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Explosionen und unterschiedliche Ereignisse mit Ammoniumnitrat

Explosionen in Beirut, Tianjin, Toulouse und Oppau Teil 1
Ereignisse mit Ammoniumnitrat – Unterschiede und Gemeinsamkeiten

Die Explo­sio­nen in Beirut, Tian­jin, Toulouse und Oppau kön­nen auf die Det­o­na­tion großer Men­gen Ammo­ni­um­ni­trat zurück­ge­führt wer­den. Sie zählen zu den schw­er­sten Indus­trie­unglück­en der jün­geren Ver­gan­gen­heit. In der Folge wur­den ver­schiedene Regel­w­erke angepasst. Der Beitrag beschreibt im ersten Teil die Ereignisse, im zweit­en Teil erfol­gt eine Auswer­tung der Gemein­samkeit­en und Unter­schiede und der Abgle­ich mit dem deutschen Regelwerk.

Vor einem Jahr wurde die libane­sis­che Haupt­stadt Beirut durch eine Explo­sion erschüt­tert, welche große Teile der Stadt ver­wüstete und zahlre­iche Todes­opfer sowie Ver­let­zte forderte. Als Explo­sion­sur­sache kon­nte bald darauf die Det­o­na­tion von gelagertem Ammo­ni­um­ni­trat (AN) iden­ti­fiziert wer­den. Wie die fol­gende Aufzäh­lung zeigt, war dies nicht das erste Ereig­nis in Verbindung mit AN [18, 21]:

  • 2020 Beirut (Libanon): Explo­sion in einem Hafengebäude
  • 2015 Tian­jin (Chi­na): Explo­sion in einem Gefahrgutlager
  • 2013 Texas (USA): Explo­sion in ein­er Düngemittelfabrik
  • 2004 Ryong­chon (Nord­ko­rea): Zugunglück in einem Bahnhof
  • 2001 Toulouse (Frankre­ich): Explo­sion in ein­er Chemiefabrik
  • 1995 Okla­homa City (USA): Anschlag auf ein Regierungsgebäude
  • 1947 Texas City (USA): Schiff­s­ex­plo­sion in einem Hafen
  • 1947 Brest (Frankre­ich): Schiff­s­ex­plo­sion in einem Hafen
  • 1921 Oppau (Deutsch­land): Explo­sion in ein­er Düngemittelfabrik

(Aufzäh­lung nicht abschließend)

Die Ereignisse wur­den in ver­schiede­nen Pub­lika­tio­nen aufgear­beit­et und analysiert. Jedoch ist anzumerken, dass diese Veröf­fentlichun­gen unter­schiedliche Zielset­zun­gen ver­fol­gen (beispiel­sweise Ursach­en­er­mit­tlung oder Bes­tim­mung der Auswirkun­gen). Dadurch ist es nur bed­ingt möglich, die Ereignisse anhand der vorhan­den Berichte zu ver­gle­ichen, auch weil unter­schiedliche örtliche, zeitliche und räum­liche Bedin­gun­gen die Explo­sio­nen prägten.

Auf­grund der erkan­nten Prob­lem­stel­lung wurde in einem Mas­ter­pro­jekt der Tech­nis­chen Hochschule Köln am Insti­tut für Ret­tungsin­ge­nieur­we­sen und Gefahren­ab­wehr unter­sucht, ob Gemein­samkeit­en und Unter­schiede bei den Ammo­ni­um­ni­trat-Ereignis­sen in Beirut (2020), Tian­jin (2015), Toulouse (2001) und Oppau (1921) erkennbar sind.

Eigenschaften von Ammoniumnitrat

AN ist ein kristalliner Fest­stoff, welch­er durch die Neu­tral­i­sa­tion­sreak­tion von Ammo­ni­ak (NH3) mit Salpeter­säure (HNO3) entsteht:

NH3 + HNO3 –> NH4NO3

AN ist bei Raumtem­per­atur sta­bil und bei sachgemäßer Hand­habung gehen keine Gefährdun­gen davon aus. Jedoch zer­set­zt sich der Stoff, je nach Tem­per­atur, in unter­schiedliche Reak­tion­spro­duk­te mit unter­schiedlich stark­er Energiefreisetzung.

Haupt­säch­lich wird AN als Bestandteil in Düngemit­teln und in tech­nis­chen Sprengstof­fen ver­wen­det. Daher wird AN in zwei Klassen unterteilt, welche sich an der späteren Anwen­dung als Düngemit­tel oder Sprengstoff ori­en­tieren. Die chemis­che Zusam­menset­zung ist dabei iden­tisch, Unter­schiede find­en sich nur in der Dar­re­ichungs­form der Klassen. Zur land­wirtschaftlichen Anwen­dung (fer­til­iz­er grade oder FGAN) wird AN oft­mals in Pel­lets oder Gran­u­lat ver­presst, welch­es die weit­ere Ver­wen­dung vere­in­facht. Als Düngemit­tel ver­sorgt AN die Pflanzen mit Stick­stoff in Form von NH3. Bei tech­nis­chen Anwen­dun­gen (tech­ni­cal grade oder TGAN) wird eine möglichst große Ober­fläche angestrebt. Bei Sprengstof­fen dient AN als Oxidationsmittel.

Ereignis Beirut

Das jüng­ste katas­trophale Ereig­nis mit AN ereignete sich am 4. August 2020 gegen 18:00 Uhr Ort­szeit in der libane­sis­chen Haupt­stadt Beirut. Dabei wur­den weite Teile der Stadt ver­wüstet und es waren zahlre­iche Tote und Ver­let­zte zu beklagen.

Beirut liegt an der west­lichen Lan­des­gren­ze des Libanons direkt am Mit­telmeer. Auf­grund der Flüchtlingssi­t­u­a­tion im Nahen Osten ist es nicht möglich eine genaue Ein­wohn­er­an­zahl zu ermit­teln. Jedoch schätzt das BMZ, dass unge­fähr 4,4 Mil­lio­nen Men­schen im Großraum Beirut leben [6]. Beirut ist urban geprägt und das wirtschaftliche und kul­turelle Zen­trum des Lan­des. Die Explo­sion ereignete sich in einem Lager­haus im Hafen der Stadt, welch­er nördlich des Stadtk­erns lokalisiert ist und unmit­tel­bar an dicht bebaute Stadt­teile angrenzt.

Aus mehreren Bericht­en des Unit­ed Nations Office for the Coor­di­na­tion of Human­i­tar­i­an Affairs (OCHA) geht her­vor, dass die Anzahl der geschädigten Per­so­n­en im Zeitraum vom 5. bis zum 25. August 2020 von cir­ca 135 getöteten, 5000 ver­let­zten und 100 ver­mis­sten Per­so­n­en auf mehr als 180 getötete und 6500 ver­let­zte Per­so­n­en anstieg [19, 20].

Das GFZ hat die Explo­sion mit ein­er Mag­ni­tude von 3,5 auf der Richter­skala bes­timmt, wobei die Explo­sion noch in Zypern wahrgenom­men wer­den kon­nte [10]. In einem Umkreis von 500 Metern um das Zen­trum der Explo­sion wur­den nahezu alle Gebäude zer­stört, und in einem Radius von bis zu 1500 Metern schwere Schä­den an den Gebäu­den verur­sacht. Die Auswirkun­gen der Explo­sion beschädigten bis zu 3000 Meter ent­fer­nte Gebäude [7], darunter zahlre­iche Kranken­häuser und medi­zinis­che Ein­rich­tun­gen. Ins­ge­samt wur­den cir­ca 200.000 Wohnein­heit­en und 40.000 Gebäude beschädigt, wovon cir­ca 3000 stark beschädigt beziehungsweise zer­stört wur­den [20].

Der Ablauf der Explo­sion wurde von mehreren Quellen rekon­stru­iert. Auf­grund des noch ausste­hen­den Unter­suchungs­berichts liegt allerd­ings kein abschließend bestätigter Ereignis­ablauf vor. Jedoch kann ver­mutet wer­den, dass durch die ähn­lichen Ergeb­nisse unter­schiedlich­er Unter­suchun­gen der Ablauf aus­re­ichend genau nachvol­l­zo­gen wer­den kann.

Gemäß der Unter­suchung von Pas­man et al. wird das Ereig­nis auf eine Ver­ket­tung misslich­er Umstände, welche sich über mehrere Jahre hinge­zo­gen haben, zurück­ge­führt. 2014 wurde AN beschlagnahmt, nach­dem das trans­portierende Schiff auf­grund stark­er Beschädi­gun­gen nicht seetüchtig war und die Hafenge­bühren nicht zahlen kon­nte. Die Ladung von 2750 Ton­nen AN wurde in Schüttgut­säck­en in einem Lager­haus ein­ge­lagert. Zusät­zlich wur­den zu einem späteren Zeit­punkt höchst­wahrschein­lich auch Feuer­w­erk­skör­p­er und diverse andere brennbare Stoffe wie Öl, Kerosin und Zünd­schnüre dort ein­ge­lagert. Auf­grund der lan­gen Lagerzeit ist anzunehmen, dass sich das AN verän­derte, die Schüttgut­säcke beschädigt wur­den und sich AN im Lager­haus verteilte [16]. Zusät­zlich wird ver­mutet, dass keine aus­re­ichen­den Sicher­heit­skon­trollen in der mehrjähri­gen Lagerzeit erfol­gten [21].

Das eigentliche Ereig­nis wird in den Unter­suchungs­bericht­en und den Medi­en als eine Abfolge mehrerer kleiner­er Explo­sio­nen und ein­er darauf­fol­gen­den großen Det­o­na­tion beschrieben. Es wird ver­mutet, dass durch Heißar­beit­en an dem Lager­haus ein Feuer aus­brach, welch­es die Feuer­w­erk­skör­p­er entzün­dete oder dass die Heißar­beit­en selb­st zur Entzün­dung der Feuer­w­erk­skör­p­er führten. Ver­mut­lich zer­set­zte sich auf­grund der hohen Tem­per­a­turen das AN, welch­es die fatale Det­o­na­tion zur Folge hat­te [16].

Ereignis Tianjin

Am 12. August 2015 ereignete sich in Folge eines Feuers eine Explo­sion im Hafen der chi­ne­sis­chen Stadt Tian­jin. Gegen 22:51 Uhr Ort­szeit entzün­dete sich ein Seecon­tain­er mit Cel­lu­losen­i­trat (auch Nitro­cel­lu­lose genan­nt), da das für die ther­mis­che Sta­bil­ität erforder­liche Net­zmit­tel (ein Wass­er-Alko­hol-Gemisch) aus­getrock­net war. Die Ver­dun­stung wurde durch heiße Wet­terbe­din­gun­gen begün­stigt und die damit ein­herge­hende Insta­bil­ität des Cel­lu­losen­i­trats führte zur ther­mis­chen Zer­set­zung. Auf­grund des damit ver­bun­de­nen Druck­anstiegs kam es zum Bersten des Con­tain­ers und zu ein­er mas­siv­en Bran­daus­bre­itung, welche unter anderem 800 Ton­nen Ammo­ni­um­ni­trat erhitzte und zur chemis­chen Zer­set­zung brachte. Dadurch ereigneten sich zwei Explo­sio­nen, wobei auch weit­ere Stoffe, darunter Mag­ne­sium und Cal­ci­um­ni­trat, entzün­det wur­den [9].

Die Stadt Tian­jin liegt im Nor­den der Volk­sre­pub­lik Chi­na und ist cir­ca 120 km von der Haupt­stadt Peking ent­fer­nt. Die Explo­sio­nen ereigneten sich im Stadt­teil Bin­hai, welch­er cir­ca 50 km außer­halb des Stadtzen­trums liegt und in dem unge­fähr 3.000.000 Ein­wohn­er leben. Bin­hai ist die Hafenge­gend von Tian­jin und gren­zt direkt an das Bohai-Meer an, welch­es Teil des Gel­ben Meeres ist. Die Explo­sio­nen ereigneten sich auf dem Fir­men­gelände eines Logis­tikun­ternehmens für Gefahrgüter [2].

Infolge der bei­den Explo­sio­nen ent­standen auf dem Fir­men­gelände zwei Krater, ein­er mit einem Durchmess­er von 15 Metern und ein­er Tiefe von 1,1 Metern und ein weit­er­er mit einem Durchmess­er von 97 Metern und ein­er Tiefe von 2,7 Metern. Tragis­cher­weise wur­den 165 Men­schen getötet, weit­ere acht Men­schen als ver­misst gemeldet und anschließend für tot erk­lärt. Ins­ge­samt wur­den 798 Men­schen ver­let­zt [9].

In einem Radius von bis zu einem Kilo­me­ter wur­den Gebäude voll­ständig beziehungsweise bis auf die Stahlver­stärkun­gen zer­stört. Con­tain­er in diesem Bere­ich wur­den zer­ris­sen und durch die Luft gewirbelt. Bis zu einem Radius von zwei Kilo­me­tern stürzten Wände von Gebäu­den ein und Fen­ster wur­den zer­stört [13, 22]. Je nach Topografie wur­den Beschädi­gun­gen noch in ein­er Ent­fer­nung von bis zu 5,5 Kilo­me­tern fest­gestellt. Auf­grund der Erschüt­terung wur­den in ein­er Ent­fer­nung von 13,3 Kilo­me­tern zer­störte Fen­ster und Türen gemeldet [22]. Ins­ge­samt wur­den 304 Gebäude, 12.428 Fahrzeuge und 7.533 Con­tain­er zer­stört. Des Weit­eren wurde eine Vielzahl an Stof­fen freige­set­zt, welche unter­schiedliche Luft‑, Wass­er- und Boden­verun­reini­gun­gen verur­sacht­en [9].

Der Unter­suchungs­bericht der zuständi­gen Behör­den ergab, dass mehrere Entschei­dungsträger wissentlich unsichere und ille­gale Entschei­dun­gen getrof­fen haben und dem­nach das Ereig­nis als “account­abil­i­ty acci­dent” eingestuft wird. Maßge­bliche Fehler waren der unsichere Umgang mit Cel­lu­losen­i­trat und die ille­gale Lagerung von AN. Zusät­zlich wur­den Con­tain­er mit unzure­ichen­dem Abstand und zu hoch gelagert. Auf­grund dessen wur­den 171 Per­so­n­en ver­schieden­er Organ­i­sa­tio­nen (betrof­fene Fir­ma, Hafen­ver­wal­tung, Arbeitssicher­heits­be­hörde) verurteilt [9].

Ereignis Toulouse

Gegen 10:17 Uhr Ort­szeit ereignete sich am 21. Sep­tem­ber 2001 eine Explo­sion in der franzö­sis­chen Stadt Toulouse. Die Ursache für das Ereig­nis kon­nte nicht abschließend gek­lärt wer­den und es beste­hen ver­schiedene The­o­rien, wie es zur Explo­sion gekom­men sein könnte.

Die meist­disku­tierten Ursachen sind die Ver­mis­chung von deklassiertem1 AN mit Natri­umdichlo­riso­cya­nu­rat, ein elek­trisch­er Erd­schluss mit ein­herge­hen­dem Licht­bo­gen oder ein ter­ror­is­tis­ch­er Hin­ter­grund (Anmerkung: Das Ereig­nis in Toulouse geschah zehn Tage nach den Anschlä­gen auf das World Trade Cen­ter in New York, ein möglich­er Anschlag in Europa wurde zunächst nicht aus­geschlossen). In der vor­liegen­den Arbeit wird die verse­hentliche Ver­mis­chung von AN als Ursache the­ma­tisiert, welche von Fachkreisen [14] und der Jus­tiz als am wahrschein­lich­sten angenom­men wird [5].

Die Explo­sion ereignete sich auf dem Gelände ein­er Düngemit­telfab­rik, welche cir­ca 3 km südlich des Stadtk­erns lokalisiert war und unmit­tel­bar an urbane Bebau­ung angren­zte. Zum Zeit­punkt des Ereigniss­es lebten cir­ca 700.000 Ein­wohn­er in Toulouse, wovon cir­ca 16.000 Ein­wohn­er in einem Radius von 16 km um die Fab­rik ange­siedelt waren [4, 5].

In dem Lager­haus durften bis zu 500 Ton­nen deklassiertes AN ein­ge­lagert wer­den, am Tag der Explo­sion waren zwis­chen 300 und 400 Ton­nen gelagert. Da als Ursache wed­er ein Feuer oder eine ini­tiale Explo­sion in Betra­cht kom­men, wird die Explo­sion auf die Ver­mis­chung von AN mit Natri­umdichlo­riso­cya­nu­rat und die damit ein­herge­hende Entste­hung von Stick­stofftrichlo­rid (NCl3) zurück­ge­führt. Stick­stofftrichlo­rid ist stark insta­bil und explodiert unter anderem bei Berührung oder Ein­wirkung von Son­nen­licht [11].

In Folge der Explo­sion wur­den 31 Men­schen getötet, davon 22 Per­so­n­en inner­halb des Werks­gelän­des. Des Weit­eren wur­den 2242 Men­schen ver­let­zt und mussten behan­delt wer­den. Zusät­zlich wur­den 5079 Men­schen auf­grund psy­chis­ch­er Prob­leme behan­delt. Die Explo­sion verur­sachte einen Krater mit ein­er Größe von 65 mal 54 Metern mit ein­er Tiefe von 7 Metern [5].

Die Gebäude auf dem Werks­gelände wur­den teil­weise voll­ständig zer­stört und angren­zende Gebäude schw­er beschädigt. In einem Abstand von 3 Kilo­me­tern wur­den Scheiben zer­stört. Ins­ge­samt ent­stand ein Schaden von 150.000.000 Euro [5]. Infolge der Explo­sion bildete sich eine Rauch- und Staub­wolke aus Salpeter­säure, Ammo­ni­ak und weit­eren Stof­fen, welche zur Reizung der Atemwege führte, die sich jedoch rasch ver­flüchtigte [14].

Als Kon­se­quenz auf die Katas­tro­phe wur­den in den fol­gen­den Monat­en die notwendi­gen Schutz­ab­stände im Flächen­nutzungs­plan über­prüft und sechs chemis­che Fab­riken in diesem Indus­triege­bi­et geschlossen [5]. Des Weit­eren wurde die Rolle von Sub­un­ternehmern, welche in dem betrof­fe­nen Lager haupt­säch­lich arbeit­eten und ver­mut­lich nicht aus­re­ichend über die Gefahren­merk­male von AN informiert waren, unter­sucht [14].

Ereignis Oppau

Das let­zte Ereig­nis, das in dieser Arbeit betra­chtet wird, fand am 21. Sep­tem­ber 1921 in der pfälzis­chen Gemeinde Oppau statt. Gegen 7:32 Uhr Ort­szeit ereigneten sich zwei Explo­sio­nen, die das Werk, welch­es Stick­stoffdünger pro­duzierte, fast voll­ständig zer­störten [12].

Als Explo­sion­sur­sache kon­nten die plan­mäßi­gen Auflockerungsspren­gun­gen iden­ti­fiziert wer­den, welche auf­grund der Halden­lagerung des Düngers notwendig waren. Zur Zeit der Explo­sion erfol­gte in der Fab­rik die Her­stel­lung von Ammo­ni­um­sul­fat­ni­trat (ASN), welch­es auch Dop­pel­salz genan­nt wird und aus AN und Ammo­ni­um­sul­fat (AS) beste­ht. Auf­grund sein­er hygroskopis­chen Eigen­schaften und der lan­gen Lagerzeit­en verk­lumpte das ASN und musste durch Auflockerungsspren­gun­gen gelöst wer­den. Dieses Ver­fahren war zum dama­li­gen Zeit­punkt vielfach erprobt und auf­grund von vorheri­gen Unter­suchun­gen für diesen Anwen­dungs­fall als sich­er eingestuft wor­den. Infolge ein­er Ver­fahren­sän­derung verän­derte sich jedoch die Rest­feuchte im ASN und eine Abwe­ichung vom üblichen Mis­chungsver­hält­nis (50:50 AN:AS) ist eben­falls nicht auszuschließen. Auf­grund dessen reicht­en die Energien der Lockerungsspren­gun­gen, um eine Zer­set­zung des AN auszulösen [3, 12].

Daraus resul­tierend ereigneten sich zwei Explo­sio­nen, wobei die erste Explo­sion 70 bis 80 Ton­nen ASN und die darauf­fol­gende Explo­sion 300 bis 400 Ton­nen Dünger zur Explo­sion bracht­en. Ins­ge­samt wur­den am Tage der Explo­sion 4500 Ton­nen ASN im Lager­haus gelagert, wobei eine Lager­menge von bis zu 50.000 Ton­nen möglich gewe­sen wäre und ein zweites, iden­tis­ches Lager­haus in der Nähe gewe­sen ist, das jedoch zum Zeit­punkt der Explo­sion leer war [12].

Das Lager­haus befand sich auf dem Fir­men­gelände der Oppauer Stick­stof­fw­erke in unmit­tel­bar­erer Nähe zur Mut­terge­sellschaft, der Badis­chen Anilin- und Sodafab­rik, und cir­ca 1,5 km ent­fer­nt von der Stadt Lud­wigshafen am Rhein. Die Fab­rik wurde 1912/13 errichtet, um die Her­stel­lung von Düngemit­teln nach dem Haber-Bosch-Ver­fahren im indus­triellen Maßstab zu real­isieren [8]. Durch die Fusion im Jahre 1920 mit den Leu­na-Werken wurde das Werk zu den „Ammo­ni­ak­w­erke Merse­burg-Oppau GmbH“ und beschäftigte cir­ca 8000 Men­schen. Das Werks­gelände in Oppau ist Teil der heuti­gen BASF SE [12].

Das Ereig­nis wird bis heute als eines der schw­er­sten Indus­trie­unglücke in Deutsch­land eingestuft und als schw­er­ste Explo­sion zu Frieden­szeit­en in Deutsch­land. Ins­ge­samt wur­den 561 Men­schen getötet, 1952 Men­schen ver­let­zt und über 7500 obdach­los. Die Mehrheit der ver­mis­sten Per­so­n­en wurde wed­er gefun­den noch iden­ti­fiziert [17].

Die ent­stande­nen Sach­schä­den waren immens, im Ort Oppau (heute Stadt­teil von Lud­wigshafen) wur­den cir­ca 80 % aller Gebäude zer­stört. Erhe­bliche Schä­den wur­den zudem in Lud­wigshafen und Mannheim fest­gestellt. In der cir­ca 30 km ent­fer­n­ten Stadt Hei­del­berg wur­den eben­falls zer­sprun­gene Scheiben gemeldet. Das Werks­gelände war fast voll­ständig zer­stört und wurde für mehrere Monate still­gelegt. Am Ort der Explo­sion fand sich ein Krater, welch­er 96 Meter bre­it, 165 Meter lang und 18,5 Meter tief war. Ins­ge­samt wur­den cir­ca 12.000 m³ Erdre­ich durch die Explo­sion bewegt [3].

Auf­grund der Explo­sion wur­den in Deutsch­land alle Auflockerungstätigkeit­en mit Sprengstoff ver­boten und weltweit die Gefahren von Düngern mit AN pub­liziert, welche bis dahin als unge­fährlich gal­ten. Zusät­zlich wur­den Lösun­gen gefun­den, ASN-Dünger in eine sicherere Form zu über­führen (geschmolzene Pel­lets) und die Lagerung in Halden zu ver­mei­den [12].

Im zweit­en Teil des Beitrags erfol­gt die Gegenüber­stel­lung der Ereignisse mit einem Ver­gle­ich der Lager­men­gen, der begün­sti­gen­den und der aus­lösenden Bedin­gun­gen, der Sach- und der Per­so­n­en­schä­den sowie der Abgle­ich mit dem tech­nis­chen Regelwerk.

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1 Ammo­ni­um­ni­trat, welch­es auf­grund von Schwankun­gen bei der Stof­fzusam­menset­zung oder unregelmäßi­gen Korn­größen unverkäu­flich ist.


Foto: privat

Lukas Schuh
Insti­tut für Ret­tungsin­ge­nieur­we­sen und Gefahren­ab­wehr an der Fakultät für Anla­gen, Energie- und Maschi­nen­sys­teme der Tech­nis­chen Hochschule Köln


Foto: privat

Prof. Dr.-Ing. Ompe Aimé Mudimu
Insti­tut für Ret­tungsin­ge­nieur­we­sen und Gefahren­ab­wehr an der Fakultät für Anla­gen, Energie- und Maschi­nen­sys­teme der Tech­nis­chen Hochschule Köln


Foto: privat

Dr. Joachim Sommer

Mitar­beit­er im Refer­at Anla­gen- und Ver­fahrenssicher­heit bei der Beruf­sgenossen­schaft Rohstoffe und chemis­che Indus­trie (BG RCI) und Mit­glied der Kom­mis­sion für Anla­gen­sicher­heit (KAS)

E‑Mail: Joachim.Sommer@bgrci.de

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