Neben den Gefährdungsbeurteilungen für die Arbeitsplätze von Menschen mit Behinderungen selbst stellt der Artikel auch inkludierte Gefährdungsbeurteilungen für Arbeitsplätze vor, bei denen Menschen ohne Behinderungen unmittelbar mit schwerbehinderten Menschen arbeiten.
Gefährdungsbeurteilung für Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen
„Die Gefährdungsbeurteilung eines Arbeitsplatzes für einen Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen ist ein Unikat. Hier steht einzig der Mensch im Mittelpunkt. Die Gestaltung des Arbeitsplatzes muss um die Fähigkeiten und Fertigkeiten des Beschäftigten herum vorgenommen werden“, erklärt Thomas Mackenstein, Berater für Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz. „Neben der allgemeinen Gefährdungsbeurteilung ist es wichtig, den Arbeitsplatz und die Tätigkeit mit den Augen des Menschen mit Behinderung zu sehen. Dadurch wird sichergestellt, dass auch der Mensch mit Behinderung keiner Gefährdung ausgesetzt ist.“
Gerade kleine und mittlere Unternehmen sind oft unsicher, welche Auswirkungen und speziellen Gefährdungen verschiedene Behinderungen ihrer Arbeitnehmer mit sich bringen, wie diese Gefahren dokumentiert und wie die Arbeitsbedingungen entsprechend der Gefährdungsbeurteilung verändert werden müssen.
Viele, zumeist kleinere Unternehmen, sehen daher für sich nur eine Lösung und stellen einen Menschen mit Schwerbehinderung erst gar nicht ein, wie Mackenstein erläutert: „Der Einstellung entgehen sie mit der Zahlung einer Ausgleichsabgabe. Arbeitgeber mit jahresdurchschnittlich weniger als 40 Arbeitsplätzen müssen einen schwerbehinderten Menschen beschäftigen. Sie zahlen je Monat 140 Euro, wenn sie diesen Pflichtarbeitsplatz nicht besetzen.“ Denen, die das nicht tun und die schwerbehinderte Person einstellen, stellt sich dann aber zunächst einmal die Frage, was einen (schwer-)behindertengerechten Arbeitsplatz überhaupt ausmacht. Der Gesetzgeber nennt hierfür unter anderem folgende Voraussetzungen:
- die Arbeitsumgebung darf den behinderten Beschäftigten weder über- noch unterfordern,
- die Beschäftigten dürfen durch die Arbeitsgeräte dürfen bei ihrer Arbeit nicht beeinträchtigt werden,
- Hindernisse und Barrieren am Arbeitsplatz, die den behinderten Beschäftigten bei seiner Tätigkeit einschränken oder gefährden, müssen beseitigt werden.
Das „Kölner Modell“ für Hörgeschädigte
Um diesen Unternehmen bei der Erstellung einer Gefährdungsbeurteilung für die Arbeitsplätze ihrer Angestellten mit Schwerbehinderungen zu helfen, hat das Integrationsamt des Landschaftsverbands Rheinland (LVR) in Köln gemeinsam mit dem sicherheitswissenschaftlichen Institut für Arbeitsmedizin, Sicherheitstechnik und Ergonomie e. V. (ASER) in Wuppertal anhand der Arbeitsplätze von Hörgeschädigten eine Methodik entwickelt, mit der überprüft werden kann, ob geplante oder vorhandene Arbeitsstätten und Betriebsmittel einen sicheren Betriebsablauf für Menschen mit Behinderung gewährleisten – die sogenannte „Inkludierte Gefährdungsbeurteilung“. Das vom Forschungsprojekt entwickelte Verfahren wurde bis 2016 erarbeitet und ist seitdem als „Kölner Modell“ ein Begriff. Das Besondere an ihm: Obwohl es institutionsspezifische Leitfäden zur Gefährdungsbeurteilung schon vorher gegeben hat, war sie die erste, die für jede Form der Behinderung Allgemeingültigkeit (also nicht nur für Hörgeschädigte!) hat und daher von den unterschiedlichsten Akteuren und Einrichtungen angewendet werden kann. Die neue Methode hilft den Unternehmen dabei, systematisch zu analysieren, wo die spezifischen Gefahren für die behinderten Mitarbeiter in ihren Betrieben liegen und wie sie zu verhindern sind.
Hilfe durch Integrationsämter
Die Gefährdungsbeurteilung selbst ist Angelegenheit des jeweiligen Betriebes. Sowohl die Expertise und Kompetenzen zur Durchführung einer inkludierten Gefährdungsbeurteilung als auch die Gestaltung eines behindertengerechten Arbeitsplatzes ist aber in den meisten Unternehmen häufig nicht vorhanden. Wie können diese Unternehmen unkompliziert praktische Hilfe bekommen? In allen Bundesländern gibt es hierfür auf Regierungsbezirksebene angesiedelte Integrationsämter, die die Betriebe unterstützen können. In Nordrhein-Westfalen sind dies zum Beispiel die Inklusionsämter der Landschaftsverbände.
Die technischen Berater des LVR-Inklusionsamtes verfügen sowohl über das Wissen zu den Auswirkungen verschiedener Behinderungen am Arbeitsplatz als auch über einen hohen Erfahrungsschatz in Hinblick auf den Einsatz von technischen Hilfen und behinderungskompensierenden Technologien.
In diesem Kontext bietet das LVR-Inklusionsamt Expertise als Partner und Berater, für die formale Durchführung sind die Betriebe aber zuständig. Die Hilfe der Integrationsämter erfolgt folgendermaßen, wie Volker Boeckenbrink, Leiter des Technischen Beratungsdienstes des Inklusionsamtes des LVR, erklärt: „Kernauftrag ist es, in Einzelfallkonstellationen bezüglich konkreter oder avisierter Antragstellungen zur begleitenden Hilfe im Arbeitsleben Lösungen zur behinderungsgerechten Arbeitsgestaltung sowie zu technischen Arbeitshilfen zu ermitteln, zu empfehlen und Stellungnahmen für die fördernden Stellen zu verfassen. Mitarbeitende des LVR-Inklusionsamtes führen Betriebsbesuche durch und beurteilen die Sachverhalte und Lösungsmöglichkeiten vor Ort und in Abstimmung mit den beteiligten und betroffenen Personen. Je nach Situation können Fragen zur Beurteilung von Arbeitsbedingungen für Stellungnahmen eine Rolle spielen.“
Bei Betriebsbesuchen der Integrationsämter geht es vorrangig darum festzustellen, inwiefern Beeinträchtigungen bei der Arbeit aufgrund einer festgestellten Behinderung mit technischen, aber auch organisatorischen Maßnahmen kompensiert werden können. Boeckenbrink: „Hierbei unterstützt der Technische Beratungsdienst des LVR-Inklusionsamtes durch eine ganzheitliche Betrachtung des Arbeitssystems, also des Arbeitsplatzes, der Arbeitsstätte, des Arbeitsmittels, des Arbeitsablaufes und vor allem des Menschen. Dies ist grundsätzlich mit einer Beurteilung der Arbeitsbedingungen verbunden. Darüber hinaus bieten Integrationsämter mit ihrer fachlichen Expertise auch antragslos Beratungsleistungen an.“
Bundesprojekt „Berufliche Teilhabe bei Epilepsie“
Aber nicht nur die Integrationsämter können Betrieben Unterstützung bieten. Je nach Art der Schwerbehinderung gibt beziehungsweise gab es auch andere Akteure. Beispiel: Epilepsie. Das zeitlich leider befristete Bundesprojekt „Berufliche Teilhabe bei Epilepsie“ war bis Oktober 2021 bundesweit aktiv. Sein Team bereiste die gesamte Bundesrepublik und beriet epilepsiekranke Arbeitnehmer, Arbeitgeber mit epilepsiekranken Mitarbeitern sowie Betriebsärzte, Fachkräfte für Arbeitssicherheit und andere Sicherheitsfachkräfte bei allen Fragen und Problemen im Bereich Epilepsie und Arbeit. Als Kooperationspartner stand TEA unter anderem die Deutsche Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV), der Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte e. V. (VDBW) und der Verband für Sicherheit, Gesundheit und Umweltschutz bei der Arbeit (VDSI) beiseite. Ein Schwerpunkt der Arbeit von TEA lag bei den Betriebsbegehungen vor Ort und der Unterstützung zur Erstellung einer inkludierten Gefährdungsbeurteilung.
Eine Gefährdungsbeurteilung muss sowohl im Vorfeld der Beschäftigung einer an Epilepsie erkrankten Person erfolgen als auch bei bereits Beschäftigten, nachdem diese einen ersten Anfall seit dem Beschäftigungsbeginn hatten. In einem Vorher-Nachher-Vergleich kann ermittelt werden, ob sich die Sicherheitssituation durch die spezialisierte Anpassung des Arbeitsplatzes an die Erfordernisse des epileptischen Beschäftigten verbessert hat. Unterstützt wurde die Arbeit von TEA von einem weiteren wichtigen Akteur bei der beruflichen Inklusion schwerbehinderter Menschen, dem Integrationsfachdienst. Mackenstein erklärt: „Der Integrationsfachdienst handelt im Auftrag des Integrationsamtes, der Agentur für Arbeit, teilweise auch dem Jobcenter und vor allem auch des jeweiligen Rehabilitationsträgers, die für die Ausführung von Leistungen, beispielsweise zur Anpassung des Arbeitsplatzes, verantwortlich bleibt. Sie arbeiten dabei eng mit der jeweiligen Unternehmensführung, der dortigen betrieblichen Interessenvertretung, Rehabilitationseinrichtungen und mit weiteren externen Stellen zusammen.“
Leitfäden für Epilepsie
Die DGUV Information 250–001 „Berufliche Beurteilung bei Epilepsie und nach erstem epileptischen Anfall“, die von einigen der TEA-Projektträger teilweise mitverfasst wurde, gilt hierbei als erster wichtiger Leitfaden und bildet auch die Grundlage der von TEA durchgeführten Gefährdungsbeurteilungen. In ihm werden unter anderem Gefährdungskategorien aufgelistet, mittels derer arbeitsplatzspezifische Risiken für epileptische Beschäftigte und entsprechende Schutzmaßnahmen identifiziert werden können. Er gibt auch Aufschluss darüber, ab welchem Zeitpunkt nach einem Anfall bestimmte Tätigkeiten durch den Beschäftigten wieder ausgeführt werden dürfen. Dabei werden neben den objektiv messbaren Kriterien (zum Beispiel „Maschinensicherheit erhöht“) auch subjektive Kriterien (zum Beispiel „Grad der sozialen Einbindung in den Betrieb“) berücksichtigt. Aus dem TEA-Projekt selbst entstand eine Handlungshilfe zum inkludierten Gefährdungsmanagement, die weiterhin auf der Projekt-Webseite heruntergeladen werden kann.
Gefährdungsbeurteilung Gewaltprävention
Spezifische, inkludierte Gefährdungsbeurteilungen, die Menschen mit Behinderungen im Fokus haben, gab es, wie anfänglich bereits erwähnt, bereits vor der Einführung des „Kölner Modells“. Konzipiert wurden diese in Einrichtungen, die sich mit der Therapie und Arbeitsintegration von Menschen mit Behinderung oder psychischen Beeinträchtigungen beschäftigen – beispielsweise in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. In diesen Institutionen war es aber nicht nur notwendig, Gefährdungsbeurteilungen für Arbeitsplätze schwerbehinderter Beschäftigter zu erstellen, sondern auch für die Arbeitsplätze der nicht behinderten Fachkräfte, die dort für Pflege und Ausbildung der behinderten Menschen zuständig sind. Besonders problematisch ist dabei die durch behinderte und psychisch beeinträchtigte Menschen ausgeübte Gewalt gegen das Personal von Wohn- und Therapieeinrichtungen. Beispiel: Die von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, dem mit rund 18.000 Beschäftigten größten Anbieter diakonischer Dienste in Europa. Im Stiftungsbereich „Bethel.regional“ mit 4.800 Beschäftigten an Standorten in Bielefeld und anderen westfälischen Städten wurde Gewalt gegen das Pflegepersonal, vor allem bei Alleinarbeit, ein immer größeres Problem. Bereits Anfang der Nullerjahre kam zu einer starken Zunahme von Gewaltvorfällen in den Wohngruppen der Bereiche Psychiatrie sowie Jugend- und Behindertenhilfe, die sich auch bald schon in einer markanten Erhöhung der einschlägigen Unfallanzeigen bemerkbar machte. Es hatte damals unter anderem drei Gewaltvorfälle gegeben, die für die Opfer fast tödlich endeten. Hierbei handelte es sich um Konflikte mit Menschen in einer akuten psychotischen Wahrnehmungsverzerrung. Weitere Gewaltvorfälle kamen vor, wenn sich Mitarbeitende in Konflikte zwischen den betreuten Menschen einmischen und schlichten wollten. Abhilfe suchten die Mitarbeitervertretung und die Geschäftsleitung schließlich in einem umfassenden Präventivkonzept, das seit 2015 umgesetzt wurde.
Instrumente der Gefährdungsbeurteilung
Damals konnten zwei wichtige Instrumente auf den Weg gebracht werden: die Dienstvereinbarungen zur Gewaltprävention, aufbauend auf dem Konzept der schon bestehenden Dienstvereinbarung zum Betrieblichen Gesundheitsmanagement, sowie eine detaillierte Gefährdungsbeurteilung mit Fokus auf der Gewalt am Arbeitsplatz mit der Bezeichnung „Gefährdung durch Menschen“. Neben dem Präventionsgedanken als zentralem Prinzip der Dienstvereinbarung legte diese fest, was unter Gewalt überhaupt zu verstehen ist: Gewalt sei das, was ein Mitarbeiter als Gewalt subjektiv wahrnimmt. Auch wenn die Auswirkungen der Gewalterfahrung für andere (beteiligte und nicht beteiligte) Personen unter Umständen nicht offensichtlich sein mögen, sollte die subjektive Wahrnehmung der betroffenen Person nicht in Frage gestellt werden. Was charakterisiert die auf Grundlage der Dienstvereinbarung konzipierte Gefährdungsbeurteilung „Gefährdung durch Menschen“ im Besonderen? Vor allem kann sie flexibel in jedem Bereich des Unternehmens eingesetzt werden. Dabei berücksichtigt sie bauliche, organisatorische und persönliche Faktoren.
Arbeitssituationsanalyse
Ein Instrument der Gefährdungsbeurteilung ist dabei die Arbeitssituationsanalyse. Hierbei setzen sich die Mitarbeiter eines bestimmten Arbeitsbereichs ohne Leitungspersonal zusammen und beratschlagen sich über die aktuellen Risiken für Gesundheit und Arbeitssicherheit. In diesem Rahmen sammeln sie mögliche Lösungen für bestehende Risiken und Probleme und besprechen diese mit der Leitung. Im Rahmen der Dienstvereinbarung wird in Bethel.regional zusätzlich der Dokumentationsbogen „Gewaltvorfälle gegen Mitarbeitende“ eingesetzt, in dem ein Vorfall, mögliche Auslöser und erste Maßnahmen zur Vermeidung der Gefährdungssituation dokumentiert und systematisch ausgewertet werden können. Alle Gewaltvorfälle wurden zunächst vollständig dokumentiert: Die Beschäftigten und die Einrichtungsleitungen können so zuverlässig erkennen, in welchen Einrichtungen und während welcher Dienste Gewalt in welchem Umfang vorkommt, denn der Beobachtungsbogen erfasst alle gewaltsamen Übergriffe, egal ob sie eine Unfallanzeige rechtfertigen oder nicht. Damit können betroffene Arbeitsteams gezielt angesprochen werden. Darüber hinaus wird grundsätzlich eine Unfallanzeige ausgefüllt, damit der Umfang und die Schwere von Gewaltvorfällen dokumentiert ist. Dies ist insbesondere deswegen wichtig, weil sich psychische Folgen eines Übergriffs häufig erst zu einem späteren Zeitpunkt zeigen.
Alle in der Gefährdungsbeurteilung ermittelte Gewalt wird darüber hinaus im Rahmen von Teambesprechungen thematisiert. Durch den Erfassungsbogen gibt es eine noch bessere Datengrundlage, um sinnvolle Präventionsmaßnahmen planen zu können. Allen Gewaltvorfällen wird seitdem in den Einrichtungen von Bethel.regional nachgegangen und die Betroffenen können im Bedarfsfall eine Beratung in Anspruch nehmen.
Zukunftsperspektiven der inkludierten Gefährdungsbeurteilung unklar
Es bleibt zu wünschen, dass die oben vorgestellten neuen Ansätze bei der Gefährdungsbeurteilung von Arbeitsplätzen für Menschen mit Behinderungen sowie zur besseren Zusammenarbeit bzw. zum besseren Zusammenleben behinderter und nicht-behinderter Menschen eine weite Verbreitung finden. Mit ihrer Hilfe lassen sich hoffentlich auch Bedenken der Arbeitgeber in der Post-Pandemiezeit ausräumen, die Arbeitsplätze für behinderte Menschen abbauen wollen, weil sie sich mit den Anforderungen an deren Arbeitsplätze insbesondere vor dem Hintergrund der aktuell unsicheren wirtschaftlichen Lage überfordert fühlen. Langfristig werden die berufliche Teilhabe und die Gestaltung sicherer Arbeitsplätze von schwerbehinderten Menschen aber nicht aufzuhalten sein. Auch deshalb, weil sich neben diesen Menschen selbst Millionen von Angehörigen und Freunden für dieses Thema stark machen. Auch im Bereich der Arbeitssicherheit und des betrieblichen Gesundheitsschutzes engagieren sich nicht zuletzt deshalb immer mehr Menschen. So auch Thomas Mackenstein: „Nicht nur beruflich, sondern auch privat reizt mich diese Aufgabe. Als Vater eines an Absencen-Epilepsie erkrankten Kindes macht man sich Gedanken über die berufliche Zukunft des Nachwuchses. Die Arbeit mit TEA hat mich dazu bewogen, dieses Thema weiterzuführen und anderen Fachkräften für Arbeitssicherheit zugänglich zu machen.“