Millionen Menschen zieht es jedes Jahr auf die Berge. Ob Schlepplift, Sessel- oder Kabinenbahn – wer nicht wandert, erreicht fast immer mittels Seilbahntechnik die Bergstation. Und dank der hohen Sicherheitsstandards sind Seilbahnen extrem sichere Verkehrsmittel. So werden die deutschen Seilbahnen zwei Mal jährlich einer Hauptuntersuchung unterzogen – eine davon durch einen externen anerkannten Sachverständigen.
Bei diesen Revisionen wird die gesamte Seilbahnanlage mit Seilen und Bremsen auf Herz und Nieren kontrolliert. Diese umfangreiche Untersuchung ist von der Aufsichtsbehörde vorgeschrieben und wird von dieser überwacht. Zusätzlich erfolgen tägliche, wöchentliche und monatliche Kontroll- und Wartungsarbeiten. Zudem müssen die Seile nach Blitzeinschlägen oder Seilentgleisungen überprüft werden.
Arbeit in schwindelerregender Höhe
Dabei kontrollieren konventionell zwei Beschäftigte des Seilbahnbetreibers das Seil im Vorbeilaufen bei einer Revisionsgeschwindigkeit von weniger als 0,5 m/s. Wer schon einmal versucht hat, ein bewegliches Seil auf diese Weise zu begutachten merkt schnell, dass er bei dieser Aufgabe fast schon hypnotisiert wird: Die Litzenbündel bewegen sich auf- und ab und verlangen vom Betrachter höchste Konzentration über einen langen Zeitraum. Angenommen die Seillänge beträgt 1.100 Meter, so muss er für mehr als eine halbe Stunde das Seil anstarren.
Gilt es Zug- und Förderseile zu prüfen, geschieht dies häufig auf einem Mast; bei der Tragseilprüfung in schwindelerregender Höhe am Laufwerk. Bei dieser Aufgabe sind die Beschäftigten vielfäl-tigen Belastungen und Gefährdungen ausgesetzt. Zusätzlich zum Arbeiten in großer Höhe ist auch die Witterung – Kälte, Regen, Wind – ausschlaggebend dafür. Häufig werden die Seile auch unter schlechten Beleuchtungsverhältnissen in einer unergonomischen oder beengten Position begutachtet.
Allerdings lässt sich bei einer solchen Sichtprüfung nur ein Teil des Seils betrachten. Die Rückseite bleibt dem Prüfer verborgen. Trotzdem trägt er die Verantwortung für seine Arbeit und die Betriebsleitung bestätigt mit ihrer Unterschrift den einwandfreien Zustand des Seils.
Belastungen und Gefährdungen minimieren
Die Initiative, für diese anspruchsvolle Aufgabe eine ergonomische Lösung zu entwickeln und Belastungen und Gefährdungen für die Beschäftigten zu minimieren, ging von der damaligen Berufsgenossenschaft Bahnen (heute Verwaltungs-Berufsgenossenschaft) aus. Das Institut für Fördertechnik und Logistik der Universität Stuttgart entwickelte einen Prototyp zur visuellen Seilbahnprüfung. Die Fachleute der Universität brachten ihr Wissen über Seile und deren Prüfung in das Projekt ein. Ab 2009 übernahmen die Experten für Bildverarbeitung der Winspect GmbH die Weiterentwicklung zur Serienreife des Geräts und programmierten eine spezielle Software zur Schadensdetektion. Im Jahr 2014 erhielt Winspect für das Seilprüfgerät den Anwenderpreis der Gesellschaft zur zerstörungsfreien Prüfung, 2015 wurden die Münchner für den deutschen Arbeitsschutzpreis nominiert.
360-Grad-Kontrolle
Bei der visuellen Prüfung mit dem Seilprüfgerät Winspect wird der Zustand der Seiloberfläche mit insgesamt vier Zeilenkameras über einen Bereich von 360 Grad erfasst und bewertet. Dabei wird der Messbereich mit einer starken LED ausgeleuchtet, und das Seil läuft mit einer Geschwindigkeit von drei Metern pro Sekunde an den Kameras vorbei. So werden außenliegende Drahtbrüche, Blitzschläge, Kerben, Klemmstellen und sonstige größere und kleinere Beschädigungen entdeckt. Peter Rauch, Betriebsleiter der Mayrhofer Bergbahnen am Horberg berichtet: „Das Ergebnis war, dass wir mit dem optischen Seilprüfgerät Drahtbrüche an beiden Anlagen gefunden haben, welche bei der augenscheinlichen Seilkontrolle nicht entdeckt wurden.“
Zustandsanalyse fernab vom Seilbahnmast
Das gut tragbare Prüfgerät wird um das Seil herum positioniert. Je nachdem, ob Zug- und Förder- oder Tragseile untersucht werden sollen, passen die Bediener die Installation entsprechend an. Dabei können sie das Gerät stationär oder mobil einsetzen. Sie montieren es auf eine festinstallierte Einbauvorrichtung, von der es sich mit wenigen Handgriffen wieder entfernen lässt. Die Daten der Messung werden auf ein Notebook übertragen und dort gespeichert. So lassen sie sich später andernorts bequem analysieren.
Bei einer Tragseilprüfung befestigt der Bediener das Prüfgerät an einem speziell konstruierten Tragseilwagen, den er oberhalb der Kabine an der Schnittstelle des Eiskratzers montiert (siehe Abb. 2).
Zur Analyse nutzen die Bediener die Software des Systems, welche Abweichungen von einer normalen Seilstruktur erkennt. Sie detektiert Schäden und markiert die entsprechenden Stellen am Bildschirm (siehe Abb. 3), die dann gezielt betrachtet werden können. So findet das Prüfsystem nicht nur Drahtbrüche, die mit dem bloßen Auge entdeckt werden können. Auch schwer erkennbare Schäden wie Blitzeinschläge oder Kerben werden dokumentiert.
Einen besonderen Stellenwert nimmt die Prüfung des Seils nach Blitzeinschlägen ein. Denn wenn ein Blitz in ein Seil einschlägt, entsteht Martensit, das zwar eine hohe Härte besitzt, aber sehr spröde ist. Ein Blitzeinschlag muss dann am Seil ausgeschliffen werden. Schadhafte Stellen können per Winspect also frühzeitig beseitigt werden, um Folgeschäden zu verhindern.
Zusätzlich lässt sich eine Aussage über den allgemeinen Zustand des Seils treffen. Die Verantwortlichen klären so, ob Litzengassen oder Drahtlagen verschoben sind oder das Seil korrodiert ist. Das System ermittelt ebenfalls Verläufe von Durchmesser und Schlaglänge über die gesamte Seillänge. Dank dieser Informationen lässt sich der Zustand des Seils umfassend bewerten.
Wasserdichte Dokumentation
Das Winspect-System erstellt nach der Prüfung ein Protokoll mit allen relevanten Informationen, die sich digital und in Papierform archivieren lassen. Damit tragen die Anwender den Anforderungen der entsprechenden Behörde Rechnung. Derzeit sind rund 30 Geräte überwiegend in Deutschland, Österreich und der Schweiz im Einsatz, aber auch Anwender in Frankreich und Asien prüfen die Seile ihrer Seilbahnen auf diese Weise. Dabei profitieren sie zudem von einer erheblichen Zeiteinsparung gegenüber der konventionellen Prüfung, so dass die Stillstandzeiten sich deutlich verringern.
Die Entwickler haben das Prinzip inzwi-schen auch auf den Bergbau übertragen und bieten mit Minspect eine Lösung zur Prüfung von Seilen an, die den speziellen Anforderungen von Arbeiten unter Tage gerecht wird.
Weitere Infos und Kontakt:
Autorin
Dipl.-Ing. Andrea Stickel, Journalistin für Technik und Wissenschaft (BJV)
Gefahren und Belastungen ausgeschaltet
Die visuelle Seilprüfung erhöht nicht nur die Sicherheit der Nutzer von Seilbahnen, sondern verbessert in vielerlei Hinsicht die Arbeitssicherheit und den Gesundheitsschutz. Folgende Belastungen und Gefährdungen werden deutlich minimiert beziehungsweise ausgeschaltet:
- Arbeiten in großer Höhe → Absturzgefahr
- Gefahren durch die Arbeit am bewegten Seil
- Klemmgefahr
- Gefahr durch rotierenden Teile
- Unergonomische Arbeitshaltung
- Schlechte Beleuchtungsverhältnisse
- Witterungseinflüsse wie Kälte, Regen und Wind
- Hohe Konzentrationsbeanspruchung