Herr Birkhorst, Sie beraten und unterstützen mit Ihrem Team die Landeshauptstadt München als Arbeitgeberin in Belangen der Arbeitssicherheit. Wie viele Menschen betrifft dies?
Birkhorst: Gut 40.000 – wobei sich einige davon in Elternzeit, im Sabbatical oder im Krankenstand befinden.
In diesem Frühjahr widmete das Nachrichtenmagazin Der Spiegel seine Titelgeschichte der „Enthemmten Gesellschaft“. Was berichten die Beschäftigten der Stadt – ist das Klima rauer geworden?
Birkhorst: Ich denke nicht, dass die Häufigkeit der Übergriffe gestiegen ist – sondern dass sich die subjektive Wahrnehmung durch die Verfügbarkeit der Nachrichten etwas geändert hat. Laut aktueller Polizeistatistik ist die Zahl der Gesamtstraftaten sogar gesunken.
Wie sieht es konkret in Ihren Behörden aus – wie viele kritische Ereignisse verzeichnen Sie?
Kirnberger: Es hängt stark davon ab, mit welchem Anliegen ein Bürger in eine Behörde kommt. Etwa ob es sich um eine Bußgeldstelle handelt oder die Stadt als Dienstleiterin den Bürgern ein Angebot macht.
Wo stehen Sie heute mit der Umsetzung Ihres Konzepts?
Birkhorst: Die baulichen Maßnahmen konnten wir weitgehend abschließen. Das betrifft – wo nötig – den Einbau von Fluchttüren oder die Gestaltung von Eingangsbereichen.
Wie können Sie feststellen, wie erfolgreich Ihre Anstrengungen sind?
Kirnberger: Die Quantifizierung ist ein grundsätzliches Problem im Arbeitsschutz – und in diesem Fall ganz besonders. Uns geht es ja darum, den Beschäftigten klar zu vermitteln, dass sie keine Angst vor den Bürgern haben müssen. Und selbst wenn etwas passiert, haben wir ein Betreuungskonzept mit einer Reihe von Beratungsstellen. Aber der Erfolg lässt sich kaum in Zahlen darstellen.
Durch welche Maßnahmen vermitteln Sie den Beschäftigten Sicherheit?
Kirnberger: Mit einem Stadtratsbeschluss zur Beschäftigtensicherheit wurde 2016 eine ganze Reihe von Maßnahmen als Mindeststandard für städtische Arbeitsplätze festgelegt. Diese Maßnahmen sind baulicher, technischer und organisatorischer Natur. Dazu gehören die besagten Fluchttüren zwischen den Büros ebenso wie Alarmierungssysteme oder Schulungen zur Gewaltprävention. Der hauptsächliche Sinn und Zweck davon ist, dass es einerseits gar nicht erst zu kritischen Situationen kommt, und dass andererseits niemand allein gelassen wird, wenn doch etwas passiert.
Birkhorst: Jeder ist auf einen Fall, der nicht alltäglich ist, vorbereitet. Wenn man sich selber sicherer fühlt, ist man freundlicher und weniger gestresst. Langfristig lässt sich dies an einer geringeren Fluktuation festmachen und gegebenenfalls an weniger Übergriffen. Allerdings werden nicht alle erfasst.
Warum fehlt eine genaue Statistik?
Kirnberger: Wir wenden in einigen Referaten das Aachener Modell zur Gewaltprävention an (Anm. d. Red.: siehe Kasten Seite 14). Allerdings ist es schwer zu definieren, was eine Beleidigung ist. Wie schlimm ein Schimpfwort wie „Blöde Kuh“ empfunden wird, ist stark subjektiv. Das hängt sowohl vom Betroffenen ab als auch von der Klientel. Um eine erste Einordnung vorzunehmen, ist das Aachener Modell gut. Viel wichtiger ist es aber zu wissen, dass ich auf ein Hilfesystem zurückgreifen kann. Ein Beispiel ist unser Team der kollegialen Soforthelfer, das wir in den Sozialbürgerhäusern installiert haben.
Wie unterstützen diese die Betroffenen?
Kirnberger: Wir haben es aus einem System adaptiert, das für Soforthelfer nach Banküberfällen entwickelt wurde. Dazu haben wir es vereinfacht und abgespeckt. Jetzt übernehmen ehrenamtliche Soforthelfer aus dem Kollegenkreis eine Lotsenfunktion. Sie klären mit den Ratsuchenden, was ihnen zusteht und welche Schritte anstehen. Das Spektrum reicht von Unfallanzeige bis Strafantrag.
Worauf müssen Soforthelfer besonders achten?
Kirnberger: Ganz wichtig ist es, den Betroffenen klar zu machen ‚Es ist in Ordnung, wenn Du in der nächsten Zeit nicht gut schlafen kannst, dass du schlecht träumst oder vielleicht immer wieder vor Augen hast, was passiert ist‘. Das ist eine normale Reaktion, klingt aber in den allermeisten Fällen nach einigen Tagen oder Wochen ab. Und nur falls nicht, muss man über weitere Maßnahmen nachdenken.
Welche wären das?
Kirnberger: Solche Ereignisse fallen unter die Kategorie „Arbeitsunfall“ – da sie ja im Rahmen einer versicherten Tätigkeit bei der Stadt München als Arbeitgeberin geschehen. Betroffene bekommen bei Bedarf über den Unfallversicherungsträger sogenannte probatorische Sitzungen in der Psychotraumatologie vermittelt. Einfach zu wissen, ich werde nicht im Stich gelassen – das gibt den Leuten Sicherheit. Allein das ist schon im Alltag hinsichtlich der Gewaltprävention enorm wichtig.
Die bereits erwähnte Ausgabe des Spiegel berichtet, dass Beschäftigte in Jobcentern Scheren und Locher einsperren sollen. Wie sieht es in München aus?
Kirnberger: Ja – wir haben für das Jobcenter ein Unterweisungsblatt, das Gegenstände festhält, die als Waffen genutzt werden können, zum Beispiel Brieföffner, Tacker, Scheren, Topfpflanzen. Diese sollen nicht in Kundennähe platziert werden. Aber das ist nichts Neues.
Birkhorst: Der Hintergrund ist, dass normalerweise niemand bewusst mit einer Waffe ein Dienstgebäude betritt. Die Beschäftigten sind ja auch entsprechend geschult, damit Gespräche nicht eskalieren. Falls es doch soweit kommt, sollten sich eben keine gefährlichen Gegenstände in der Nähe befinden. Wenn es aber jemand wirklich drauf anlegen würde – da bringen diese Sicherheitskonzepte nichts. Vor dem Jahrtausendhochwasser kann ich mich nicht schützen – wohl aber vor dem Jahrhunderthochwasser.
Was gehört also noch unbedingt in ein solches Konzept?
Birkhorst: Es gibt ja auch immer die Möglichkeit, die Arbeit entsprechend zu planen. Etwa schwierige Gespräche zu zweit oder in der Kernzeit zu führen und im Zweifel einen Vorgesetzten übernehmen zu lassen. Diese Punkte sind neben vielen weiteren in unserem Unterweisungsblatt zur Gewaltprävention geregelt.
Mit welchen besonderen Herausforderungen sehen Sie sich konfrontiert?
Birkhorst: Lärm lässt sich messen, Vibration lässt sich messen. Aber ab wann wird es für wen zum Problem, wenn er beispielsweise fünfmal nicht nett angesprochen wird – oder erst beim zehnten Mal? Daher ist es auch so schwierig, eine Anti-Stress-Verordnung zu erstellen – die wird es vielleicht nie geben.
Damit wären wir wieder beim Thema Handhabbarkeit schwieriger Situationen …
Kirnberger: Ich brauche adäquate Coping-Strategien zur Bewältigung kritischer Ereignisse. Das gilt sowohl auf der individuellen Ebene – das wären dann unsere Deeskalationsschulungen – als auch auf der organisationalen Ebene. Und da sind wir dann beim Team: Teamzusammenhalt und organisatorische Maßnahmen.
Welche weiteren organisatorischen Maßnahmen setzen Sie um.
Kirnberger: Etwa die jährliche Unterweisung, oder die Nachsorge bei besonderen Ereignissen. Aber auch sportliche Betätigung ist eine Coping-Strategie. Das ist auch ein Grund, warum wir den Beschäftigten die Möglichkeit bieten, in städtischen Sporträumen zu trainieren. Außerdem sind Sicherheits- und Gesundheitstage in vielen Bereichen etabliert.
Wo sehen Sie die Grenzen der Sicherheit?
Kirnberger: Immer wenn ich starke Sicherheitsmaßnahmen einsetze, sende ich auch ein Zeichen an die Bürgerschaft. So kann das Hamburger Rathaus nur nach Anmeldung besucht werden. Wir haben in München ein schönes, offenes Rathaus, und das soll auch so bleiben. Das ist auch ein Symbol, das wir senden.
Inzwischen haben Sie einige Erfahrungen mit dem Sicherheitskonzept sammeln können. Mussten Sie nachsteuern?
Kirnberger: Wir haben erkannt, dass einige Beschäftigte auch am Telefon mit emotional angespannten oder aggressiven Anrufern konfrontiert sind. Hier gibt es keine Zeugen und die Gespräche werden natürlich auch nicht aufgezeichnet. Die Beschäftigten stehen vor den Fragen: Was mache ich da – wie reagiere ich? Das hat dazu geführt, dass wir jetzt entsprechende Schulungen zur Deeskalation bei Konfliktgesprächen am Telefon anbieten.
Was mussten Sie bei der Planung ihrer Schulungen bedenken?
Birkhorst: Es ist wichtig zu überlegen, in welchen Intervallen man die Leute schult. Plant man eine Auffrischung – wenn ja, für welche Zielgruppe. Schult man nur die Führungskräfte oder alle?
Welche Arbeitsbereiche betrifft dies?
Kirnberger: Der Hauptbedarf wird von den Gesundheitsbereichen angemeldet, die ja auch mit psychisch- oder suchtkranken Anrufern telefonieren. Bei Erfolg der Schulungen und weiteren Anfragen aus anderen Bereichen werden wir 2020 eine weitere Fortbildungsreihe organisieren.
Wo sehen Sie Erfolgsfaktoren für ein Sicherheitskonzept?
Kirnberger: Wenn ich eine Maßnahme in der Gewaltprävention umsetze, ist es für die Nachhaltigkeit wichtig, ein Feedback der Beschäftigten einzuholen. Daher befragen wir die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach der Umsetzung einer Maßnahme. Wir haben etwa einen Pförtner-Arbeitsplatz eingerichtet und im Rahmen einer Online-Umfrage um Feedback gebeten. Damit zeige ich ja als Arbeitgeber, dass ich mich um das Wohlergehen meiner Beschäftigten kümmere und frage, ob ich es noch besser machen kann.
Birkhorst: Für den Erfolg sind Fehlerkultur und Kommunikationskultur ganz wichtig. Ein weiterer Punkt ist die Gestaltung und Beleuchtung der Warteräume.
Was muss ich denn bei solchen Räumen berücksichtigen?
Kirnberger: Es geht um die Qualität des Warteraums. Wie sehen die Stühle aus? Habe ich einzelne Sitze oder eine durchgängige Bank? Hier entsteht eher einmal Körperkontakt, der als unangenehm empfunden werden kann. Auch gilt es zu fragen: Wie ist die Belüftungs- und Beleuchtungssituation, das Farbkonzept im Raum – stehen dort Pflanzen, wie gut ist das Kundenleitsystem? Das sind alles wichtige Punkte, die wir deshalb auch in den Stadtratsbeschluss eingebracht haben.
Birkhorst: Daran zeigt sich auch, wie umfassend das Thema Gewaltprävention ist, und welche Faktoren mit hineinspielen.
Wie bilden Sie diese komplexen Zusammenhänge softwareseitig ab?
Kirnberger: Wir sind gerade an der Einführung eines stadtweiten Arbeitsschutz-Managementsystems. Die Software Quentic haben wir bereits beschafft, die Pilotierung beginnt am 15. Juli 2019.
Dann wünsche ich dabei ebenfalls viel Erfolg und bedanke mich für das Gespräch.
Sechs Bausteine der Gewaltprävention
Das Unterweisungsblatt der Landeshauptstadt München zur Gewaltprävention umfasst folgende Aspekte:
- Das sichere Büro
- Notfall-Alarmierungssysteme
- Organisatorische Vorkehrungen in der Prävention
- Vorbereitung auf kritische Situationen
- Verhalten nach einem gewaltsamen Übergriff oder einer kritischen Situation
- Fragen, besondere Themen
- Broschüre der Unfallkasse NRW „Gewaltprävention – ein Thema für öffentliche Verwaltungen?!“
https://bit.ly/2UohnyY - Sitzungsvorlage „Beschäftigtensicherheit in Dienstgebäuden der Landeshauptstadt München“
https://bit.ly/2JAeLJO - „Gewalt- und Extremereignisse am Arbeitsplatz“ der BGN (ASi 9.02), www.bgn.de