1 Monat GRATIS testen, danach für nur 3,90€/Monat!
Startseite » Recht » Gesetze/Verordnungen »

Echte Menschen sind auch ohne Schriftstück verantwortlich

Sicherheitsverantwortung, Arbeitsschutzorganisation und Haftung: Mythen und Wahrheiten
Echte Menschen sind auch ohne Schriftstück verantwortlich

Echte Menschen sind auch ohne Schriftstück verantwortlich
Foto: © magele-picture – stock.adobe.com
Prof. Dr. Thomas Wilrich
Im let­zten Teil 16 hieß es, Unternehmen sind nur gedankliche Kon­struk­te – ihnen wird Rechts­fähigkeit zuerkan­nt und sie sind die primär Arbeitss­chutz-Ver­ant­wortlichen. Hand­lungs­fähig sind diese „Rechtsmythen“ indes nicht. Das sind nur rechts­fähige Men­schen. Den Arbeitss­chutz umset­zen müssen echte Men­schen – und zwar auch ohne schriftliche Pflichtendelegation.

Viele Äußerun­gen zur Arbeitss­chutz-Ver­ant­wor­tung der Beschäftigten sind missver­ständlich. Miss­lun­gen ist etwa der inzwis­chen gelöschte Kom­Net-Dia­log 4428 der Kom­Net-Wis­sens­daten­bank „Was soll/kann im Arbeitss­chutz delegiert wer­den? Wie sieht eine rechtssichere Del­e­ga­tion aus?“. Eine der zu beant­wor­tenden Teil­fra­gen lautete: „Was ist per se delegiert, muss also nicht noch mal expliz­it for­muliert werden?“.

Wer ist „per se“ wie weit für den Arbeitsschutz verantwortlich?

Die jet­zt nicht mehr abruf­bare Antwort lautete: „Als ‚Vorge­set­zter‘ (Grup­pen­leit­er, Meis­ter, Abteilungsleit­er etc.) ist man nicht automa­tisch für den Arbeitss­chutz im Sinn der Regelun­gen des Arb­SchG ver­ant­wortlich. Es bedarf entwed­er der Arbeit­ge­ber­funk­tion oder der in § 13 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 Arb­SchG genan­nten Funk­tio­nen. Sollte diese Funk­tion bei einem ‚Vorge­set­zten‘ nicht gegeben sein, bedarf es zur Rechtswirk­samkeit der Del­e­ga­tion durch den Arbeit­ge­ber ein­er geson­derten Über­tra­gung nach § 13 Abs. 2 oder ver­gle­ich­bar­er For­mulierun­gen im Arbeitsvertrag.“

Das ist sehr missver­ständlich, denn diese Antwort berück­sichtigt nur die „Regelun­gen des Arb­SchG“. Das stellt die Antwort zwar klar, aber diese Fein­heit nimmt kein­er wahr – ich habe das selb­st in vielle­icht 50 Ver­anstal­tun­gen getestet. Nie­mand hat die Antwort so ver­standen, dass sie sich nur auf das Arb­SchG bezieht, son­dern alle haben geschlussfol­gert, das gilt immer: Vorge­set­zte seien also – „per se“ – nicht ver­ant­wortlich für den Arbeitss­chutz, son­dern erst, wenn sie schriftlich gemäß § 13 Abs. 2 Arb­SchG beauf­tragt wer­den. Der Kom­Net-Dia­log ver­schweigt, dass wir eine Gesamtrecht­sor­d­nung haben: „Sobald jemand einen Para­graphen eines Geset­zbuch­es anwen­det, so wen­det er das ganze Geset­zbuch an“ – so hat es Rudolf Stamm­ler gesagt. Noch schön­er ist ein Satz des amerikanis­chen Juris­ten Oliv­er Wen­dell Holmes Jr.: „Als Juris­ten haben Sie die Auf­gabe, das Ver­hält­nis Ihres speziellen Fall­es zum ganzen Uni­ver­sum zu sehen.“

Das riesige Rechtsuniversum

Der Kom­Net-Dia­log unter­schlägt das Wesentliche aus dem Recht­suni­ver­sum – dass es näm­lich neben der ver­wal­tungsrechtlichen/öf­fentlich-rechtlichen Ver­ant­wor­tung der Beschäftigten gegenüber dem Staat (gemäß Arb­SchG) auch eine ziv­il- und strafrechtliche Ver­ant­wor­tung nach den all­ge­meinen Rechtsvorschriften gibt – jeden­falls nach der Zahl der Gericht­surteile sind diese Schadenser­satzansprüche oder Straf­sank­tio­nen der entschei­dende Bere­ich der Rechtswelt. Dort gilt die ein­fache Regel: Jed­er Mitar­beit­er (jed­er Men­sch) ist automa­tisch und ohne schriftliche Pflicht­enüber­tra­gung für die über­nomme­nen (Leitungs-)Aufgaben im Rah­men sein­er (Weisungs-)Befugnisse ver­ant­wortlich.1 Das ist „per se“ durch den Posten über­tra­gen. Die DGUV Infor­ma­tion 211–006 „Sicher­heit und Gesund­heitss­chutz durch Koor­dinieren“ drückt es so aus: „Vorge­set­zte ohne Ver­ant­wor­tung gibt es nicht. Wer es ablehnt, Ver­ant­wor­tung zu tra­gen, kann nicht Vorge­set­zter sein.“ Das muss in ein­er ganzheitlichen Antwort auch betont wer­den, um dem häu­fig zu beobach­t­en­den Missver­ständ­nis zu begeg­nen, dass doch die „Fachkraft für Arbeitssicher­heit für den Arbeitss­chutz ver­ant­wortlich ist – und nicht ich“2.

Aber auch im Hin­blick auf das Öffentliche Recht/Verwaltungsrecht ist die Antwort im Kom­Net-Dia­log 4428 lück­en­haft. Wenn es heißt, dass „es entwed­er der Arbeit­ge­ber­funk­tion oder der in § 13 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 Arb­SchG genan­nten Funk­tio­nen bedarf“, ist das wieder zu eng und zu wenig: Vergessen wer­den „son­stige“ nach ein­er auf Grund des Arb­SchG erlasse­nen Rechtsverord­nung oder nach ein­er UVV „verpflichtete Per­so­n­en im Rah­men ihrer Auf­gaben und Befug­nisse“ gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 5 Arb­SchG. Und in den Arbeitss­chutzverord­nun­gen und UVVs wer­den zahlre­iche Per­so­n­en mit Arbeitss­chutza­uf­gaben belegt.

Schriftform gemäß § 13 Abs. 2 ArbSchG nicht entscheidend

So leit­ete das Landgericht Biele­feld im Urteil vom 13. März 2015 die Arbeitss­chutzver­ant­wor­tung eines beklagten Dachdeck­ers aus dieser leicht überse­henen Rechtsvorschrift ab: Zwar „hat das Bau­un­ternehmen den Beklagten nicht schriftlich damit beauf­tragt hat, den ihr obliegen­den Arbeitss­chutz in eigen­er Ver­ant­wor­tung wahrzunehmen (§ 13 Abs. 2 Arb­SchG). Die Ver­ant­wortlichkeit trifft nach § 13 Abs. 1 Nr. 5 Arb­SchG auch son­stige nach ein­er Unfal­lver­hü­tungsvorschrift verpflichtete Per­so­n­en im Rah­men ihrer Auf­gaben und Befug­nisse. Gemäß § 4 Abs. 2 BGV C 22 (heute § 3 DGUV Vorschrift 38) müssen Bauar­beit­en von weisungs­befugten Per­so­n­en beauf­sichtigt wer­den, die die arbeitssichere Durch­führung der Bauar­beit­en überwachen müssen. Diese Funk­tion kam vor­liegend dem Beklagten zu.“ Im Urteil 2. Instanz vom 18. Dezem­ber 2015 stellte das OLG Hamm zum Dachdeck­er eher wieder auf die automa­tisch beste­hende zivil­rechtliche Ver­ant­wor­tung ab und sagte beiläu­fig nur noch, dass „nicht mehr stre­it­ig ist, dass er als einziger Arbeit­nehmer des Bau­un­ternehmens und als einziger kundi­ger Fachar­beit­er auf dem Dach ver­ant­wortlich für die Tätigkeit der Arbeit­nehmer und deren Arbeitssicher­heit war“ und damit „für das Wohl und Wehe der ihm unter­stell­ten Arbeit­er ver­ant­wortlich war“3.

Sind Abteilungsleiter verantwortlich für Unterweisungen?

Auch der frühere Kom­Net-Dia­log 42805 (spez­i­fisch zu Unter­weisun­gen) muss entsprechend kor­rigiert wer­den. Die Frage war: „Der Unternehmer ist ver­ant­wortlich für die Durch­führung von Unter­weisun­gen. Ist es richtig, dass, falls keine Pflicht­enüber­tra­gung an z. B. einen Abteilungsleit­er stattge­fun­den hat, dieser auch keine Unter­weisun­gen durch­führen braucht?“

Wieder ist eine sin­nvolle und nicht irreführende Antwort nur im Sinne ein­er ganzheitlichen Betra­ch­tung möglich. Es darf also nicht nur das ver­wal­tungsrechtliche Arbeitss­chutzrecht betra­chtet wer­den – was aber Kom­Net mit dieser Antwort tut: „Ist keine Pflicht­enüber­tra­gung erfol­gt, haftet der Arbeitgeber/Vorstand/Geschäftsführer für alle Ver­säum­nisse des Arbeitss­chutzes im Betrieb. … Unter § 13 des Arb­SchG ist fest­gelegt, wer für die Erfül­lung der sich aus dem Arbeitss­chutzge­setz ergeben­den Pflicht­en ver­ant­wortlich ist. Aus­ge­hend von § 13 Abs. 1 Nr. 5 Arb­SchG kann der Arbeit­ge­ber zuver­läs­sige fachkundi­ge Per­so­n­en damit beauf­tra­gen, seine öffentlich-rechtlichen Vorschriften nach dem Arb­SchG in eigen­er Ver­ant­wor­tung wahrzunehmen (Abs. 2). Da diese Per­so­n­en nicht zu dem Per­so­n­enkreis nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 gehören müssen, muss diese Beauf­tra­gung schriftlich erfol­gen. Dies dient der rechtlichen Absicherung sowohl des Arbeit­ge­bers als auch der beauf­tragten Per­son. Darin wer­den dann auch Befug­nisse und Kom­pe­ten­zen der beauf­tragten Per­son fest­gelegt. Ist eine ord­nungs­gemäße Pflicht­enüber­tra­gung erfol­gt, so ergeben sich für den Verpflichteten die gle­ichen Kon­se­quen­zen wie für den Arbeit­ge­ber. … Die Pflicht zur Unter­weisung ergibt sich aus § 12 Arb­SchG. Ist keine Pflicht­enüber­tra­gung erfol­gt, dann obliegt diese Pflicht weit­er­hin dem Arbeit­ge­ber und die Unter­weisung muss nicht durch z. B. dem Abteilungsleit­er durchge­führt werden“.

Ganzheitliche Antworten auf die Arbeitsschutz-Verantwortung

Das ist wieder sehr schief, denn diese Antwort berück­sichtigt nur das Arb­SchG. Beson­ders missver­ständlich wird es dadurch, dass im ersten Satz von „Haf­tung“ die Rede ist und so eine ganzheitliche Rechts­be­tra­ch­tung sug­geriert wird. Bei der ziv­il- und strafrechtlichen Haf­tung nach Arbeit­sun­fällen kommt es auf § 13 Arb­SchG nicht an – und damit auch nicht auf die Schrift­form der Pflich­t­en­del­e­ga­tion, was aber dieser Satz hier sug­geriert: „Ist eine ord­nungs­gemäße Pflicht­enüber­tra­gung erfol­gt, so ergeben sich für den Verpflichteten die gle­ichen Kon­se­quen­zen wie für den Arbeit­ge­ber“. Mit „ord­nungs­gemäß“ ist natür­lich die zuvor geschilderte „Schriftlichkeit“ gemeint.

Richtig ist aber: Auch bei ein­er nur mündlichen oder sog­ar durch Beginn ein­er entsprechen­den Auf­gaben­wahrnehmung nur stillschweigen­den („kon­klu­den­ten“) Pflicht­enüber­tra­gung ist der Pflicht­e­nadres­sat – auch ohne § 13 Arb­SchG – automa­tisch auf­grund der Unternehmen­spo­si­tion arbeitss­chutz- und damit unter­weisungsver­ant­wortlich. Das Amts­gericht Münsin­gen sagt es – ohne Begrün­dung – so: „Als Abteilungsleit­er des Abteilungszweiges Pro­duk­tion ‚Trock­enkam­mer‘ sind sie dafür ver­ant­wortlich, dass die Sicher­heits- und Maschi­ne­nun­ter­weisung voll­ständig und umfassend durchge­führt wird“4.

Es ist prob­lema­tisch, so berechtigte, aber auch schwierige Fra­gen wie die nach der „per se“ beste­hen­den Sicher­heits- und Arbeitss­chutz-Ver­ant­wor­tung nur mit dem Arb­SchG zu beant­worten und die Ganzheitlichkeit unseres kom­plex­en Recht­sys­tems nicht mit zu berück­sichti­gen – zumal sich der Arbeitss­chutz lei­der auch und ger­ade in zivil­rechtlichen Schadenser­satzprozessen und strafrechtlichen Ermit­tlungsver­fahren real­isiert.5


1 Aus­führlich in Wilrich, Tech­nik-Ver­ant­wor­tung – Sicher­heit­spflicht­en der Inge­nieure, Meis­ter und Fachkräfte und Organ­i­sa­tion und Auf­sicht durch Man­age­ment und Führungskräfte (2022).

2 Zu diesem Prob­lem Wilrich, Ver­ant­wor­tung und Haf­tung der Sicher­heitsin­ge­nieure: Unterstützungs‑, Beratungs‑, Berichts‑, Prüfungs‑, Warn- und Sorgfalt­spflicht­en der Fachkräfte für Arbeitssicher­heit als Stab­sstelle und Unternehmerpflicht­en in der Lin­ie – mit 15 Gericht­surteilen und Strafver­fahren zu Fahrläs­sigkeit und Schuld nach Arbeit­sun­fällen (2022).

3 Zu diesem Fall aus­führlich Wilrich: Bau­sicher­heit – Arbeitss­chutz, Baustel­len­verord­nung, Koor­di­na­tion, Bauüberwachung, Verkehrssicherungspflicht­en und Haf­tung der Baubeteiligten (2021).

4 Zu diesem Urteil aus­führlich Fall 33 in Wilrich, Prax­isleit­faden Betrieb­ssicher­heitsverord­nung, 2. Aufl. 2020, S. 541 ff.

5 Viele Beispiele in Wilrich, Arbeitss­chutz-Strafrecht – Haf­tung für fahrläs­sige Arbeit­sun­fälle: Sicher­heitsver­ant­wor­tung, Sorgfalt­spflicht­en und Schuld – mit 33 Gericht­surteilen (2020).


Weit­ere Teile der Rechtsserie: 

Ver­ant­wor­tung heißt nur „Antwort geben“

Ver­ant­wor­tung für Tun: Hand­lungsver­ant­wor­tung ist  die Basis des Arbeitsschutzes

„Selb­st schuld“ oder Fremdverantwortung?

„Ein Blick ins Gesetz erle­ichtert die Rechtsfindung“

Keine Ver­ant­wor­tung ohne Befug­nisse – keine Befug­nis ohne Verantwortung

„Unwis­senheit schützt vor Strafe nicht“

Die Unken­nt­nis des Rechts ist vorzugsweise strafver­schär­fend und nur aus­nahm­sweise strafvermeidend

„Befehl ist Befehl“: Die Gehor­sam­spflicht ist stärk­er als das Haftungsrecht

Es entschei­den Men­schen, nicht Gesetze

Der Men­sch ste­ht im Mit­telpunkt – und der Men­sch ist Mit­tel. Punkt

Es entschei­den und es gehorchen Men­schen: Befehl ist Befehl!

Kein blind­er Gehor­sam, son­dern gewis­senhaftes Mitdenken

Wann ist Ver­trauen gut, wann sind Acht­samkeit und Zweifel besser?

Arbeit­ge­ber und Unternehmen sind primär ver­ant­wortlich – aber nur „mys­tis­che Kunstschöpfungen“

Befehlsver­weigerung bei Erkennbarkeit der Sicherheitswidrigkeit


Prof. Dr. Thomas Wilrich
Prof. Dr. Thomas Wilrich; Foto: privat

Autor:
Recht­san­walt Prof. Dr. Thomas Wilrich
Hochschule München, Fakultät Wirtschaftsin­ge­nieur­we­sen, Pro­fes­sor für Wirtschafts‑, Arbeits‑, Technik‑, Unternehmensorganisationsrecht
und Recht für Ingenieure

 

Newsletter

Jet­zt unseren Newslet­ter abonnieren

Webinar-Aufzeichnungen

Webcast

Jobs
Sicherheitsbeauftragter
Titelbild Sicherheitsbeauftragter 3
Ausgabe
3.2024
LESEN
ABO
Sicherheitsingenieur
Titelbild Sicherheitsingenieur 3
Ausgabe
3.2024
LESEN
ABO
Special
Titelbild  Spezial zur A+A 2023
Spezial zur A+A 2023
Download

Industrie.de Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Industrie.de Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Verlag Robert Kohlhammer GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum Industrie.de Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des Industrie.de Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de