… und keinerlei Fortschritt bei der Arbeitsmedizin also – das starre, arztzentrierte Denken steht hier jedem Fortschritt im Wege!
Leider bei seit Jahren allseits bekanntem und beweintem Ärztemangel. Es ist betrüblich, wie arg hier Politik und Lebenswirklichkeit auseinanderklaffen.
Wir haben in Deutschland eine ganze Reihe qualifizierter medizinischer Assistenzberufe, die man guten Gewissens in Richtung arbeitsmedizinischer Betreuung *pimpen* könnte.
Zu nennen wäre da insbesondere der Beruf des Arztassistenten, ein Bachelor-Studiengang der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (www.dhbw.de). Hier erfolgt eine Vertiefung der Fachkompetenz (für die es in der deutschen derzeit Medizinlandschaft kaum Raum gibt). Generell ist eine Akademisierung der medizinischen Assistenzberufe beobachtbar, selbst der Beruf der Hebamme wird aktuell auf einen Bachelor-Studiengang gestellt.
Für viele der Aufgaben nach §3 ASiG wären die physiologischen und anatomischen Kenntnisse ausreichend; man braucht kein abgeschlossenes Medizinstudium mit Facharztausbildung um die Beratung nach §3 (1) Nr. 1a) bis 1g), die Beobachtungen nach §3 (1) Nr. 3a) und 3b) durchführen oder nach §3 (1) Nr. 4 hinwirken zu können. Hierzu kommt es vor allem auf die arbeitswissenschaftlichen Kenntnisse (und auch die Vorschriftenkenntnisse) an, die im Rahmen der Aus- und Fortbildung vermittelt werden können. Sicherheitsfachkräfte werden auch auf ihren jeweiligen Beruf aufbauend in vergleichsweise kompakter Form qualifiziert.
Ohnedies erfolgt die Untersuchung der Beschäftigten in weiten Teilen durch das Assistenzpersonal. Hör- und Sehtest, EKG, Messen, Wiegen, Lungenfunktion, … macht die MFA. Arbeitsmediziner befunden dann, führen das Beratungsgespräch und überweisen zum Facharzt – Augenarzt, HNO-Arzt, Ohrenarzt, etc. – zur Abklärung bei Auffälligkeiten. Das kann z.B. auch Absolventen des o.g. Studienganges zugetraut werden.
Vielfach wird in Deutschland schon auf Telemedizin gesetzt – hier erfolgt das Arzt-Patienten-Gespräch online, Anamnese, Diagnostik und Therapieberatung. Befunde werden vorab übermittelt oder mittels Kamera oder DFÜ-fähigen Diagnosegeräten übertragen. In der Notfallmedizin wird bei dringenden Eingriffen sogar dem qualifizierten Assistenzpersonal online die Hand geführt (Beispiel Seefahrt, Halligen, …). Auch so etwas kann ein Lösungsansatz sein: Assistenzpersonal vor Ort im Betrieb, angeschlossener Arzt in seiner Praxis zugeschaltet.
Es wird m.E. weder mittel- noch langfristig gelingen, das Fach Arbeitsmedizin so attraktiv zu machen, dass der Bedarf an arbeitsmedizinischer Betreuung gedeckt werden kann. Das liegt an zahlreichen Einflussgrößen:
- Attraktivität der Präventivmedizin – gering unter Studierenden, gegenüber erfolgsversprechenderen chirurgischen oder internistischen Fächern nicht konkurrenzfähig.
- Nur wenige Studierende wie Unternehmer erkennen den Wert des Arbeitsmediziners als Vertrauensarzt der Belegschaft und verkennen dadurch Benefits wie geringeren Krankenstand, Zugang zu zügigeren, vertiefter Diagnostik oder gar zügigeren Zugang zu Therapie ernsthaft erkrankter Beschäftigter und auf diese Weise know-how-Sicherung. Allerdings haben gerade in diesem Punkt vorangegangene Arbeitsmediziner-Generationen viel Milch verschüttet, indem sie sich als reine Vorsorge- und Eignungsuntersucher oder gar Vertrauensarzt des Unternehmers definiert haben.
- Facharztzwang – Ohne fundierte internistische oder chirurgische Vorbildung keine gute Arbeitsmedizin. Wer aber hier bereits Facharzt ist und einen zweiten Facharzt anstrebt, wird immer eine Vertiefung und Spezialisierung wählen; anders ist es im deutschen Medizinsystem wirtschaftlich gar nicht interessant. Erneut in die Breite gehen ist unattraktiv.
Arbeitsmediziner sind in weiten Teilen Allgemeinmediziner, die ihre Patienten ganzheitlich und im Zusammenhang mit ihrer Berufstätigkeit betrachten. Warum hier nicht einfach auf Allgemeinmediziner zugehen und sie analog Sicherheitsfachkräften aufbauend in kompakter Form qualifizieren? So entsteht auf einfache Weise ein zusätzlicher Markt für Allgemeinmediziner, wie es auch mit Sportmedizin, ganzheitlicher Medizin u.ä. der Fall ist. - Einzelne Ermächtigungen für Vorsorgeuntersuchungen – Wenn der Facharzt für Arbeitsmedizin erst einmal geschafft ist, dann muss sich der frischgebackene Facharzt noch einmal auf die Schulbank setzten und sich für jede der Vorsorgeuntersuchungen, die er beabsichtigt einmal durchführen zu wollen, kostenpflichtig ermächtigen zu lassen. Keine Ermächtigung = keine Anerkennung = keine Abrechnung.
- Einsatzzeiten – die Betreuungszeit muss zwischen Sifa und Betriebsarzt vom Unternehmen aufgeteilt werden. Was soll das denn ? Klassischerweise liegt die Betreuungszeit für Betriebsärzte bei rund 20 Prozent der pro-Kopf-Einsatzzeit, bei Gruppe II – Unternehmen also 0,3 h / Beschäftigtem und Jahr oder auch 18 min. pro Beschäftigtem und Jahr. Wenn das typische, deutsche Unternehmen statistisch 12,7 Beschäftigte hat, sind das nicht ganz vier Stunden Grundbetreuung pro Jahr. Anfahrtszeit ausgenommen. Aber das ist Statistik, 3,1 Mio. der 3,5 Mio. Unternehmen in Deutschland sind 10 Beschäftigte, für einen 5‑Personen-Betrieb macht das 1,5 Stunden pro Jahr. Für welchen Arzt rechnet sich das ?
- Zusammengesetztes Betreuungsmodell aus Grundbetreuung + betriebsspezifische Betreuung – Grundbetreuung mit crisper Einsatzzeit und betriebsspezifischer Betreuung mit basarischer Einsatzzeit. Welchen Zeitbedarf an betriebsspezifischer Betreuung hat denn ein Unternehmen tatsächlich? Wie soll der Nachfrager (Unternehmen) oder Anbieter (Arzt) das plausibel beziffern? Insbesondere ein 5‑Personen-Betrieb ? Wirtschaftlich so uninteressant, dass es von überbetrieblichen Diensten gar nicht erst angeboten wird.
Gesundheitsförderung oder BGM kommt ohnehin aus anderen Kanälen: Rückenschulangebote von praktizierenden Physiotherapiepraxen, Entspannungstechniken von örtlichen Yogaschulen, Allerweltsprogramme von Krankenkassen. Wofür also betriebsspezifische Einsatzzeiten ?
Die von Dr. Thorsten Kunz beichteten Änderungen bezüglich der Sicherheitsfachkräfte sind sehr zu begrüßen, auch wenn sie wohl noch einige Zeit auf Eis liegen werden.
Warum die Behandlung von Teilzeitkräften ein ungelöst strittiges Thema ist vermag ich nicht nachzuvollziehen:
- (Groß)-Unternehmen rechnen in sog. FullTimeEquivalents (FTE) – wie viele Menschen dort tatsächlich arbeiten weiß nur der IT-Koordinator, der die m@il-adressen vergibt.
- Arbeitsschutz für zwei halbe Stellen oder eine ganze Stelle macht gleichen Aufwand; kollektive Schutzmaßnahmen (die ja vorzugsweise zu wählen sind) sind für zwei Halbtagskräfte genauso zeitaufwändig vorzuschlagen wie für eine Vollzeitkraft; PSA-Auswahl braucht aufgrund der Beschäftigtenzahl nicht mehr Arbeit.
- Wenn doch 3,1 Mio. Unternehmen 10 Beschäftigte zählen sind die pro-Kopf Einsatzstunden der Grundbetreuung per sé marginal; hier zählt die betriebsspezifische Betreuung aufgrund der ermittelten Gefährdungen.
- Die Kopfzahl ist einzig für die arbeitsmedizinische Vorsorge von Belang – die aber ist gar kein Bestandteil der Einsatzzeitenberechnung sondern läuft und lief seit eh und je eigeneständig neben der ASiG-Betreuung her.
Warum also in den Gremien streiten?
Für die von Dr. Kunz angesprochene Modernisierung des ASiG hätte ich noch folgende Anregungen:
- Klare Aussage, wann ein Unternehmen einen Sicherheitsingenieur (oder künftig Sicherheitsnaturwissenschaftler), einen Sicherheitstechniker oder einen Sicherheitsmeister benötigt.
- Klärung, wie in diese Sifa-Trias die Bachelor- und Master-Absolventen einzuordnen sind; auch im Hinblick auf Bachelor / Master-Abschlüsse von FHs
- Abschaffung des Anachronismus „Arbeitsschutzausschuss“. Die Forderung hatte in früheren Jahren Berechtigung, in Großunternehmen mit ihren Sozialzielsetzungen und zahlreichen Kommunikationsplattformen, die regelweise mit (Arbeits-)Sicherheitsthemen beginnen, ist die ASA-Sitzung nur noch eine legislative Pflichtübung, die man durchschreitet wie einen Regenguss. In Betrieben mit weniger als 10 Beschäftigten gibt es ohnehin keine Sicherheitsbeauftragten. Hier existiert entweder eine gute Kommunikationskultur, in der man routinemäßig mit der Belegschaft auch über Sicherheit spricht, oder die Probleme sind gänzlich anders gelagert. Das Fehlen der ASA-Sitzungen ist nicht einmal eine Ordungswidrigkeit geschweige denn Bußgeldbewehrt. So ernst kann sie der Gesetzgeber weiland 1973 wohl nicht gemeint haben.
Viele Grüße
Frank Laupichler