Epilepsie aus Sicht der Arbeitssicherheit
Dass ein erster epileptischer Anfall am Arbeitsplatz sowohl beim Betroffenen wie in seinem Umfeld für Verunsicherung und Ängste sorgt, ist verständlich. Doch Panik ist unangebracht, wie ein nüchterner Blick in die Zahlen zeigt:
- Etwa einer von 20 Menschen erlebt im Lauf seines Lebens mindestens einen epileptischen Anfall.
- Nur bei etwa einem von 100 Menschen treten Anfälle ohne ersichtlichen Auslöser mehrfach auf und erst dann spricht man von Epilepsie als Erkrankung.
- Meist können Medikamente weitere Anfälle verhindern, nur bei etwa drei von zehn Erkrankten greift die Therapie nicht.
Auf den Betroffenen eines Erstanfalls kommen zunächst neurologische Untersuchungen inklusive Elektroenzephalografie (EEG) zu. Mögliche Ursachen und Anfallsauslöser sind möglichst rasch zu klären. Eine Therapie mit Antiepileptika beginnt i. d. R. erst, wenn tatsächlich weitere Anfälle folgen.
Gefährdungen individuell beurteilen
Auch der betriebliche Arbeitsschutz muss zeitnah reagieren. Denn durch Stürzen, Bewusstseinsverlust oder eine unangemessene Handlung kann der Kollege sich oder andere gefährden. Somit müssen Risiken am Arbeitsplatz neu beurteilt und Schutzmaßnahmen angepasst werden. Die entscheidende Frage ist, welche Tätigkeiten derjenige weiter – gegebenenfalls mit neuen Sicherheitsvorkehrungen – ausüben darf.
Hier ist insbesondere der Betriebsarzt gefragt, auf Basis des neurologischen Befunds sowie einer Arbeitsplatzbegehung gemeinsam mit der Fachkraft für Arbeitssicherheit und dem Betroffenen die konkreten anfallsbedingten Gefährdungen zu analysieren. Zu kritischen Tätigkeiten gehören zum Beispiel solche mit Absturzgefahr, das Führen von Maschinen und Fahrzeugen, das Anheben von Personen in der Pflege oder das Betreuen von Kleinkindern.
Unterstützung beim Beurteilen beruflicher Risiken bei Epilepsie finden Sicherheitsverantwortliche in der DGUV Information 250–001. Sie erläutert das Vorgehen von der tätigkeitsbezogenen Gefährdungseinschätzung nach einem ersten Anfall bis zu den längerfristig relevanten arbeitsmedizinischen Kriterien und unterschiedlichen Gefährdungskategorien für bestimmte Tätigkeiten und Berufsgruppen.
Gleichwohl kann eine solche Broschüre nur eine Orientierung vorgeben, letztlich kommt es stets auf den Einzelfall, das heißt die individuelle Person und ihre Arbeitsplatzsituation vor Ort an.
Weiterarbeit ist meist möglich
Oberstes Ziel sollte stets sein, den betroffenen Mitarbeiter nicht leichtfertig in die Frührente zu schicken. Denn die Diagnose Epilepsie bedeutet keineswegs automatisch, dass jemand arbeitsunfähig wäre, ganz im Gegenteil. In vielen Fällen kann der Betrieb auf bewährte Schutzprinzipien zurückgreifen, um epilepsiekranken Beschäftigten das Weiterarbeiten zu ermöglichen.
Das können technische Maßnahmen sein wie Lichtschranken und Abdeckhauben an Maschinen mit gefahrbringenden Bewegungen, ein Sturzsensor bei Alleinarbeit oder eine Hebehilfe in einem Pflegeberuf. Organisatorisch kann geregelt werden, denjenigen zeitlich befristet an einem weniger gefährlichen Arbeitsplatz einzusetzen oder dass bei bestimmten Einzelaufgaben mit erhöhtem Risiko eine Kollegin oder ein Kollege übernimmt. Fast in jedem Beruf und jeder Branche lassen sich bei sorgsamer Betrachtung viele Tätigkeiten beschreiben, für die selbst eine therapieresistente Epilepsieerkrankung kein zwingender Hinderungsgrund ist.
Dauer der Anfallsfreiheit ist entscheidend
Ganz wichtig ist zudem, die Gefährdungsbeurteilung nicht statisch zu sehen, sondern sie anhand der konkreten Situation nachzujustieren. Denn zentrale Kriterien sind die Häufigkeit der Anfälle und die Zeitdauer ohne neue Anfälle. Ist der Mitarbeiter ein Jahr anfallsfrei, können meist viele Einschränkungen wieder aufgehoben werden, derjenige darf zum Beispiel wieder Pkw fahren. Deutlich strenger sind die Empfehlungen bei Tätigkeiten mit sehr hohen Risiken. So dürfen zum Beispiel Gerüstbauer und Taxifahrer erst nach fünf Jahren Anfallsfreiheit ohne Medikation wieder voll im Beruf stehen.
Epileptischer Anfall am Arbeitsplatz
In Deutschland leben etwa 600.000 epilepsiekranke Menschen, davon ist die Hälfte im arbeitsfähigen Alter. Ein neues Praxishandbuch geht das Thema aus den Perspektiven Neurologie, Arbeitsmedizin und Arbeitssicherheit an und richtet sich an Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit sowie Fach- und Betriebsärzte. Es greift die Kriterien der DGUV Information 250–001 auf, ist aber deutlich praxisbezogener. Denn für ausgewählte berufliche Tätigkeiten zeigt das Buch eine epilepsiespezifische Risikomatrix und nennt konkrete Vorschläge zum Arbeitsschutz.
Darüber hinaus befassen sich die Autoren mit medizinischen und rechtlichen Aspekten, die durch die DGUV Information nicht abgebildet werden. Dabei geht es zum Beispiel um die Frage, inwiefern Arbeitnehmer oder Bewerber verpflichtet sind, dem Arbeitgeber eine Epilepsie zu melden, aber auch um Rehabilitation, Leistungen der Arbeitsagentur, Mobilitätshilfen und andere Unterstützungsmöglichkeiten für Betroffene.
Erste Hilfe-Maßnahmen bei epileptischen Unfällen
Ersthelfer sollten den Betroffenen
- nicht festhalten und nichts zwischen die Zähne schieben
- vor Verletzungen schützen (Kopfunterlage!)
- in die stabile Seitenlage bringen
- nicht alleine lassen, bis dieser wieder voll orientierungsfähig ist
Wann ist ein epileptischer Anfall ein Notfall?
- wenn der Anfall länger als drei Minuten dauert
- wenn es zu einer Anfallsserie kommt
- wenn es erstmalig zu einem Anfall kommt
- wenn sich der Betroffene schwerer verletzt hat
Autor:
Dr. Friedhelm Kring