Wer haftet nach einem Arbeitsunfall? Diese Frage treibt insbesondere Fachkräfte für Arbeitssicherheit um, wie sich beim Praxiskongress Recht zeigte. Der Grund: Sie bieten ein leichtes Angriffsziel vor Gericht, da ihre Aufgaben und ihre Position häufig fehlgedeutet werden. „Wir leben in einem Rechtsstaat: Jede Entscheidung, die Sie treffen, kann später angegriffen werden nach dem Motto ‚Das war nicht genug‘, gab Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Wilrich zu bedenken. Um nicht belangt werden zu können, muss die Fachkraft für Arbeitssicherheit (Sifa) ihren Aufgaben und Pflichten folglich hinreichend nachkommen. Doch was genau hat sie zu tun? Hier beginnt bereits das Dilemma, wie Wilrich anhand der „entscheidenden Worte“ im Arbeitssicherheitsgesetz verdeutlichte: Nach § 6 ASiG muss eine Sifa „unterstützen, beraten, überprüfen, beobachten, begehen, mitteilen, vorschlagen, hinwirken, untersuchen, erfassen und auswerten“. Diese „Tu-Worte“ seien relativ unbestimmt und ließen somit Spielraum für Interpretationen.
Die Referenten und Ihre Themen:
- „Verantwortung und Haftung von Fachkräften für Arbeitssicherheit, Unternehmensbeauftragten und anderen Stabsstellen“
Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Wilrich, Münsing
Vortragsfolien Herr Prof. Wilrich - „Gefährdungsbeurteilung in der Industrie 4.0 — rechtliche Anforderungen“
Rechtsanwalt Dr. Michael Neupert, Kümmerlein Rechtsanwälte und Notare, Essen
Vortragsfolien Herr Neupert - „Arbeitsschutz an Telearbeitsplätzen – kleine Änderung in der Arbeitsstättenverordnung mit nicht ganz so kleinen Herausforderungen“
Prof. Dr. Arno Weber, Arbeits- und Gesundheitsschutz Hochschule Furtwangen, Fakultät Gesundheit, Sicherheit, Gesellschaft, Security & Safety Engineering, Furtwangen
Vortragsfolien Herr Prof. Weber - „Versicherungsfall oder nicht? Aktuelle Urteile zum Unfallversicherungsrecht“
Tanja Sautter, Juristin, Berufsgenossenschaft Verkehrswirtschaft, Post-Logistik, Telekommunikation (BG Verkehr), Sparte Post, Postbank, Telekom, Dienststelle Unfallfürsorge, Tübingen
Vortragsfolien Frau Sautter
Aktiv Gehör verschaffen
Ein besonders schwieriger Begriff sei „hinwirken“, so Wilrich weiter. Hinwirken bedeute, nicht „piepsig beraten“, sondern „informieren mit Fußtritt“, sprich, die Sifa müsse sich auch aktiv Gehör verschaffen. Eine abwartende Haltung nach dem Motto „Ich handle nur nach Aufforderung und auf Anfrage“, sei nicht ausreichend. Doch welches Maß an Eigeninitiative wird verlangt? „Die Frage ist: Wie weit müssen Sie sich aufdrängen, wie weit dürfen Sie abwarten, bis Sie gefragt werden?“, skizzierte der Rechtsanwalt das Problem, das immer nur im Einzelfall zu klären sei. „Es gibt keine generelle Lösung, sondern nur Einzelfälle mit entsprechender Untersuchung und Argumentation.“
Tun (und Lassen) dokumentieren
Fest stehe, dass eine Sifa nicht immer und überall präsent sein kann. „Sie haben das Problem der Prioritätensetzung: Es gibt eine zeitliche und gegebenenfalls auch örtliche Grenze in Ihrer Arbeit. Darauf muss man hinweisen“, so der Rechtsanwalt. Dies mündlich zu tun, sei gut und richtig, noch besser jedoch eine regelmäßige schriftliche Dokumentation, in der auch Probleme mit dem Zeitmanagement festgehalten werden könnten. Entsprechende Anregungen kamen auch aus dem Publikum: „Ich weise immer darauf hin, dass Begehungen nur Stichproben sind“, erklärte ein Teilnehmer. „Eine sehr gute Definition“, befand Wilrich.
(K)eine Durchführungspflicht
Eine Sifa ist nicht ständig vor Ort, darüber hinaus werden ihre Empfehlungen oder Warnungen nicht selten überhört. Trägt sie auch Verantwortung für deren Umsetzung? In der Regel nein, bekräftigte der Rechtsanwalt: „Die Sifa ist nur Überwachungsgarant für richtige und vollständige Beratung und Unterstützung. Sie ist nicht Schutzgarant für das Rechtsgut – das ist die Linie.“ Die untergeordnete Stellung der Sifa als Stabstelle ohne Durchsetzungspflicht werde allerdings häufig verkannt und könne sich auch ändern – etwa bei Übernahme zusätzlicher Aufgaben. Bei einem „sehr bitteren Fall“ um eine überhitzte Wärmematte sei eine Sifa zum Beispiel beauftragt worden, zur allgemeinen Gerätesicherheit Stellung zu nehmen. „Durch diesen Einzelauftrag hatte sich ihr beruflicher Aufgabenkreis erweitert.“ Der Betreffende wurde somit verurteilt – nicht als Sifa, sondern als jemand, der in der Linie verantwortlich war.
Mithilfe dieses Fallbeispiels und anderer Urteile demonstrierte Wilrich, was alles vor Gericht eine Rolle spielen kann. Keine „Zauberformeln“ oder noch so kluge Vertragsklauseln könnten vor einem gerichtlichen Nachspiel bewahren, was für eine Haftpflichtversicherung spreche. Akzeptiert werden müsse sogar, dass Gerichte unterschiedlich urteilten.
(K)ein Arbeitsunfall
Keine Seltenheit ist dies bei der Frage nach der Anerkennung von Arbeitsunfällen. Im Gesetz finde sich nur ein einziger Satz zur Definition von Arbeitsunfällen, erklärte Tanja Sautter, Juristin bei der BG Verkehr. Deshalb gebe es auch so viele Streitfälle und Gerichtsverhandlungen zu diesem Thema.
Die knappe Definition nach § 8 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch VII lautet: „Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer versicherten Tätigkeit.“ Neben Arbeitsunfällen während der Arbeit sind auch Wegeunfälle auf dem Weg von und zur Arbeit sowie Berufskrankheiten versichert, die über einen längeren Zeitraum infolge der versicherten Tätigkeit entstehen. Für die Anerkennung ist ein Vollbeweis nötig – das heißt, der Versicherte muss nachweisen, dass sich der Unfall bei einer versicherten Tätigkeit zugetragen hat. „Mein Blick fällt immer zuerst auf den Unfallhergang und die Unfallzeit – passen beide zur Arbeitsaufgabe?“, erklärte Sautter.
Doch so manches Urteil überrascht selbst die erfahrene Juristin. „Es kommt immer auf die besonderen Umstände an.“ Dies illustrierte sie anhand unterschiedlicher Richtersprüche, darunter auch zu Fällen aus dem Home-Office: Welche Handlungen und Wege beim Arbeiten von zu Hause aus versichert sind und welche nicht, beschäftigt zunehmend die Gerichte – der Weg zur Küche war es beispielsweise nicht.
Herausforderung Telearbeit
Auch aus Sicht der Arbeitssicherheit sind Telearbeitsplätze ein schwieriges Terrain: Nach Definition der neuen Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) ist eine erstmalige Gefährdungsbeurteilung für fest eingerichtete Bildschirmarbeitsplätze im Privatbereich der Beschäftigten vorgesehen. Doch darf sich der Arbeitgeber oder eine von ihm beauftragte Person überhaupt Zutritt zu den Privaträumen der Mitarbeiter verschaffen? Prof. Dr. Arno Weber von der Hochschule Furtwangen verwies auf die hierzu nötige „schwierige Rechtsgüterabwägung“: „Nach Artikel 13 des Grundgesetzes ist die Wohnung unverletzlich.“
Aus seiner Sicht kann das Ziel „gesunde und geschützte Mitarbeiter“ an Telearbeitsplätzen ohnehin besser durch andere Mittel erreicht werden – allen voran durch Unterweisung und Schulung. Denn auch ein Vor-Ort-Termin könne täuschen: „Nach dem Besuch wird womöglich alles wieder umgestellt.“ Eine schriftliche Bestätigung vom Arbeitnehmer, dass der Telearbeitsplatz den Anforderungen genüge, erhöhe hingegen die Wirksamkeit. „Ich bin gegen einen Gefährdungsbeurteilungs-Tourismus“, fasste Weber zusammen. Noch sei die Rechtslage allerdings unklar – auch in Sachen Einrichtung, die vom Arbeitgeber gestellt oder übernommen und damit grundsätzlich auch gewartet werden müsse. „Wir benötigen hier rechtsverbindliche Kriterien und praktikable Prozesse.“
Gefährdungsbeurteilung 4.0
Noch keine spezifische Rechtsvorschrift gibt es für die Gefährdungsbeurteilung 4.0, also die Beurteilung
der Roboter-Mensch-Kollaboration. „Jura hinkt der Lebensrealität immer ein bisschen hinterher“, erklärte Rechtsanwalt Dr. Michael Neupert. Die fortschreitende Digitalisierung bringe sowohl neue technische als auch neue psychische Gefährdungen mit sich. Eine Herausforderung bestehe vor allem in der Komplexitätssteigerung durch die Vernetzung: IT-Komponenten würden „dramatisch leistungsfähiger“, die Prozesse undurchschaubarer und wesentlich schwerer zu beherrschen. Kann der Mensch überhaupt noch überblicken, was die Maschine tut? Und wie verhält es sich unter diesen Voraussetzungen mit der Verantwortlichkeit? „Hier wird in Zukunft juristisch große Musik gespielt“, sagte Neupert voraus.
Der Rechtsanwalt sieht allerdings keinen strukturellen, sondern einen schrittweisen Anpassungsbedarf an die neuen Arbeitsformen der Industrie 4.0. „Ich denke, es ist sinnvoll, möglichst wenig neu zu regeln. Denn das erhöht nur die Unübersichtlichkeit und ist dann nicht mehr handhabbar.“
Das derzeitige Konstrukt sei bislang noch gut geeignet: „Maschinen – auch komplexere – werden juristisch als Werkzeug betrachtet.“ Verantwortliche für die Arbeitssicherheit sollten sich jedoch immer fragen, was der Hersteller an Sicherheiten eingebaut habe, und diese durch organisatorische sowie persönliche Schutzmaßnahmen ergänzen. Hilfestellung bei der rechtlichen Anpassung an die neuen Gegebenheiten verspricht sich Neupert auch von den Technikern. „Um die richtigen Dinge zu regulieren und Szenarien korrekt antizipieren zu können, ist eine enge Kooperation zwischen Technikern und Juristen notwendig.“
Petra Jauch
„Mir haben die Vorträge gefallen, die Referenten sind wirklich gut ausgewählt. Das Thema Recht finde ich grundsätzlich sehr wichtig, denn damit befasst man sich in der Regel zu wenig. Die Atmosphäre war gut, es gab eine rege Beteiligung von Seiten der Teilnehmer. Die Organisation stimmte ebenfalls – da ich selbst Referentin bin, achte ich auch auf solche Dinge.“
Heike-Rebecca Nickl, Referat Betrieblicher Arbeits‑, Gesundheits- und Umweltschutz, Arbeitskammer des Saarlandes