krieg. Unternehmen und Organisationen waren also immer schon aufgefordert, solchen Phänomenen gegenüber sensibel zu sein und im konkreten Fall auch unmissverständlich einzugreifen. Im Zeitalter der Globalisierung und der Tatsache, dass in bestimmten Arbeitsfeldern immer mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter divergierender Nationalitäten arbeiten werden, wird dieses Thema die Betriebe weiterhin und das auch intensiver beschäftigen. Die Entwicklung entsprechender „Onboarding Programme“, aber auch Aufklärung und klare Rahmenbedingungen gehören hier zum künftigen 1x1 in den Unternehmen. Es ist übrigens ein Thema, das in Deutschland aus unterschiedlichen Gründen – Stichwort historische Schuld – besondere Beachtung verdient, das aber auch aufgrund unserer nach wie vor nicht immer wirklich klaren Haltung gegenüber divergierenden Nationalitäten und Religionen beispielsweise hochsensibel ist.
Windemuth: Ja, Haltung zeigen ist vor allem wichtig. Haltung und Wertschätzung sowohl auf der kollegialen Ebene als auch in der Führung und in der Beziehung zum Vorgesetzten. Wir als Deutsche müssen uns unserer historischen Schuld immer bewusst sein, auch wenn keiner von uns mehr an den Verbrechen der Nazis beteiligt war. Niemand hat das Recht, diese Schuld als abgeschlossene Vergangenheit zu definieren. Wertschätzung, vor allem grundsätzliche Wertschätzung des Lebens, schließt jede Form von Hass, Aggression und Gewalt aus. Und auch nach dem Ende der Nazi-Diktatur in Deutschland haben sich hier vereinzelt Menschen und Unternehmen nicht korrekt verhalten. Denken wir an die Zeit, als viele Migranten zu uns kamen. Egal ob sie in den 60er Jahren aus Gründen der Arbeitssuche oder in den 70er Jahren als Boat-People aus Vietnam kamen, um zu überleben. Es hatte seinen Grund, dass der verehrte Dichter Max Frisch schon 1961 den bis heute viel zitierten Satz schrieb: „Wir riefen Arbeitskräfte, es kamen aber Menschen“. Nicht ohne Grund ist Mitte der 80er Jahre die geniale gewerkschaftliche Initiative „Mach meinen Kumpel nicht an“ entstanden – noch heute sieht man die „gelbe Hand“ als Zeichen gegen Rassismus und Rechtsextremismus immer mal wieder. In den Betrieben ging es hin und wieder ruppig zu, wenn unterschiedliche Nationalitäten aufeinandertrafen. Insofern ist es gut und wichtig, dass eine große gesellschaftliche Sensibilität gegenüber Rassismus und Diskriminierung entstanden ist, die dann auch in die Betriebe getragen wurde. Wer heute im Betrieb oder in der Öffentlichkeit gegen Menschenrechte verstößt, kann nicht mehr davon ausgehen, dass das schweigend toleriert wird. Das bedeutet leider keine Sicherheit gegen unwürdiges Verhalten. Es verringert aber die Wahrscheinlichkeit seines Auftretens.
Menschen sind verschiedenartig, heterogen. Dies hat schon immer zu Reibungen und Konflikten geführt. Wie Sie schon betont haben, braucht es Haltung, Kommunikation, Wertschätzung und Rücksichtnahme, um hier positive Akzente zu setzen. Und wenn sich zwei Mitarbeiter prügeln oder lauthals anschreien, was können und sollten Kolleginnen, Kollegen und Vorgesetzte tun?
Poppelreuter: Keine Frage, hierbei handelt es sich um absolut nicht zu tolerierende Verhaltensweisen, die ein unmittelbares und nachhaltiges Einschreiten erfordern. Dazwischen gehen ist das eine, die Sanktion der Urheberinnen oder Urheber des Konflikts ist das andere. Man kann Betrieben immer wieder nur nahelegen, hier unmissverständlich und sehr deutlich zu agieren. Nun ist es aber häufig so, dass sich nicht hinreichend klar ermitteln lässt, wer „angefangen“ hat. Abseits einer möglicherweise strafrechtlichen Aufarbeitung der Geschehnisse, für die Polizei und Justiz zuständig sind und die die Betriebe auch diesen Institutionen überlassen sollten, sollte offen und transparent kommuniziert werden, dass solche Verhaltensweisen absolut inakzeptabel sind und mit allen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten sanktioniert werden. Neben der Strafandrohung sollte es aber immer auch prophylaktische Angebote geben, zum Beispiel entsprechende Kommunikationsmaßnahmen, Schulungen ausgewählter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur Konfliktmediation oder auch die Einrichtung einer Ansprechstelle im Hause.
Windemuth: Ja, wie immer im Leben ist Prävention besser und effektiver als Intervention. Die beste Prävention ist eine gute Präventionskultur in einem Betrieb. In einem Betrieb, in dem Sicherheit und Gesundheit hohe Priorität genießen, haben Hass und Gewalt keinen Platz. Stattdessen ist eine vertrauensvolle und wertschätzende Grundhaltung die Voraussetzung für die Arbeit und den Umgang miteinander. Die gesetzliche Unfallversicherung hat mit ihrer Kampagne „kommmitmensch“ bis zum letzten Jahr diese Kernelemente der Präventionskultur in vielen Betrieben verankert. Das war nur möglich, weil eine große Mehrheit der Beschäftigten und der Arbeitgeber diese Werte ohnehin schon hoch priorisiert hatten.
Was sind die Grundbedingungen in Unternehmen für die gute Zusammenarbeit von Menschen verschiedener internationaler Herkunft und unterschiedlicher kultureller Hintergründe?
Poppelreuter: Ganz klar Toleranz, Akzeptanz und auch Wissen, um verstehen zu können. Es hilft ungemein, wenn man kulturelle Gepflogenheiten, aber auch religiöse Rituale und deren Hintergründe kennt.
Windemuth: Ja, genau, ergänzt nur um Vertrauen und Achtung vor dem Leben.
Welche konkreten Maßnahmen können Unternehmen angehen, um die Diversität zu fördern? Und auf die aktuelle Situation bezogen: Wie können Konflikte zwischen Menschen unterschiedlicher Nationalität reduziert werden?
Poppelreuter: Das Thema Diversität muss einen ganzen Betrieb durchziehen. Das fängt an bei einem „Regelwerk“, das im Unternehmen gilt. Größere Betriebe haben hier Leitbilder, oder aber auch einfach ein gemeinsames Verständnis, wie man miteinander arbeiten möchte. Weiterhin sollte bei Personalauswahlentscheidungen auf Diversität geachtet werden, wo immer möglich. Nur am Rande: Diversität ist in Zukunft ein „must have“ in immer mehr Betrieben. Soziodemographische Entwicklungen, aber auch die Globalisierung und die tiefgreifenden Veränderungen in unserer Gesellschaft machen Diversität unabdingbar. Diversität kann man auch „lernen“, das heißt Betriebe sollten über geeignete Kommunikationsmaßnahmen oder auch Veranstaltungen für das Thema sensibilisieren. Man kann zum Beispiel zur Weihnachtszeit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gezielt über Traditionen und Rituale zur Weihnachtszeit in ihren Herkunftsländern berichten lassen, gerne auch bei entsprechendem Backwerk. Führungskräfte sollten auf das Thema aufmerksam gemacht und darin unterstützt werden, Diversität zu fördern und auch vorzuleben. Aus der Sozialpsychologie wissen wir, dass es über persönlichen Kontakt häufig gelingt, sich besser kennenzulernen und auch gegenseitige Sympathie zu entwickeln. Man kann auch Schulungen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durchführen, die auf das Thema Stereotype und Vorurteile einzahlen. Gemeinschaftliche Interessen – hier vor allem der Sport – können eine gute Plattform für ein gemeinsames Tun sein, wodurch Freundschaften entstehen können. Natürlich braucht es hierfür Offenheit und Bereitschaft auf allen Seiten. Wohl auch Geduld und einen langen Atem, denn zumindest aktuell leben wir eher in einer Zeit und einer Welt, die auf Abgrenzung, Abschottung und die Macht des Stärkeren setzt. Allesamt schlechte Bedingungen für ein diverses Leben und Arbeiten.
Ist das Thema Diversitäts-Management ausschließlich etwas für Großunternehmen?
Poppelreuter: Auf keinen Fall! Auch wenn Großunternehmen hier häufiger – alleine aufgrund der größeren Zahl an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – mit dem Thema Diversität konfrontiert sind, ist es ein Thema, das uns alle betrifft, im Übrigen nicht nur am Arbeitsplatz. Gerade kleine Betriebe und Unternehmen haben gute Voraussetzungen, Stereotype und Vorurteile abzubauen, da man sich dort zwangsläufig eher kennenlernt. Ein gutes Beispiel für eine übergreifende Initiative in diesem Feld ist übrigens die schon erwähnte Kampagne „Mach meinen Kumpel nicht an!“ – für Gleichbehandlung, gegen Rassismus e.V.“ Hierbei handelt es sich um eine gewerkschaftliche Initiative gegen Rassismus und Rechtsextremismus, die 1986 ins Leben gerufen wurde. Der Verein ist laut DGB eine der ältesten antirassistischen Organisationen in Deutschland. Auch kleinere und Kleinstbetriebe können sich hier informieren und auch mitmachen.
Windemuth: Diese Initiative, die aus dem Verein heraus entstanden ist, verdeutlich aber auch noch etwas anderes Wichtiges: Beschäftigte in Betrieben, egal ob klein oder groß, sind ein Teil der Gesellschaft. Die „Gelbe Hand“-Bewegung war zwar von Gewerkschaften initiiert, sie wurde aber ein Teil der Gesellschaft. Umgekehrt: Wenn in der Gesellschaft oder in einzelnen Regionen Rassismus, Intoleranz und Menschverachtung toleriert werden, dann schwappt das auch in die Betriebe über. Und andersherum auch, insofern dürfen wir nicht nur den Betrieben Aufgaben zuweisen. Wir sind als Gesellschaft gefragt – und als Beschäftigte in Betrieben.
Subtiler Alltagsrassismus: Für wie gefährlich halten Sie dies, denn es ist ja damit zu rechnen, dass der kalte Krieg zwischen der westlichen Welt und Russland weiter anhält.
Poppelreuter: Rassismus, Extremismus, Diskriminierung, alle Entwicklungen in diese Richtung führen letztlich zu Spaltungen, Konfrontationen und im schlimmsten Fall zu massiven Konflikten. Aus der Konfliktforschung wissen wir, wie wichtig die Regel „principiis obsta“ ist – wehret den Anfängen! Auch subtile Handlungen oder Äußerungen, die rassistisch sind, die radikalisieren oder beleidigen, sind konsequent anzusprechen und zu unterbinden. „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“, ist keine Legitimation und auch keine Entschuldigung für entsprechendes Tun. Auch wenn es manchmal schwerfällt, sich mit entsprechenden Gedanken, Gefühlen und Forderungen von Betroffenen auseinanderzusetzen – es ist unser aller Pflicht, Diversität zu etwas völlig Normalem zu machen, da sie für unseren gesellschaftlichen und persönlichen Wohlstand zentral wichtig ist. Ohne Diversität verlieren wir alle.
Windemuth: Subtiler Rassismus ist auch deshalb gefährlich, weil er die Grenzen verschiebt. Erst geht nur etwas, dann mehr, dann ist es zu spät. „Wehret den Anfängen“, das sehe ich auch so, ist ein Muss. Und das Gute ist ja: Es sind immer mehr, die das so sehen und eine „Null-Toleranz-Mentalität“ vertreten. Das stimmt mich optimistisch, auch für den Krieg in der Ukraine beziehungsweise die Menschen, die zu uns kommen, um zu leben.
Kränkungen sind etwas, über das nicht sehr oft im Unternehmenskontext gesprochen wird. Aber Kränkungen machen krank, heißt es. Subtiler Alltagsrassismus, Mobbing und viele weitere Dinge kränken. Kränkungen führen zu Gewalt und Kriminalität, Kriegen und Terrorismus. Und wirken auch in Unternehmen. Braucht dieses Thema auch mehr Aufmerksamkeit in den Unternehmen?
Poppelreuter: Was wir brauchen, ist eine Kultur des Hinschauens, nicht nur in den Unternehmen, aber auch da. Wir müssen sensibilisieren, ohne zu verschrecken. Sichtbare Probleme und Konflikte sind anzugehen, regelmäßige Check-ups, zum Beispiel in Form von Mitarbeitendenbefragungen oder auch im Rahmen von Gefährdungsbeurteilungen psychische Belastungen am Arbeitsplatz können wichtige Gradmesser dafür sein, ob im Unternehmen etwas „faul“ ist oder Diversität tatsächlich mehr ist als nur eine starke Behauptung. Wachsamkeit und Achtsamkeit sind hier wichtige Voraussetzungen, ohne aber zu überziehen. Denn aus der Sozialpsychologie wissen wir auch, dass eine zu starke Fokussierung auf zahlenmäßige Minderheiten zu Reaktanzeffekten auf Seiten der Mehrheit führen kann. Oder anders formuliert: Zu viel des Guten kann Verschlimmbesserung zur Folge haben.
Windemuth: Das bemerkt man an den Diskussionen um die „Cancel Culture“. Jede starke Bewegung führt zu einer Gegenbewegung. Und jede Übertreibung führt dazu, dass sich Menschen von einer Bewegung abwenden. Wir dürfen es nicht übertreiben. Wenn ich eins meiner wichtigsten und ehrenvollsten Worte meiner Kindheit, das „Indianerehrenwort“ nicht mehr verwenden darf, weil es diskriminierend ist, dann kann ich das nicht verstehen, weil es subjektiv nicht stimmt. Auch wenn das begründbar ist, gehen wir mit solchen Dingen zu schnell oder auch zu übertrieben voran. So verlieren wir die Unterstützer unserer großen Sache.
Und zum Schluss: Die AU-Tage aufgrund von psychischen Krankheiten sind ja, auch vor dem Hintergrund der Coronapandemie, in den vergangenen Jahren immer höher gestiegen. Dazu noch der Klimawandel sowie die Ängste und Unsicherheiten bezüglich des gerade herrschenden Krieges und der Drohungen in Richtung Europa, die nächste Rezension kündigt sich an, die Inflation und vor allem die Energiepreise dürften weiter steigen, alles wahrlich kein Grund für Freude. Was kann jede Einzelne und jeder Einzelne für sich und was können Arbeitgeber tun, um seelisch gesund zu bleiben?
Poppelreuter: Die eigene Verantwortung erkennen, Handlungsspielräume wahrnehmen – das ist es, was sowohl Unternehmen als auch jede Einzelne, jeder Einzelne tun kann. Aus der Resilienzforschung wissen wir, was uns Menschen, aber auch Organisationen dabei helfen kann, robuster zu werden hinsichtlich der alltäglichen Herausforderungen und Bedrohungen, denen wir uns gegenübersehen. Eine optimistische Grundhaltung, aber auch lösungs- und zukunftsorientiertes Handeln können hier hilfreich sein. Der österreichische Neurologe und Psychiater Viktor Frankl sagt: „Mensch-sein heißt Bewusst-sein und Verantwortlich-sein.“ In diesem Sinne müssen wir uns immer wieder reflektieren und uns der Herausforderungen bewusst werden. Und wir müssen Verantwortung übernehmen, für uns selbst, unsere Mitmenschen und unseren Planeten. Denn wenn wir es nicht tun, tut es kein anderer.
Windemuth: Antonovsky, der Begründer der Salutogenese, hat ein paar Aspekte genannt, die wichtig sind dafür, dass wir auch in schweren Zeiten gesund bleiben. Wir müssen die Dinge, die geschehen, verstehen können. Wir müssen davon überzeugt sein, dass Dinge uns nicht nur geschehen, sondern dass wir auch viel im eigenen Leben gestalten können. Und wir müssen davon überzeugt sein, dass unser eigenes Handeln dazu beitragen kann, dass sich unser Leben in die gewünschte Richtung verändert. Das sind die Grundsäulen dafür, dass wir auch gesund durch schwere Zeiten kommen.

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Herr Windemuth und Herr Poppelreuter, vielen Dank für Ihre Antworten!