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Forschungsarbeit zu Nudging in der Arbeitssicherheit

Forschungsarbeit: Nudging in der Arbeitssicherheit
In der Wahl des „sicheren Wegs“ bestärken

In der Wahl des „sicheren Wegs“ bestärken
Rotkäppchen ist vom Weg abgekommen - die Folgen sind bekannt. Foto: © Anneke - stock.adobe.com
Schon Rotkäp­pchen entsch­ied sich, obwohl es durch seine Mut­ter gewarnt wurde und es fol­glich bess­er wusste, den sicheren Wald­weg zu ver­lassen. Natür­lich in bester Absicht, um sein­er Groß­mut­ter schöne Blu­men zu pflück­en. Den­noch mit weitre­ichen­den Kon­se­quen­zen. Hätte ein „Nudge“ Rotkäp­pchen im richti­gen Moment zurück auf den Wald­weg stupsen kön­nen? Das Märchen der Gebrüder Grimm müsste neu geschrieben werden.

Auch in der heuti­gen Arbeitswelt erleben wir immer wieder, dass der „sichere Weg“ trotz guter Aus­bil­dung, regelmäßiger Unter­weisun­gen und all­seits bekan­nter Ver­hal­tensregeln ver­lassen wird. Viele Wis­senschaft­lerin­nen und Wis­senschaftler sind sich einig, dass das Ver­hal­ten der Men­schen nicht stets ratio­nal [1] und auch nicht immer zu ihrem Vorteil ist [2]. Ein intu­itives Urteilen zur Vere­in­fachung von Sit­u­a­tio­nen mit­tels Heuris­tiken wird unter anderem vom Nobel­preisträger Kah­ne­mann in seinem Werk „Schnelles Denken, langsames Denken“ [3] beschrieben. Ein Sam­mel­suri­um an men­schlichen Eigen­heit­en wie Selb­stüber­schätzung [4], Rel­a­tiv­ität­sprob­le­men [1], Verz­er­rungsef­fek­ten und Rou­tine durch Anker [1] wer­den in der Ver­hal­tenspsy­cholo­gie/-ökonomie detail­liert betra­chtet und liefert Erk­lärun­gen dafür. [5]

Wahrnehmung weicht von der Realität ab

  • Wieso gehen Mitar­beit­er und Mitar­bei­t­erin­nen wissentlich durch einen abges­per­rten Bere­ich und brin­gen sich in Gefahr?
  • Wieso wird Atem­schutz nur mit­ge­führt und nicht beim Umgang mit Gefahrstof­fen benutzt und eine chro­nis­che, arbeits­be­d­ingte Erkrankung riskiert?
  • Wieso wird Gehörschutz nicht kon­se­quent in Lärm­bere­ichen getra­gen und der Ver­lust des Hörver­mö­gens gebilligt?
  • Usw.

Die Gründe sind vielfältig. Die Hand­lung erfol­gt oft „in guter Absicht“ oder ist der Sor­glosigkeit geschuldet, wie es let­ztlich auch bei Rotkäp­pchen der Fall war. Den­noch wird es keine akzept­ablen Gründe geben, die ein unsicheres Ver­hal­ten in solchen Sit­u­a­tio­nen recht­fer­ti­gen. Die Wahrnehmung des Men­schen weicht von der Real­ität ab, soge­nan­nte Bias­es führen z. B. zu Selb­stüber­schätzung. [6] Risiken kön­nen verz­er­rt wahrgenom­men wer­den. So ist fast jed­er zweite Unfall ein­er Sit­u­a­tion zuzuord­nen, in der das Risiko unter­schätzt wurde. [7]

Regelverstöße in der Arbeitswelt oft folgenlos

Rotkäp­pchen lernte: „Du willst dein Leb­tag nicht wieder allein vom Weg ab in den Wald laufen, wenn es dir die Mut­ter ver­boten hat.“ [8] Rotkäp­pchen erlebte direk­te Kon­se­quen­zen aus seinem Han­deln und zog wie in jedem guten Märchen seine Lehre daraus. Diese Auswirkun­gen, in Form eines Unfalls, bleiben im Arbeit­sall­t­ag zum Glück meist aus. Dieses hat wiederum zur Folge, dass unsicheres Ver­hal­ten nur sehr sel­ten neg­a­tive Kon­se­quen­zen hat. Ein erfol­gre­ich­er Regelver­stoß erzeugt ein falsches Gefühl von Sicher­heit. [7] Nudg­ing soll dabei helfen, im richti­gen Moment den „sicheren Weg“ nicht zu verlassen.

Die Entscheidung bleibt beim Individuum

Der Begriff Nudg­ing wurde von den Ver­hal­tensökonomen Sun­stein und Thaler geprägt, die 2017 dafür den Wirtschaft­sno­bel­preis erhiel­ten. Diese öffentliche Ehrung führte dazu, dass Nudg­ing in vie­len Bere­ichen wie z. B. Poli­tik, Mar­ket­ing und Gesund­heitswe­sen einen Auf­schwung erlebt. Die ursprüngliche Def­i­n­i­tion von Nudg­ing nach Sun­stein und Thaler lautet: „Die Verän­derung des physis­chen, sozialen und psy­chis­chen Entschei­dungskon­textes. Ein Nudge ist kein Gebot oder Ver­bot und ist mit keinen finanziellen Anreizen oder Sank­tio­nen belegt. Die autonome Entschei­dung des Indi­vidu­ums bleibt unberührt.“ [9]

Diese Def­i­n­i­tion existiert mit­tler­weile in vie­len Vari­a­tio­nen und Abwand­lun­gen sowie Ergänzun­gen. Nudg­ing wird als eine Möglichkeit der Inter­ven­tion betra­chtet und „Seit der Veröf­fentlichung wird fast alles, was Ver­hal­ten bee­in­flusst, als Nudge beze­ich­net […]“. [10]

Wissenschaftliche Übertragung in die Arbeitssicherheit

Das Fachge­bi­et Sicherheitstechnik/Arbeitssicherheit der Ber­gis­chen Uni­ver­sität Wup­per­tal (BUW) beschäftigt sich wis­senschaftlich mit der Über­tra­gung beste­hen­der Nudg­ing-Konzepte in die Arbeitssicher­heit. Ziel ist es, neue und ergänzende Strate­gien zur Bewäl­ti­gung von unsicherem Ver­hal­ten zu entwick­eln. Eine erste Lit­er­atur­recherche zum The­ma Nudg­ing unter dem Blick­winkel der Arbeitssicher­heit hat gegen­wär­tig ergeben, dass es nur wenig wis­senschaftliche Beiträge in englis­ch­er oder deutsch­er Sprache dazu gibt.

Die BAuA näherte sich dem The­ma über per­sua­sive Tech­nolo­gien [11] und der Bedarf an Forschung und Eval­u­a­tion­sstu­di­en wurde schon 2019 im iga.report38 fest­ge­hal­ten. [12]

Schon seit Jahren „inoffiziell“ im Einsatz

Bei näher­er Betra­ch­tung von Nudg­ing als Inter­ven­tion­s­möglichkeit wird diese in der Arbeitssicher­heit schon seit Jahren prak­tiziert. Denn einige Maß­nah­men kön­nen Nudge-Typen zuge­ord­net wer­den, wie z. B. hin­weisende Schilder als War­nun­gen und Grafiken [13] bzw. Prompt­ing [14] oder die Ein­rich­tung von ergonomis­chen Arbeit­splätzen als funk­tionelles Design [14]. Diese Maß­nah­men wer­den allerd­ings oft zur Umset­zung von gel­tenden Vorschriften imple­men­tiert und nicht als kreiert­er Nudge in ein­er konkreten Entschei­dungsar­chitek­tur. Eine Nachver­fol­gung mit Bew­er­tung der Wirkung dieser Maß­nah­men – im Sinne ein­er Inter­ven­tion­sstudie – stellt ein offenes Forschungs­feld dar.

Forschungsarbeit mit Interventionsstudien

Die Arbeitssicher­heit in Deutsch­land stützt sich auf die Schutz­maß­nah­men­hier­ar­chie nach § 4 Arb­SchG, dem soge­nan­nten STOP-Prinzip oder auch den sechs Frei­heits­graden nach Kahl et al. [15]. Nudg­ing ist in die Ebene der indi­vidu­ellen Schutz­maß­nah­men einzuord­nen. Die BUW möchte im Rah­men ein­er Pro­mo­tion her­aus­find­en, welchen Beitrag das Nudg­ing in Ergänzung zu den beste­hen­den Vorschriften leis­ten kann und führt dazu Inter­ven­tion­sstu­di­en zur Reduzierung von unsicherem Ver­hal­ten durch. Diese ergeb­nisof­fene Forschungsar­beit soll weg­weisend für neue Ansätze in der ver­hal­tens­be­zo­ge­nen Arbeitssicher­heit sein, sodass der „sichere Weg“ nur noch im Märchen von Rotkäp­pchen ver­lassen wird.

Lit­er­atur:

  • Ariely D. (2010). Denken hil­ft zwar, nützt aber nichts. Warum wir immer wieder unvernün­ftige Entschei­dun­gen tre­f­fen. Knaur-Taschen­buch-Verl., München
  • Kah­ne­man D., Tver­sky A. (1979). Prospect The­o­ry: An Analy­sis of Deci­sion under Risk. Econo­met­ri­ca, Vol. 47(2), New Haven, S. 263–292
  • Kah­ne­man D. (2015). Schnelles Denken, langsames Denken. 19. Aufl. Pan­theon, München
  • Camer­er C., Loval­lo D. (1996). Over­con­fi­dence and excess entry. An Exper­i­men­tal Approach. Cal­i­for­nia Insti­tute of Tech­nol­o­gy, Pasade­na, California
  • Del­la Vigna S. (2009). Psy­chol­o­gy and Eco­nom­ics: Evi­dence from the Field. Jour­nal of Eco­nom­ic Lit­er­a­ture, Vol. 47(2), Pitts­burgh, S. 315–372
  • Gatzert N., Müller-Peters H. (2020). Tod­sich­er: Die Wahrnehmung und Fehlwahrnehmung von All­t­agsrisiken in der Öffentlichkeit. Forschung am ivwKöln, Köln
  • Pari­don H. (2010). Die unter­schätzte Gefahr. Brücke, 1/10. BG ETEM, Köln, S. 15
  • Grimm J., Grimm W. (1812). Kinder- und Haus­märchen. Rotkäp­pchen, 2. Aufl. 2015. Ana­con­da Ver­lag, Köln
  • Thaler R. H., Sun­stein C. R. (Hrsg) (2020). Nudge. Wie man kluge Entschei­dun­gen anstößt. 16. Aufl, Bd 37366. Ull­stein, Berlin
  • Gigeren­z­er G. (2015). On the Sup­posed Evi­dence for Lib­er­tar­i­an Pater­nal­ism. Review of Phi­los­o­phy and Psy­chol­o­gy, Vol. 6, Berlin, S. 361–383
  • Hartwig M. (2019). Nudg­ing für den Arbeitss­chutz? Poten­tiale und Risiken von Ver­hal­tensan­re­gun­gen zur Förderung sicheren Arbeit­ens. BAuA, Dortmund/Berlin/Dresden
  • Eich­horn D., Ott I. (2019). iga.Report 38. Nudg­ing im Unternehmen. Den Weg für gesunde Entschei­dun­gen bere­it­en. 1. Aufl. Ini­tia­tive Gesund­heit und Arbeit (iga), Dresden
  • Böhm K. L., Renz E. (2019). Nudg­ing als Instru­ment der Wertev­er­mit­tlung. Wie Entschei­dun­gen durch verän­derte Rah­menbe­din­gun­gen bee­in­flusst wer­den. Zeitschrift Führung + Organ­i­sa­tion (ZFO). Schäf­fer-Poeschel Ver­lag, Stuttgart, S. 289–295
  • Hol­lands G. J., Shemilt I., Marteau T. M., Jebb S. A., Kel­ly M. P., Naka­mu­ra R., Suhrcke M., Ogilvie D. (2013). Alter­ing micro-envi­ron­ments to change pop­u­la­tion health behav­iour: towards an evi­dence base for choice archi­tec­ture inter­ven­tions. BMC Pub­lic Health, 13:1218, S. 1–6
  • Kahl A., Bier M., Brüch­er F., Franz P., Ganzke A., Ger­hold M., Gusek T., Rübekeil L., Weien I., Wind­höv­el U. (2019). Arbeitssicher­heit. Fach­liche Grund­la­gen. Erich Schmidt Ver­lag, Berlin

Foto: privat

Michaela Ker­gl M. Sc.

Sicher­heitsin­ge­nieurin in der chemis­chen Industrie

michaela.kergl@uni-wuppertal.de


Foto: © Friederike von Heyden/Bergische Uni­ver­sität Wuppertal

Prof. Dr.-Ing. Anke Kahl

Lei­t­erin Lehrstuhl Sicherheitstechnik/Arbeitssicherheit

Ber­gis­che Uni­ver­sität Wuppertal

Fakultät für Maschi­nen­bau und Sicherheitstechnik
Fachge­bi­et Sicherheitstechnik/Arbeitssicherheit 

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