Herr Zueche, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an die vergangenen 20 Monate denken?
Die vergangenen 20 Monate sind durch die Coronapandemie geprägt und deren Auswirkungen auf das soziale Leben, die Gesellschaft allgemein, als auch auf die Folgen für Unternehmen, Organisationen und deren Mitarbeitende. Diese Zeit wurde auch bestimmt durch einen unrealistischen Optimismus im Sinne eines „Mir/Uns wird schon nichts passieren“ sowiedurch eine Kontrollillusion, dass wir alles im Griff haben. Leider hat uns das Coronavirus eines Besseren belehrt. Immer wieder musste ich auch lesen, dass Corona ein „schwarzer Schwan“ sei. Dies ist es definitiv nicht gewesen! Wir waren nur nicht vorbereitet.
Aus Unternehmenssicht gab es in dieser Hinsicht sehr viel Arbeit, beginnend mit dem Hochfahren der IT-Kapazitäten, Umstellen auf Remote Work, Anpassung von Geschäftsprozessen, dem Vorantreiben der Transformation, ständiger inhaltlicher und definitorischer Änderungen von Bundes- und Landesverordnungen und deren Umsetzung in die betriebliche Praxis sowie den Erwartungen einer schnellen Rückkehr zur Normalität. Und dieses sind nur einige Punkte aus einer Vielzahl von Herausforderungen.
Und welche Gedanken haben Sie, wenn Sie an die kommenden 20 Jahre denken?
Die vor uns liegenden 20 Jahre werden geprägt sein durch den Umgang mit dem Klimawandel sowie die Umsetzung von gesamtgesellschaftlichen Maßnahmen und unternehmerischen Schritten, um das 1,5‑Grad-Celsius-Ziel zu erreichen. Das wird anstrengend genug werden. Es werden auf jeden Fall spannende Jahre werden, auch aus Unternehmenssicht.
SARS-CoV‑2 hat viele Unternehmen und Organisationen ja eiskalt erwischt. Und das, obwohl Fachleute – und nicht nur Bill Gates – seit Jahren vor einer Pandemie warnten. Wie naiv sind viele in Bezug auf abstrakte bedeutsame Risiken?
Ich würde nicht von naiv sprechen, da die Risikowahrnehmung immer sehr individuell ist und Verzerrungseffekten unterliegt. Abstrakte Risiken wie der Klimawandel oder Cybercrime sind hierbei die besten Beispiele. Was uns weit weg erscheint und von dem wir uns weder bedroht noch persönlich betroffen fühlen, ist als Risiko immer schwierig zu handhaben. Wenn wir uns aber bedroht fühlen oder persönlich betroffen sind, werden wir dieses Risiko als sehr hoch einstufen, obwohl die Eintrittswahrscheinlichkeit im Promillebereich liegt. Die Wahrheit liegt häufig dazwischen. Aus diesem Grund ist es immer empfehlenswert, sich mehrere Meinungen einzuholen und diese mit Daten und Fakten zu belegen.
Das ist das sogenannte Risikoparadoxon. Zudem vertrauen Menschen eher ihrer Intuition, wenn es um komplexe Situationen geht und zwischen Ursache und Wirkung mehrere Schritte und Rückkopplungseffekte liegen. Die Diskussion um die Hochwasserkatastrophe im Ahrtal zeigt dies sehr gut. War es nun ein Hochwasser, wie es in 100 Jahren einmal vorkommt oder ist es eine direkte Auswirkung des Klimawandels? Ich lasse die Frage mal unbeantwortet so stehen. Nicht alles, was zum „schwarzen Schwan“ erklärt wird, ist es auch.
Wie kann die Risikokompetenz von Menschen, Unternehmen, Organisationen und auch der Politik gesteigert werden?
Risikokompetenz als Fähigkeit, Risiken und Chancen realistisch einzuschätzen, beruht sehr stark auf Erfahrungen und Wissen. Zudem haben Studien gezeigt, dass je höher der Bildungsgrad, desto höher auch die Risikokompetenz. Und genau dort liegen auch die Hebel. Zum einen sollten die Menschen adäquat, verständlich und valide informiert werden und zum anderen sollte die Eigenverantwortung im Umgang mit Risiken jedes Einzelnen gestärkt werden. Dazu zählt, sein eigenes Wissen und Können realistisch einzuschätzen, strategisch zu denken, aber auch Zahlen und Informationen kritisch zu hinterfragen. Deshalb ist es auch eine staatliche Aufgabe, diese Zahlen und Fakten zur Verfügung zu stellen und bereits in der Schule an die Schülerinnen und Schüler zu adressieren. Ein anderer Punkt ist das Wissen im Bereich Stochastik. Wissenslücken in diesem Bereich lassen Menschen immer wieder Fehlschlüsse ziehen. Da sollte bereits in der Schule darauf eingegangen werden. Die Risikoeinstellung sprich die Bereitschaft, Risiken einzugehen, ist dabei ein nicht zu vernachlässigender Aspekt. Ein risikoaversiver Mensch wird dazu neigen, eher Risiken zu vermeiden, während ein risikofreudiger Mensch eher bereit ist, höhere Risiken in Kauf zu nehmen. Dies gilt auch für Unternehmen, Organisationen und die Politik.
Ein Schritt hin zu mehr Risikokompetenz ist es auch, sich der Verzerrungseffekte bewusst zu sein und vor allem, die subjektiven Eintrittswahrscheinlichkeiten nicht den objektiven vorzuziehen oder diese sogar miteinander zu verwechseln. Seltene Ereignisse, die als eine starke persönliche Bedrohung wahrgenommen werden und medienwirksam sind, werden in ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit immer überschätzt und häufige Ereignisse nicht medialer Natur konsequent unterschätzt. Ein Terroranschlag wird beispielsweise von Laien um den Faktor 30 überschätzt, wohingegen ein Wohnungsbrand um den Faktor 350 unterschätzt wird. Dies bedeutet, sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen als auch mit Daten und Fakten aus unterschiedlichen seriösen Quellen auseinanderzusetzen, um ein Gesamtbild zu erhalten. Die aktuelle Coronasituation zeigt auf, wie schnell Menschen Verschwörungstheorien oder Fake News Glauben schenken.
Dass eine Pandemieplanung aktuell und zukünftig nötig ist, das dürften die allermeisten ja mittlerweile verstanden haben – und dass auch die nächste Pandemie kommen wird, wann auch immer. Lieferkettenprobleme, Energieversorgung, Cybercrime und weitere Risiken sind mittlerweile stärker im Bewusstsein angekommen. Doch wie sieht es mit dem Bewusstsein für die Risiken durch den Klimawandel aus? Und welche sind das?
Das Bewusstsein sollte mittlerweile vorhanden sein. Das Problem mit dem Klimawandel ist der zeitliche Horizont. Ein Beispiel: Nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen werden die Alpen im Jahr 2100 so gut wie schneefrei sein. Dies hat sehr große Auswirkungen auf die Wirtschaft, wie beispielsweise den Tourismus, die Trinkwasserversorgung, aber auch auf das gesamte Ökosystem der Alpen- und Alpenanrainerstaaten. Wir reden hier also von einem Ereignis, dessen vollständige Auswirkungen erst in circa 80 Jahren sichtbar sein werden. Das betrifft also unsere Ur- und Ururenkelgeneration und fördert nicht gerade ein pro-aktives Handeln von Unternehmen und Politik.
Die Risiken sind dabei sehr unterschiedlich. Von Hochwasserkatastrophen, Überschwemmungen und Sturzfluten über zunehmende und heftigere Wirbelstürme, Winterstürme, extreme Wetterlagen wie starke Gewitter, Hagel und Tornados bis hin zu Megafeuern und Dürren sowie Hitzewellen und damit einhergehende Verknappung von Trinkwasser. Momentan können wir bereits weltweit erste Auswirkungen sehen und diese Risiken werden in den kommenden Jahren und Jahrzehnten steigen, sofern es uns nicht gelingt, den Klimawandel zu verlangsamen.
Die globale Bedrohung der Biodiversität sind in ihren Folgen für uns kaum abzusehen. Und diese Bedrohung ist in der Wahrnehmung der meisten Menschen noch gar nicht wirklich angekommen. Auch nicht in der Wahrnehmung von Unternehmen und Organisationen?
Ich gehe persönlich schon davon aus, dass sehr viele Unternehmen und Organisationen sich dessen bewusst sind. Durch Whistleblower und veröffentlichte Gerichtsunterlagen wissen wir heutzutage, dass Mineralölkonzerne wie ExxonMobil, Shell und BP von der Gefahr der Klimakrise seit Jahrzehnten wussten. Das Unternehmen Total hatte bereits seit 1971 von der ökologischen Schädlichkeit der Exploration als auch ihrer Produkte sowie der daraus entstehenden Erderwärmung Kenntnis gehabt. Passiert ist nichts. Die Elektromobilität ist nur eine Brückentechnologie und wird trotzdem als Zukunftstechnologie verkauft, obwohl die Rohstoffgewinnung für die Batterien sowie die Entsorgung höchst bedenklich sind. Das wissen die Unternehmen, aber Konsumentinnen und Konsumenten wollen es so haben. Solange es keinen Druck seitens der Konsumentinnen und Konsumenten oder des Gesetzgebers gibt, diese Probleme zu lösen, wird es zu keiner Änderung kommen.
Stehen auch Unternehmen und Organisationen in der Verantwortung für die Risiken, die sich aus dem Artensterben ergeben?
Die Verantwortung für den Schutz und Erhalt unseres Planeten obliegt allen Menschen. Dazu gehören auch die Unternehmen und Organisationen. Ein „Weiterso“ darf es eigentlich nicht mehr geben. Artensterben bedeutet auch, dass sich die Menschheit langfristig ihr eigenes Grab schaufelt. Al Gore sagte einmal so treffend: „Haben wir keinen Planeten mehr, geht es der Wirtschaft nicht gut.“ James Hansen, ehemaliger Direktor des Goddard-Instituts für Weltraumstudien der NASA, berechnete, die Energie, die durch die vom Menschen verursachte globale Erwärmung zusätzlich in die Atmosphäre abgegeben wurde, „…entspricht der Explosion von 600.000 Atombomben der ersten Generation pro Tag an 365 Tagen im Jahr“. Das sollte uns zu denken geben. Das Ergebnis ist die steigende globale Erwärmung, an der auch Unternehmen einen entscheidenden Einfluss haben. Dieser Verantwortung müssen sich die Unternehmensinhaber und Konzernlenker bewusst sein und danach handeln. Wenn sich die Jahresboni aber nur an reinen betriebswirtschaftlichen Kennzahlen orientieren und nicht an ökologischen, wird sich im Verhalten nicht viel ändern.
Und was können und sollten Unternehmen und Organisationen tun, um ihrer Verantwortung dafür gerecht zu werden?
Transparenz und ehrliche Kommunikation sind wichtige Schritte in die richtige Richtung, um Stakeholdern, Investoren, Konsumenten sowie anderen Interessengruppen eine Übersicht über die klimabedingten Risiken des Geschäftsbetriebs und die Reaktion des Unternehmens auf den Klimawandel zu geben. Hierbei muss eindeutig erkennbar sein, wie das Unternehmen auf die Risiken reagiert und welche Maßnahmen umgesetzt werden oder zukünftig realisiert werden sollen. Unter anderem kann dies Kennzahlen zur Emissionsreduzierung im Sinne des Pariser Klimaabkommens beinhalten, die jährliche Steigerung der Energieeffizienz – zum Beispiel durch energetische Sanierung oder Umsetzung neuester Niedrigenergiestandards bei Neubauten –, Einsatz energieeffizienterer Technologien, Maschinen und Anlagen, Nutzung erneuerbarer Energien, die Entwicklung klimafreundlicher Produkte, die Reduzierung des CO2-Ausstoßes entlang der Supply Chain und der Logistik und vieles mehr. Es muss ein ganzheitlicher Ansatz umgesetzt werden und alle Unternehmensprozesse sollten dabei analysiert und nach klimafreundlichen Kriterien bewertet werden. Es darf nicht nur bei Versprechungen bleiben, sondern muss in konkrete Umsetzung münden.
Brauchen Unternehmen und Organisationen eine echte und nachhaltige Suffizienzstrategie?
Eine reine Suffizienzstrategie wird sich in unserem heutigen Wirtschaftssystem noch nicht durchsetzen. Lerne verzichten, ohne zu verzichten, ist leicht gesagt, aber schwer umzusetzen. In dieser Diskussion müssen natürlich auch immer die sogenannten Reboundeffekte betrachtet werden. Wenn etwas heutzutage als umwelt- oder klimafreundlich betrachtet wird, steigt der Konsum dieser Produkte, Waren oder Dienstleistungen und macht einen Großteil oder die gesamte Effizienzsteigerung und den ökologischen Fußabdruck zunichte.
Eine 3R-Strategie mit Replace, Reduce, Refine in Verbindung mit Responsibility und Respect (gegenüber der Umwelt) ist für mich ein gangbarer Weg. Dazu benötigt es aber neben einem breiten gesellschaftlichen Konsens auch regulatorische Vorgaben seitens des Gesetzgebers. Eine Senkung des Angebotes oder auch eine Reduzierung des Konsums wird zwangsläufig zu steigenden Preisen führen. Und die Frage ist immer, ob Endverbraucherinenn und Endverbraucher da mitspielen. Gute Ansätze gab es im Bereich der Sharing Economy, aber leider haben sich diese dann immer wieder als „Plattformkapitalismus“ herausgestellt.
Krisen- und Notfallmanagement, Business Continuity Management usw. Wie sehr und wie sollten Unternehmen und Organisationen intern diese Themen höher aufhängen und alle Mitarbeitenden informieren und mehr einbeziehen?
Die Coronapandemie, die Unterbrechung der weltweiten Lieferketten durch das Containerschiff „Ever Given“ am 23. März 2021 im Suezkanal, weltweite Ransomware-Attacken auf Unternehmen und Organisationen, der Chipmangel, der Klimawandel usw. sollten dem Top-Management vor Augen geführt haben, wie wichtig das Thema Business Continuity und vor allem wie essenziell Notfall- und Krisenmanagement sind. Das sind keine Liebhabereithemen, die nebenbei erledigt werden können, sondern sollten oder besser müssen so hoch wie möglich in der Hierarchie angesiedelt und mit allen notwendigen Entscheidungsbefugnissen ausgestattet sein. Ein integrativer Ansatz über alle Unternehmensprozesse hinweg ist dabei empfehlenswert, um nicht als „liebloses“ Silo im Organigramm zu enden.
Die Information der Mitarbeitenden hat im Not- und Krisenfall eine sehr wichtige Bedeutung, wobei dies nicht eine „Hofberichterstattung“ sein sollte. Aktuelle Informationen, vor allem in sich dynamisch verändernden Situationen möglichst in Echtzeit weiterzugeben und einen Austausch mit den Mitarbeitenden gewährleistend, können somit einheitliche Nachrichtenübermittlungen sicherstellen und alle Mitarbeitenden auf einen gleichen Kenntnisstand bringen. Dies sorgt auch für Stabilität und Vertrauen in die Führung. Wichtig ist in diesem Zusammenhang das Üben von Notfall- und Krisenszenarien, um das Zusammenspiel aller im Krisenmanagement beteiligten Personen hinsichtlich Strukturen, Prozessen, Medienarbeit, Berichtswegen etc. zu trainieren. Denn nichts ist schlimmer, als wenn es vorher keine festgelegten Aufgaben und Verantwortlichkeiten gibt, da im Falle einer Krise erst einmal häufig mindestens der Orientierungs‑, leider bei einigen Verantwortlichen der Panikmodus herrscht.
Schon die alten Griechen und deren tragische Heldin Kassandra – die zwar immer wieder das Unheil voraussah, aber niemals Gehör mit ihren sprichwörtlichen Kassandrarufen fand – thematisierten Risiken. Fühlten Sie sich auch über die Jahre hinweg als Kassandrarufender? Wie gehen Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen damit um?
So schlimm ist es zum Glück nicht, aber als Security- und Krisenmanager bin ich diese Situation gewohnt. Es ist aber auch abhängig von der jeweiligen Unternehmenskultur. Es gibt Unternehmen, die einen proaktiven Ansatz fahren, während andere wiederum darauf warten, dass erst etwas passieren muss. Risiken müssen trotzdem regelmäßig an das Top-Management adressiert werden. Auch wenn ich diesbezüglich kein Gehör finde, muss ich Risikominimierungsstrategien und Maßnahmen im Rahmen meines Verantwortungsbereiches erarbeiten, denn einen Plan zu haben ist besser, als einen Plan zu brauchen. Mit diesem Ansatz bin ich bisher ganz gut zurechtgekommen. Selbstverständlich gibt es ab und zu den „Ich habe es euch doch gesagt“-Moment. Das ist dann aber irrelevant. Wichtig ist nur, dass immer alle kommunikativen Kanäle offen sind, Dialogbereitschaft herrscht und nicht durch persönliche Befindlichkeiten blockiert werden. Ein regelmäßiger Austausch und die fachbereichsübergreifende und lösungsorientierte Diskussion sind dabei entscheidende Bausteine.
Vielen Dank für Ihre Antworten!
Das Interview führte Weigand Naumann.
Sebastian Zueche (43) ist Experte für Sicherheits-/Risiko- und Krisenmanagement und als Security Manager des Arbeitsmarktservices Österreich tätig. Seine berufliche Laufbahn begann er als Militärpolizei-Offizier bei der Bundeswehr und war dabei unter anderem in Afghanistan und im Sudan/Süd-Sudan tätig. Danach arbeitete er als Senior Organisations- und Prozessberater für verschiedene Unternehmensberatungen und die Automobilindustrie. Er ist Mitglied der „Deutschen Gesellschaft für Krisenmanagement e.V.“, des „Zentrums für Risiko- und Krisenmanagement“ in Österreich sowie Climate Reality Leader des von Al Gore gegründeten Climate Reality Leadership Corps.