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Sicherheitsverantwortung, Arbeitsschutzorganisation und Haftung

Sicherheitsverantwortung, Arbeitsschutzorganisation und Haftung: Mythen und Wahrheiten
„Befehl ist Befehl“: Die Gehorsamspflicht ist stärker als das Haftungsrecht

„Befehl ist Befehl“: Die Gehorsamspflicht ist stärker als das Haftungsrecht
Foto: © magele-picture – stock.adobe.com
Prof. Dr. Thomas Wilrich
Im let­zten Teil 11 der Serie hieß es, „es entschei­den und gehorchen Men­schen“. Wenn im Arbeits- und Beamten­ver­hält­nis eine Gehor­sam­spflicht beste­ht, ist es grund­sät­zlich eine Pflichtver­let­zung, wenn man nicht gehorcht – und das hat Auswirkun­gen auf das Haftungsrecht.

§ 15 Abs. 1 Satz 3 DGUV Vorschrift 1 sagt in aller Deut­lichkeit: „Ver­sicherte haben die entsprechen­den Anweisun­gen des Unternehmers zu befol­gen“. Wer Weisun­gen befol­gen muss, hat keine Befug­nis, von diesen „Befehlen“ abzuwe­ichen – und man kann im Sinne des Grund­satzes „Keine Ver­ant­wor­tung ohne Befug­nis“ (siehe Folge 5) für das Fol­geleis­ten auch grund­sät­zlich nicht haften, wenn diese Befol­gung der Anweisung zu einem Unfall und Schaden führt. Leitung ist Frem­dentschei­dung, die in Anord­nun­gen umge­set­zt wird1. Die Fol­gepflicht „ent­lastet den Angestell­ten von der Ver­ant­wor­tung für Anord­nun­gen“2, denn Weisungs­befug­nis ist „Frem­dentschei­dungs­befug­nis“3. So ist die „Ver­ant­wor­tung an eine höhere Stelle in der Hier­ar­chie ver­lagert“4. Ist einem Mitar­beit­er „eine Auf­gabe lediglich zur Aus­führung über­tra­gen und hat er nicht zu entschei­den, dann obliegt ihm nur die Aus­führung“5.

Gerichtsurteile: Bei Weisung „ohne Einfluss“ und in „Zwangslage“

Zwei Beispiele aus der Recht­sprechung:

  • Nach­dem ein Maler in einem Umspan­nwerk in Stol­berg von ein­er Leit­er fiel und einen Strom­schlag an einem nicht freigeschal­teten Verteil­erkas­ten erlitt, sprach das Amts­gericht Eschweil­er einen Elek­tromon­teur vom Vor­wurf der fahrläs­si­gen Kör­per­ver­let­zung frei, „da er den Weisun­gen des Net­z­be­trieb­smeis­ters unter­wor­fen war“ und daher „keine Ein­flussmöglichkeit auf das Geschehen“ hat­te6.
  • Nach­dem ein Auszu­bilden­der beim Bau des Kaufhofs in Halle auf Weisung des Aus­bilders bei laufen­d­em Betrieb in eine Bohrsch­necke griff, äußerte das OLG Naum­burg7 nach seinem schw­eren Unfall nach­sichtig: „Die Über­nahme gefährlich­er Arbeit­en begrün­det kein Mitver­schulden, wenn der Arbeit­nehmer damit ein­er Anord­nung des Weisungs­befugten entspricht. Der Arbeit­nehmer han­delt dann nicht autonom, son­dern unter dem Ein­druck ein­er tat­säch­lichen Zwangslage“.

Man kann also pointiert sagen: Die Gehor­sam­spflicht ist im Grund­satz stärk­er als das Haf­tungsrecht. Obwohl auch das Bun­desver­fas­sungs­gericht von „Gehor­sam­spflicht“8 spricht, wird der Begriff allerd­ings als „wenig glück­lich“ beze­ich­net9, denn es habe ein gesellschaftlich­er Werte­wan­del stattge­fun­den und „bürokratisch-hier­ar­chis­che Herrschaft ist ein­er Ero­sion aus­ge­set­zt“10.

Die Reich­weite der Gehor­sam­spflicht wird auch über­schätzt, denn:

Die Grenzen der Gehorsamspflicht

Selb­st im mil­itärischen Bere­ich „hat die his­torische Über­liefer­ung ‚Befehl ist Befehl‘ heute deut­lich abgesteck­te Gren­zen“11. Diese Gren­zen gehen weit­er als nur eine „Frei­heit des Gewis­sens“ zu propagieren12, sie sind vielmehr „harte“ haf­tungsaus­lösende Grenzen.

Drei Punk­te müssen betont werden:

  • Erstens: Selb­st im Einzel­nen angewiesene Aus­führungsstellen haben Entschei­dungsspiel­räume – sie „betr­e­f­fen auss­chließlich den eige­nen Hand­lungs­bere­ich im Sinne ein­er Selb­stentschei­dung“13. Aber diese Ver­ant­wor­tung für das eigene Tun (siehe Folge 2) reicht weit und bein­hal­tet die Ver­ant­wor­tung für die „Art und Weise der Auf­gaben­durch­führung“14. Das betont etwa § 15 Abs. 1 Satz 1 DGUV Vorschrift 1. Es beste­ht eine „Verpflich­tung zu Fremd­vor­sorge“15 und „grund­sät­zlich muss jed­er Handw­erk­er ohne Rück­sicht auf etwaige Anweisun­gen des Auf­tragge­bers seine Auf­gaben so erfüllen, dass wed­er aus der Aus­führungstätigkeit noch aus dem hergestell­ten Werk Gefahren für Dritte entste­hen“16.
  • Zweit­ens: Wenn größere Entschei­dungsspiel­räume über­tra­gen wer­den (das nen­nt man Del­e­ga­tion), dann ist auch nicht im Einzel­nen „angewiesen“ bzw. „bes­timmt“, es beste­ht insoweit auch keine konkrete „Befol­gungspflicht“ und der Mitar­beit­er muss selb­st entschei­den und die Ver­ant­wor­tung für die inner­halb dieses weit­en Rah­mens getrof­fe­nen Entschei­dun­gen übernehmen. Das verdeut­licht das erwäh­nte Urteil zum „Strom­schlag im Umspan­nwerk“. Dort betont das OLG Köln, der Betrieb­smeis­ter „kann sich nicht mit dem Hin­weis ent­las­ten, er habe lediglich Anweisun­gen seines Vorge­set­zten aus­ge­führt. Präzise, den konkreten Fall betr­e­f­fende Anweisun­gen, denen er unbe­d­ingt fol­gen musste, hat er nicht vor­ge­tra­gen“. Er „behauptet nicht, er sei angewiesen gewe­sen, den Mit­telspan­nungsverteil­er während der Dauer der Maler­ar­beit­en nicht freizuschal­ten, son­dern lediglich, es habe keine Anweisung bestanden, sie in der Regel bei solchen Anlässen auszuschal­ten. Let­ztlich oblag ihm also die Entschei­dung, ob im Einzelfall freizuschal­ten war oder welche Sicher­heitsvorkehrun­gen son­st zu tre­f­fen waren“ (der Betrieb­smeis­ter ist schließlich dop­pelt verurteilt wor­den: sowohl strafrechtlich wegen fahrläs­siger Kör­per­ver­let­zung als auch zivil­rechtlich zur Erstat­tung der Sozialver­sicherungsaufwen­dun­gen auf die Regressklage der Berufsgenossenschaft).
  • Drit­tens ahnen wir es – und es ist richtig und wichtig zu beto­nen: „Befehl ist Befehl“ kann nicht gren­zen­los sein, son­dern muss eingeschränkt wer­den. Das bringt auch § 15 Abs. 1 Satz 4 DGUV Vorschrift 1 zum Aus­druck und wird aus­führlich in der näch­sten Folge besprochen. Aber hier schon ein­mal eine Über­legung zum Bohrsch­neck­en-Fall: fünf Tage vor dem schlim­men Arbeit­sun­fall des Auszu­bilden­den war der Aus­bilder sel­ber beim Säu­bern der Bohrmas­chine mit einem Pulloverärmel an der rotieren­den Bohrsch­necke hän­gen geblieben. Er zog sich aber nur blaue Fleck­en und Kratzer zu, weil der Auszu­bildende rechtzeit­ig den Notauss­chal­ter betätigte. Kann und muss dieser Beina­he­un­fall nicht Anlass für den Auszu­bilden­den sein, den Befehl zu verweigern?

Fußnoten:

1 Man­fred Schulte-Zurhausen, Organ­i­sa­tion, 5. Aufl. 2010, 3. Teil 2.3.1, S.173.

2 Uttlinger/Breier/Kiefer/Hoffmann/Pühler, BAT-Kom­men­tar, 199. Liefer­ung 2009, § 8 Erläuterung 5, S. 37 zum ähn­lichen § 8 Abs. 2 Bun­de­sangestell­tentar­ifver­trag (BAT) a. F.

3 Vah­s/Schäfer-Kunz, Ein­führung in die Betrieb­swirtschaft­slehre, 5. Aufl., 2007, 8.5.2.1.1.1, S. 318; Vahs, Organ­i­sa­tion – Ein­führung in die Organ­i­sa­tion­s­the­o­rie und ‑prax­is, 5. Aufl. 2005, 4.2, S. 62.

4 Philip Kunig, Das Recht des Öffentlichen Dien­stes, in: Schmidt-Aßman­n/Schoch, Beson­deres Ver­wal­tungsrecht, 14. Aufl. 2008, Kap. 6, Rn. 130.

5 Ekke­hard Crisand, Prinzip­i­en der Führung­sor­gan­i­sa­tion, 1998, 5.5, S. 49.

6 Urteils­be­sprechung in Wilrich, Arbeitss­chutz-Strafrecht, 2020, Fall 29, S. 307 ff

7 Urteils­be­sprechung in Wilrich, Prax­isleit­faden Betr­SichV, 2. Aufl. 2020, Fall 8, S. 345 ff.

8 BVer­fG, Beschluss v. 07.11.1994 (Az. 2 BvR 1117/94).

9 So Ulrich Bat­tis, Bun­des­beamtenge­setz, 4. Aufl. 2009, § 62 Rn. 3.

10 Georg Schreyögg, Grund­la­gen der Organ­i­sa­tion – Basiswis­sen für Studi­um und Prax­is, 2012, 3.2, S. 45.

11 Dau, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebenge­set­ze, 236. Liefer­ung Mai 2021, § 5 Wehrstrafge­set­zbuch Rn. 3.

12 Vgl. BVer­wG, Urteil v. 21.06.2005 (Az. 2 WD 12/04) = NJW 2006, Seite 77, 90.

13 Schulte-Zurhausen, Organ­i­sa­tion, 5. Aufl. 2010, 3. Teil 2.3.1, S. 173.

14 Schulte-Zurhausen, Organ­i­sa­tion, 5. Aufl. 2010, 3. Teil 2.1, S. 166.

15 DGUV Regel 100–001 Nr. 3.1.1.

16 OLG Zweibrück­en, Urteil v. 16.09.1976 (Az. 6 U 31/76).


DGUV Vorschrift 1 „Grundsätze der Prävention“

§ 15 All­ge­meine Unter­stützungspflicht­en und Verhalten

(1) Die Ver­sicherten sind verpflichtet, nach ihren Möglichkeit­en sowie gemäß der Unter­weisung und Weisung des Unternehmers für ihre Sicher­heit und Gesund­heit bei der Arbeit sowie für Sicher­heit und Gesund­heitss­chutz der­jeni­gen zu sor­gen, die von ihren Hand­lun­gen oder Unter­las­sun­gen betrof­fen sind. Die Ver­sicherten haben die Maß­nah­men zur Ver­hü­tung von Arbeit­sun­fällen, Beruf­skrankheit­en und arbeits­be­d­ingten Gesund­heits­ge­fahren sowie für eine wirk­same Erste Hil­fe zu unter­stützen. Ver­sicherte haben die entsprechen­den Anweisun­gen des Unternehmers zu befol­gen. Die Ver­sicherten dür­fen erkennbar gegen Sicher­heit und Gesund­heit gerichtete Weisun­gen nicht befolgen.


Weit­ere Teile der Rechtsserie: 

Ver­ant­wor­tung heißt nur „Antwort geben“

Ver­ant­wor­tung für Tun: Hand­lungsver­ant­wor­tung ist  die Basis des Arbeitsschutzes

„Selb­st schuld“ oder Fremdverantwortung?

„Ein Blick ins Gesetz erle­ichtert die Rechtsfindung“

Keine Ver­ant­wor­tung ohne Befug­nisse – keine Befug­nis ohne Verantwortung

„Unwis­senheit schützt vor Strafe nicht“

Die Unken­nt­nis des Rechts ist vorzugsweise strafver­schär­fend und nur aus­nahm­sweise strafvermeidend

Es entschei­den Men­schen, nicht Gesetze

Der Men­sch ste­ht im Mit­telpunkt – und der Men­sch ist Mit­tel. Punkt

Es entschei­den und es gehorchen Men­schen: Befehl ist Befehl!

Kein blind­er Gehor­sam, son­dern gewis­senhaftes Mitdenken

Wann ist Ver­trauen gut, wann sind Acht­samkeit und Zweifel besser?

Arbeit­ge­ber und Unternehmen sind primär ver­ant­wortlich – aber nur „mys­tis­che Kunstschöpfungen“

Befehlsver­weigerung bei Erkennbarkeit der Sicherheitswidrigkeit

Echte Men­schen sind auch ohne Schrift­stück verantwortlich


Prof. Dr. Thomas Wilrich
Prof. Dr. Thomas Wilrich; Foto: privat

Autor:
Recht­san­walt Prof. Dr. Thomas Wilrich
Hochschule München, Fakultät Wirtschaftsin­ge­nieur­we­sen, Pro­fes­sor für Wirtschafts‑, Arbeits‑, Technik‑, Unternehmensorganisationsrecht
und Recht für Ingenieure

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