Auch in der heutigen Arbeitswelt erleben wir immer wieder, dass der „sichere Weg“ trotz guter Ausbildung, regelmäßiger Unterweisungen und allseits bekannter Verhaltensregeln verlassen wird. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind sich einig, dass das Verhalten der Menschen nicht stets rational [1] und auch nicht immer zu ihrem Vorteil ist [2]. Ein intuitives Urteilen zur Vereinfachung von Situationen mittels Heuristiken wird unter anderem vom Nobelpreisträger Kahnemann in seinem Werk „Schnelles Denken, langsames Denken“ [3] beschrieben. Ein Sammelsurium an menschlichen Eigenheiten wie Selbstüberschätzung [4], Relativitätsproblemen [1], Verzerrungseffekten und Routine durch Anker [1] werden in der Verhaltenspsychologie/-ökonomie detailliert betrachtet und liefert Erklärungen dafür. [5]
Wahrnehmung weicht von der Realität ab
- Wieso gehen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wissentlich durch einen abgesperrten Bereich und bringen sich in Gefahr?
- Wieso wird Atemschutz nur mitgeführt und nicht beim Umgang mit Gefahrstoffen benutzt und eine chronische, arbeitsbedingte Erkrankung riskiert?
- Wieso wird Gehörschutz nicht konsequent in Lärmbereichen getragen und der Verlust des Hörvermögens gebilligt?
- Usw.
Die Gründe sind vielfältig. Die Handlung erfolgt oft „in guter Absicht“ oder ist der Sorglosigkeit geschuldet, wie es letztlich auch bei Rotkäppchen der Fall war. Dennoch wird es keine akzeptablen Gründe geben, die ein unsicheres Verhalten in solchen Situationen rechtfertigen. Die Wahrnehmung des Menschen weicht von der Realität ab, sogenannte Biases führen z. B. zu Selbstüberschätzung. [6] Risiken können verzerrt wahrgenommen werden. So ist fast jeder zweite Unfall einer Situation zuzuordnen, in der das Risiko unterschätzt wurde. [7]
Regelverstöße in der Arbeitswelt oft folgenlos
Rotkäppchen lernte: „Du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Weg ab in den Wald laufen, wenn es dir die Mutter verboten hat.“ [8] Rotkäppchen erlebte direkte Konsequenzen aus seinem Handeln und zog wie in jedem guten Märchen seine Lehre daraus. Diese Auswirkungen, in Form eines Unfalls, bleiben im Arbeitsalltag zum Glück meist aus. Dieses hat wiederum zur Folge, dass unsicheres Verhalten nur sehr selten negative Konsequenzen hat. Ein erfolgreicher Regelverstoß erzeugt ein falsches Gefühl von Sicherheit. [7] Nudging soll dabei helfen, im richtigen Moment den „sicheren Weg“ nicht zu verlassen.
Die Entscheidung bleibt beim Individuum
Der Begriff Nudging wurde von den Verhaltensökonomen Sunstein und Thaler geprägt, die 2017 dafür den Wirtschaftsnobelpreis erhielten. Diese öffentliche Ehrung führte dazu, dass Nudging in vielen Bereichen wie z. B. Politik, Marketing und Gesundheitswesen einen Aufschwung erlebt. Die ursprüngliche Definition von Nudging nach Sunstein und Thaler lautet: „Die Veränderung des physischen, sozialen und psychischen Entscheidungskontextes. Ein Nudge ist kein Gebot oder Verbot und ist mit keinen finanziellen Anreizen oder Sanktionen belegt. Die autonome Entscheidung des Individuums bleibt unberührt.“ [9]
Diese Definition existiert mittlerweile in vielen Variationen und Abwandlungen sowie Ergänzungen. Nudging wird als eine Möglichkeit der Intervention betrachtet und „Seit der Veröffentlichung wird fast alles, was Verhalten beeinflusst, als Nudge bezeichnet […]“. [10]
Wissenschaftliche Übertragung in die Arbeitssicherheit
Das Fachgebiet Sicherheitstechnik/Arbeitssicherheit der Bergischen Universität Wuppertal (BUW) beschäftigt sich wissenschaftlich mit der Übertragung bestehender Nudging-Konzepte in die Arbeitssicherheit. Ziel ist es, neue und ergänzende Strategien zur Bewältigung von unsicherem Verhalten zu entwickeln. Eine erste Literaturrecherche zum Thema Nudging unter dem Blickwinkel der Arbeitssicherheit hat gegenwärtig ergeben, dass es nur wenig wissenschaftliche Beiträge in englischer oder deutscher Sprache dazu gibt.
Die BAuA näherte sich dem Thema über persuasive Technologien [11] und der Bedarf an Forschung und Evaluationsstudien wurde schon 2019 im iga.report38 festgehalten. [12]
Schon seit Jahren „inoffiziell“ im Einsatz
Bei näherer Betrachtung von Nudging als Interventionsmöglichkeit wird diese in der Arbeitssicherheit schon seit Jahren praktiziert. Denn einige Maßnahmen können Nudge-Typen zugeordnet werden, wie z. B. hinweisende Schilder als Warnungen und Grafiken [13] bzw. Prompting [14] oder die Einrichtung von ergonomischen Arbeitsplätzen als funktionelles Design [14]. Diese Maßnahmen werden allerdings oft zur Umsetzung von geltenden Vorschriften implementiert und nicht als kreierter Nudge in einer konkreten Entscheidungsarchitektur. Eine Nachverfolgung mit Bewertung der Wirkung dieser Maßnahmen – im Sinne einer Interventionsstudie – stellt ein offenes Forschungsfeld dar.
Forschungsarbeit mit Interventionsstudien
Die Arbeitssicherheit in Deutschland stützt sich auf die Schutzmaßnahmenhierarchie nach § 4 ArbSchG, dem sogenannten STOP-Prinzip oder auch den sechs Freiheitsgraden nach Kahl et al. [15]. Nudging ist in die Ebene der individuellen Schutzmaßnahmen einzuordnen. Die BUW möchte im Rahmen einer Promotion herausfinden, welchen Beitrag das Nudging in Ergänzung zu den bestehenden Vorschriften leisten kann und führt dazu Interventionsstudien zur Reduzierung von unsicherem Verhalten durch. Diese ergebnisoffene Forschungsarbeit soll wegweisend für neue Ansätze in der verhaltensbezogenen Arbeitssicherheit sein, sodass der „sichere Weg“ nur noch im Märchen von Rotkäppchen verlassen wird.
Literatur:
- Ariely D. (2010). Denken hilft zwar, nützt aber nichts. Warum wir immer wieder unvernünftige Entscheidungen treffen. Knaur-Taschenbuch-Verl., München
- Kahneman D., Tversky A. (1979). Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk. Econometrica, Vol. 47(2), New Haven, S. 263–292
- Kahneman D. (2015). Schnelles Denken, langsames Denken. 19. Aufl. Pantheon, München
- Camerer C., Lovallo D. (1996). Overconfidence and excess entry. An Experimental Approach. California Institute of Technology, Pasadena, California
- Della Vigna S. (2009). Psychology and Economics: Evidence from the Field. Journal of Economic Literature, Vol. 47(2), Pittsburgh, S. 315–372
- Gatzert N., Müller-Peters H. (2020). Todsicher: Die Wahrnehmung und Fehlwahrnehmung von Alltagsrisiken in der Öffentlichkeit. Forschung am ivwKöln, Köln
- Paridon H. (2010). Die unterschätzte Gefahr. Brücke, 1/10. BG ETEM, Köln, S. 15
- Grimm J., Grimm W. (1812). Kinder- und Hausmärchen. Rotkäppchen, 2. Aufl. 2015. Anaconda Verlag, Köln
- Thaler R. H., Sunstein C. R. (Hrsg) (2020). Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstößt. 16. Aufl, Bd 37366. Ullstein, Berlin
- Gigerenzer G. (2015). On the Supposed Evidence for Libertarian Paternalism. Review of Philosophy and Psychology, Vol. 6, Berlin, S. 361–383
- Hartwig M. (2019). Nudging für den Arbeitsschutz? Potentiale und Risiken von Verhaltensanregungen zur Förderung sicheren Arbeitens. BAuA, Dortmund/Berlin/Dresden
- Eichhorn D., Ott I. (2019). iga.Report 38. Nudging im Unternehmen. Den Weg für gesunde Entscheidungen bereiten. 1. Aufl. Initiative Gesundheit und Arbeit (iga), Dresden
- Böhm K. L., Renz E. (2019). Nudging als Instrument der Wertevermittlung. Wie Entscheidungen durch veränderte Rahmenbedingungen beeinflusst werden. Zeitschrift Führung + Organisation (ZFO). Schäffer-Poeschel Verlag, Stuttgart, S. 289–295
- Hollands G. J., Shemilt I., Marteau T. M., Jebb S. A., Kelly M. P., Nakamura R., Suhrcke M., Ogilvie D. (2013). Altering micro-environments to change population health behaviour: towards an evidence base for choice architecture interventions. BMC Public Health, 13:1218, S. 1–6
- Kahl A., Bier M., Brücher F., Franz P., Ganzke A., Gerhold M., Gusek T., Rübekeil L., Weien I., Windhövel U. (2019). Arbeitssicherheit. Fachliche Grundlagen. Erich Schmidt Verlag, Berlin
Michaela Kergl M. Sc.
Sicherheitsingenieurin in der chemischen Industrie
Prof. Dr.-Ing. Anke Kahl
Leiterin Lehrstuhl Sicherheitstechnik/Arbeitssicherheit
Bergische Universität Wuppertal
Fakultät für Maschinenbau und Sicherheitstechnik
Fachgebiet Sicherheitstechnik/Arbeitssicherheit