Viele Äußerungen zur Arbeitsschutz-Verantwortung der Beschäftigten sind missverständlich. Misslungen ist etwa der inzwischen gelöschte KomNet-Dialog 4428 der KomNet-Wissensdatenbank „Was soll/kann im Arbeitsschutz delegiert werden? Wie sieht eine rechtssichere Delegation aus?“. Eine der zu beantwortenden Teilfragen lautete: „Was ist per se delegiert, muss also nicht noch mal explizit formuliert werden?“.
Wer ist „per se“ wie weit für den Arbeitsschutz verantwortlich?
Die jetzt nicht mehr abrufbare Antwort lautete: „Als ‚Vorgesetzter‘ (Gruppenleiter, Meister, Abteilungsleiter etc.) ist man nicht automatisch für den Arbeitsschutz im Sinn der Regelungen des ArbSchG verantwortlich. Es bedarf entweder der Arbeitgeberfunktion oder der in § 13 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 ArbSchG genannten Funktionen. Sollte diese Funktion bei einem ‚Vorgesetzten‘ nicht gegeben sein, bedarf es zur Rechtswirksamkeit der Delegation durch den Arbeitgeber einer gesonderten Übertragung nach § 13 Abs. 2 oder vergleichbarer Formulierungen im Arbeitsvertrag.“
Das ist sehr missverständlich, denn diese Antwort berücksichtigt nur die „Regelungen des ArbSchG“. Das stellt die Antwort zwar klar, aber diese Feinheit nimmt keiner wahr – ich habe das selbst in vielleicht 50 Veranstaltungen getestet. Niemand hat die Antwort so verstanden, dass sie sich nur auf das ArbSchG bezieht, sondern alle haben geschlussfolgert, das gilt immer: Vorgesetzte seien also – „per se“ – nicht verantwortlich für den Arbeitsschutz, sondern erst, wenn sie schriftlich gemäß § 13 Abs. 2 ArbSchG beauftragt werden. Der KomNet-Dialog verschweigt, dass wir eine Gesamtrechtsordnung haben: „Sobald jemand einen Paragraphen eines Gesetzbuches anwendet, so wendet er das ganze Gesetzbuch an“ – so hat es Rudolf Stammler gesagt. Noch schöner ist ein Satz des amerikanischen Juristen Oliver Wendell Holmes Jr.: „Als Juristen haben Sie die Aufgabe, das Verhältnis Ihres speziellen Falles zum ganzen Universum zu sehen.“
Das riesige Rechtsuniversum
Der KomNet-Dialog unterschlägt das Wesentliche aus dem Rechtsuniversum – dass es nämlich neben der verwaltungsrechtlichen/öffentlich-rechtlichen Verantwortung der Beschäftigten gegenüber dem Staat (gemäß ArbSchG) auch eine zivil- und strafrechtliche Verantwortung nach den allgemeinen Rechtsvorschriften gibt – jedenfalls nach der Zahl der Gerichtsurteile sind diese Schadensersatzansprüche oder Strafsanktionen der entscheidende Bereich der Rechtswelt. Dort gilt die einfache Regel: Jeder Mitarbeiter (jeder Mensch) ist automatisch und ohne schriftliche Pflichtenübertragung für die übernommenen (Leitungs-)Aufgaben im Rahmen seiner (Weisungs-)Befugnisse verantwortlich.1 Das ist „per se“ durch den Posten übertragen. Die DGUV Information 211–006 „Sicherheit und Gesundheitsschutz durch Koordinieren“ drückt es so aus: „Vorgesetzte ohne Verantwortung gibt es nicht. Wer es ablehnt, Verantwortung zu tragen, kann nicht Vorgesetzter sein.“ Das muss in einer ganzheitlichen Antwort auch betont werden, um dem häufig zu beobachtenden Missverständnis zu begegnen, dass doch die „Fachkraft für Arbeitssicherheit für den Arbeitsschutz verantwortlich ist – und nicht ich“2.
Aber auch im Hinblick auf das Öffentliche Recht/Verwaltungsrecht ist die Antwort im KomNet-Dialog 4428 lückenhaft. Wenn es heißt, dass „es entweder der Arbeitgeberfunktion oder der in § 13 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 ArbSchG genannten Funktionen bedarf“, ist das wieder zu eng und zu wenig: Vergessen werden „sonstige“ nach einer auf Grund des ArbSchG erlassenen Rechtsverordnung oder nach einer UVV „verpflichtete Personen im Rahmen ihrer Aufgaben und Befugnisse“ gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 5 ArbSchG. Und in den Arbeitsschutzverordnungen und UVVs werden zahlreiche Personen mit Arbeitsschutzaufgaben belegt.
Schriftform gemäß § 13 Abs. 2 ArbSchG nicht entscheidend
So leitete das Landgericht Bielefeld im Urteil vom 13. März 2015 die Arbeitsschutzverantwortung eines beklagten Dachdeckers aus dieser leicht übersehenen Rechtsvorschrift ab: Zwar „hat das Bauunternehmen den Beklagten nicht schriftlich damit beauftragt hat, den ihr obliegenden Arbeitsschutz in eigener Verantwortung wahrzunehmen (§ 13 Abs. 2 ArbSchG). Die Verantwortlichkeit trifft nach § 13 Abs. 1 Nr. 5 ArbSchG auch sonstige nach einer Unfallverhütungsvorschrift verpflichtete Personen im Rahmen ihrer Aufgaben und Befugnisse. Gemäß § 4 Abs. 2 BGV C 22 (heute § 3 DGUV Vorschrift 38) müssen Bauarbeiten von weisungsbefugten Personen beaufsichtigt werden, die die arbeitssichere Durchführung der Bauarbeiten überwachen müssen. Diese Funktion kam vorliegend dem Beklagten zu.“ Im Urteil 2. Instanz vom 18. Dezember 2015 stellte das OLG Hamm zum Dachdecker eher wieder auf die automatisch bestehende zivilrechtliche Verantwortung ab und sagte beiläufig nur noch, dass „nicht mehr streitig ist, dass er als einziger Arbeitnehmer des Bauunternehmens und als einziger kundiger Facharbeiter auf dem Dach verantwortlich für die Tätigkeit der Arbeitnehmer und deren Arbeitssicherheit war“ und damit „für das Wohl und Wehe der ihm unterstellten Arbeiter verantwortlich war“3.
Sind Abteilungsleiter verantwortlich für Unterweisungen?
Auch der frühere KomNet-Dialog 42805 (spezifisch zu Unterweisungen) muss entsprechend korrigiert werden. Die Frage war: „Der Unternehmer ist verantwortlich für die Durchführung von Unterweisungen. Ist es richtig, dass, falls keine Pflichtenübertragung an z. B. einen Abteilungsleiter stattgefunden hat, dieser auch keine Unterweisungen durchführen braucht?“
Wieder ist eine sinnvolle und nicht irreführende Antwort nur im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtung möglich. Es darf also nicht nur das verwaltungsrechtliche Arbeitsschutzrecht betrachtet werden – was aber KomNet mit dieser Antwort tut: „Ist keine Pflichtenübertragung erfolgt, haftet der Arbeitgeber/Vorstand/Geschäftsführer für alle Versäumnisse des Arbeitsschutzes im Betrieb. … Unter § 13 des ArbSchG ist festgelegt, wer für die Erfüllung der sich aus dem Arbeitsschutzgesetz ergebenden Pflichten verantwortlich ist. Ausgehend von § 13 Abs. 1 Nr. 5 ArbSchG kann der Arbeitgeber zuverlässige fachkundige Personen damit beauftragen, seine öffentlich-rechtlichen Vorschriften nach dem ArbSchG in eigener Verantwortung wahrzunehmen (Abs. 2). Da diese Personen nicht zu dem Personenkreis nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 gehören müssen, muss diese Beauftragung schriftlich erfolgen. Dies dient der rechtlichen Absicherung sowohl des Arbeitgebers als auch der beauftragten Person. Darin werden dann auch Befugnisse und Kompetenzen der beauftragten Person festgelegt. Ist eine ordnungsgemäße Pflichtenübertragung erfolgt, so ergeben sich für den Verpflichteten die gleichen Konsequenzen wie für den Arbeitgeber. … Die Pflicht zur Unterweisung ergibt sich aus § 12 ArbSchG. Ist keine Pflichtenübertragung erfolgt, dann obliegt diese Pflicht weiterhin dem Arbeitgeber und die Unterweisung muss nicht durch z. B. dem Abteilungsleiter durchgeführt werden“.
Ganzheitliche Antworten auf die Arbeitsschutz-Verantwortung
Das ist wieder sehr schief, denn diese Antwort berücksichtigt nur das ArbSchG. Besonders missverständlich wird es dadurch, dass im ersten Satz von „Haftung“ die Rede ist und so eine ganzheitliche Rechtsbetrachtung suggeriert wird. Bei der zivil- und strafrechtlichen Haftung nach Arbeitsunfällen kommt es auf § 13 ArbSchG nicht an – und damit auch nicht auf die Schriftform der Pflichtendelegation, was aber dieser Satz hier suggeriert: „Ist eine ordnungsgemäße Pflichtenübertragung erfolgt, so ergeben sich für den Verpflichteten die gleichen Konsequenzen wie für den Arbeitgeber“. Mit „ordnungsgemäß“ ist natürlich die zuvor geschilderte „Schriftlichkeit“ gemeint.
Richtig ist aber: Auch bei einer nur mündlichen oder sogar durch Beginn einer entsprechenden Aufgabenwahrnehmung nur stillschweigenden („konkludenten“) Pflichtenübertragung ist der Pflichtenadressat – auch ohne § 13 ArbSchG – automatisch aufgrund der Unternehmensposition arbeitsschutz- und damit unterweisungsverantwortlich. Das Amtsgericht Münsingen sagt es – ohne Begründung – so: „Als Abteilungsleiter des Abteilungszweiges Produktion ‚Trockenkammer‘ sind sie dafür verantwortlich, dass die Sicherheits- und Maschinenunterweisung vollständig und umfassend durchgeführt wird“4.
Es ist problematisch, so berechtigte, aber auch schwierige Fragen wie die nach der „per se“ bestehenden Sicherheits- und Arbeitsschutz-Verantwortung nur mit dem ArbSchG zu beantworten und die Ganzheitlichkeit unseres komplexen Rechtsystems nicht mit zu berücksichtigen – zumal sich der Arbeitsschutz leider auch und gerade in zivilrechtlichen Schadensersatzprozessen und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren realisiert.5
1 Ausführlich in Wilrich, Technik-Verantwortung – Sicherheitspflichten der Ingenieure, Meister und Fachkräfte und Organisation und Aufsicht durch Management und Führungskräfte (2022).
2 Zu diesem Problem Wilrich, Verantwortung und Haftung der Sicherheitsingenieure: Unterstützungs‑, Beratungs‑, Berichts‑, Prüfungs‑, Warn- und Sorgfaltspflichten der Fachkräfte für Arbeitssicherheit als Stabsstelle und Unternehmerpflichten in der Linie – mit 15 Gerichtsurteilen und Strafverfahren zu Fahrlässigkeit und Schuld nach Arbeitsunfällen (2022).
3 Zu diesem Fall ausführlich Wilrich: Bausicherheit – Arbeitsschutz, Baustellenverordnung, Koordination, Bauüberwachung, Verkehrssicherungspflichten und Haftung der Baubeteiligten (2021).
4 Zu diesem Urteil ausführlich Fall 33 in Wilrich, Praxisleitfaden Betriebssicherheitsverordnung, 2. Aufl. 2020, S. 541 ff.
5 Viele Beispiele in Wilrich, Arbeitsschutz-Strafrecht – Haftung für fahrlässige Arbeitsunfälle: Sicherheitsverantwortung, Sorgfaltspflichten und Schuld – mit 33 Gerichtsurteilen (2020).
Weitere Teile der Rechtsserie:
Verantwortung für Tun: Handlungsverantwortung ist die Basis des Arbeitsschutzes
Keine Verantwortung ohne Befugnisse – keine Befugnis ohne Verantwortung
„Befehl ist Befehl“: Die Gehorsamspflicht ist stärker als das Haftungsrecht
Der Mensch steht im Mittelpunkt – und der Mensch ist Mittel. Punkt
Es entscheiden und es gehorchen Menschen: Befehl ist Befehl!
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Arbeitgeber und Unternehmen sind primär verantwortlich – aber nur „mystische Kunstschöpfungen“
Befehlsverweigerung bei Erkennbarkeit der Sicherheitswidrigkeit
Autor:
Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Wilrich
Hochschule München, Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen, Professor für Wirtschafts‑, Arbeits‑, Technik‑, Unternehmensorganisationsrecht
und Recht für Ingenieure