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Tagsüber raus, abends Licht aus!

Licht und Schicht
Tagsüber raus, abends Licht aus!

Nicht nur Schichtar­bei­t­ende riskieren gesund­heitliche Fol­gen, wenn ihre innere Uhr aus dem Takt gerät. Die meis­ten von uns ignori­eren ihre Bedürfnisse und hal­ten sich gle­ichzeit­ig viel zu lange in kün­stlich beleuchteten Räu­men auf. „Wir soll­ten eine gesellschaftliche Diskus­sion über Zeit, Zeit­sou­veränität, Erhol­ung und Über­las­tung führen“, meint Chrono­bi­ologe Dr. Thomas Kan­ter­mann im Inter­view mit Dipl.-Ing. Andrea Stickel.

Was passiert mit Men­schen, die ihre innere Uhr dauer­haft ignorieren?

Bei manchen sehen wir bedrohliche Dinge. Es fängt mit Ver­dau­ungsstörun­gen, Schlaf­störun­gen, Stim­mungsstörun­gen und depres­siv­en Ver­stim­mungen an. Es lassen sich aber auch schw­er­wiegende Fol­gen wie Stof­fwech­sel- und Herz-Kreis­lauf­störun­gen – bis hin zu Schla­gan­fall, Herzan­fall und Krebs beobachten.

Verur­sacht Schichtar­beit also Krebs?

Wir kön­nen vieles noch nicht ursäch­lich erk­lären, bei manchem haben wir eine gewisse Idee. Ob jet­zt Schichtar­beit direkt zu Krebs führt oder ob Schichtar­beit in einen Zus­tand führt, der die Kreb­s­bekämp­fung herun­ter­fährt, lässt sich derzeit nicht beant­worten. Aber eine Evi­denz ist sicht­bar. So zeigen manche Stu­di­en, dass Kreb­serkrankun­gen mit zunehmender Schichtar­beits­dauer wahrschein­lich­er auftreten. Und wenn ich diese Dauer verkürzen kann, dann sollte ich es auch tun.

Was rat­en Sie – wie soll­ten die Betriebe vorgehen?

Es muss eine Grund­satzdiskus­sion geführt wer­den um die zen­tralen Fra­gen: Wie weit wollen wir gehen? Wie weit wollen wir die Gesund­heit von Men­schen stra­pazieren – ja sog­ar gefährden – und wo sehen wir die Gren­zen? Wenn ich die Möglichkeit habe, einen gewis­sen Prozentsatz abzu­mildern, indem ich Erhol­ungsmöglichkeit­en gebe, warum gehe ich diesen Weg dann nicht?

Wür­den Sie also Schichtar­beit am lieb­sten verbieten?

Ich sage ganz klar: Wir brauchen nachts Polizei und Sicher­heits­di­en­ste, wir brauchen nachts Kranken­häuser und wir brauchen nachts die Feuer­wehr. Ich sage aber auch ganz klar, wenn es um den Ein­satz von Men­schen, auch Humankap­i­tal genan­nt, in der Nacht geht: Ein Stan­dort wie Deutsch­land muss nachts keine Autos bauen. Eine grund­sät­zliche Diskus­sion über die biol­o­gis­chen Gren­zen der Ein­satzfähigkeit von Men­schen muss in unsere gesellschaft­spoli­tis­chen Auseinan­der­set­zun­gen inte­gri­ert werden.

Und welche Lösung schla­gen Sie der Indus­trie vor?

Ver­sucht doch Gewinne zu max­imieren, indem ihr die Krankheits- und Per­son­alkosten spart! Und die Haup­tkosten­last für die Betriebe sind nun mal Per­son­alkosten. Bei hoher Fluk­tu­a­tion und hohem Kranken­stand explodieren diese Kosten. Ger­ade hat­ten wir wieder eine Grippewelle, die immense Kosten verur­sachte. Fehlende Erhol­ungsmöglichkeit­en und nicht erhol­samer Schlaf erhöhen die Wahrschein­lich sich eine Erkäl­tung einz­u­fan­gen, die dann zudem auch länger dauern kann.

Sind denn flex­i­ble Arbeit­szeit­en die Lösung?

Das wird ja immer mehr prak­tiziert: flex­i­ble Arbeit­szeit­en und Leben­sar­beit­szeitkon­ten, die mehr Selb­st­bes­tim­mung anbi­eten. Wenn ich Men­schen mehr Mit­spracherecht gebe, fühlen sie sich wohler. Es funk­tion­iert nur nicht, wenn ich Men­schen unter Druck set­ze, diese unter Schlaf­man­gel lei­den und ihnen dann auch noch das Wort weg­nehme. Dann knallt es irgend­wann. Das geht jet­zt natür­lich weit über die Chrono­bi­olo­gie hin­aus, aber es läuft doch immer wieder auf den Kern her­aus: Zeit, Zeit­sou­veränität, Über­las­tung und Erholung.

Die etablierte Prax­is zu ändern, ist immer schwer …

Wenn es dann heißt „Das haben wir schon immer so gemacht und das hat uns auch nicht umge­bracht“, dann sehen wir: Oh – da müssen wir ran. Was immer es dann auch kosten mag – wobei ich glaube, dass es gar nicht wirk­lich teuer ist – es müsste ein­fach mal eine gesellschaftliche Diskus­sion dazu angeregt wer­den. Und dann find­en sich auch sehr kostengün­stige Lösun­gen – zum Teil kosten sie auch gar nichts. Gott­sei­dank ist ja Tages­licht immer noch kostenfrei.

Warum wird das The­ma dann bish­er nicht stärk­er diskutiert?

Es gibt für alles Mögliche Lob­bys – nicht aber für das Tages­licht. Wenn die Leute dann „Bio­rhyth­mus“ googeln, find­en sie irgen­deinen Quatsch. Also ist es bess­er „biol­o­gis­ch­er Rhyth­mus“ oder „Chrono­bi­olo­gie“ einzu­tip­pen. Denn da steckt hand­feste Wis­senschaft dahin­ter und es bet­rifft alle Men­schen an sieben Tagen die Woche, 24 Stun­den am Tag und 365 Tage im Jahr. Und ich glaube, es lohnt sich darüber ein­mal nachzudenken.

Wenn Sie Lob­bysprech­er für das Tages­licht wären – welche Botschaft hät­ten Sie?

Tagsüber mehr Tages­licht: Also mor­gens früh raus und Licht tanken – vor allem vor dem Mit­tag. Je mehr Tages­licht ich habe, desto weniger störend ist kün­stliche Beleuch­tung am Abend. Umgekehrt wirkt kün­stliche Beleuch­tung dop­pelt und dreifach, wenn ich gar kein Tages­licht habe. Deswe­gen kann man Licht nicht isoliert betra­cht­en, son­dern immer nur im gesamten Tageskonzept.

Sie berat­en Men­schen, um ihnen zu helfen, Störun­gen der biol­o­gis­chen Rhyth­men zu ver­hin­dern. Wie gehen Sie dabei vor?

Von der rein prak­tis­chen Seite her ist es eine Melange aus Schlaf- und Lichthy­giene mit ein biss­chen Lebens­ber­atung. Es geht darum mit Men­schen gemein­sam her­auszufind­en, wie Beruf, Pri­vatleben und eine gesunde Biolo­gie vere­in­bart wer­den können.

Welche Instru­mente set­zen Sie dabei ein?

Ich arbeite seit Jahren mit dem Münch­n­er Chrono­typ-Frage­bo­gen (siehe Kas­ten). Damit lässt sich über­haupt erst mal zeigen, was es für ver­schiedene Chrono­typen gibt. Er macht klar deut­lich, dass da ganz viel Biolo­gie dahin­ter­steckt. Dass man nicht denkt „Ich muss jet­zt mal
die Back­en zusam­menkneifen“, son­dern sieht, dass da Gren­zen geset­zt sind. Und solche Gren­zen sind ja auch in anderen Bere­ichen da und wer­den anerkan­nt: Wenn es ums Alter geht, um Lebens- und Beruf­ser­fahrung geht, wenn es um Geschlechterun­ter­schiede geht, wenn es um Größe­nun­ter­schiede geht usw. Die Schlaf-Leis­tungs­fähigkeit anhand der inneren Uhr ist genau­so ein Aspekt, den wir berück­sichti­gen müssen. Wir ken­nen die neg­a­tiv­en Kon­se­quen­zen, wenn wir dies nicht machen.

Was kön­nen denn Schichtar­bei­t­ende selb­st konkret tun?

Es gibt zwar einige prak­tis­che Tipps für Schichtar­beit­er: etwa das Licht am Ende der Nachtschicht zu dim­men. Wenn jemand das macht, stört dies den Kol­le­gen, der ger­ade mit der Früh­schicht begin­nt. Hier gilt es viele Diskus­sio­nen – aber auch tech­nis­che Ansatzmöglichkeit­en, wie das Arbeit­sum­feld gestal­tet wer­den soll.

Wie müssen denn die entsprechen­den Beleuch­tungslö­sun­gen aussehen?

Auch dabei geht es um Indi­vid­u­al­ität – und das ist ja etwas, das unter anderem mit der LED-Tech­nik kommt. Man muss nicht mehr ganze Räume ausstrahlen, son­dern kann einzelne Bere­iche sehr punk­tuell beleucht­en. Die KAN (Anm. d. Red.: Kom­mis­sion Arbeitss­chutz und Nor­mung) hat die nötige wis­senschaftliche Basis zusam­menge­tra­gen, und bringt dieses Wis­sen jet­zt in die Betriebe (Anm. d. Red.: siehe Artikel und Link „Nicht-visuelle Wirkun­gen von Licht“ auf den Seit­en 8–10).

Es wird also viel geforscht …

Der deutsche Geset­zge­ber hat ein Ver­lan­gen, mehr über die The­matik zu wis­sen. Wenn solche Dinge im Raum ste­hen wie „Nachtar­beit macht Krebs“, dann müssen Entschei­dun­gen getrof­fen wer­den. Das ist nicht grund­sät­zlich neu, aber es erhärtet sich die Daten­ba­sis und somit auch die Argu­men­ta­tions­ba­sis für kluge Entscheidungen.

Was ste­ht im Kern in den Berichten?

Licht ist ein­er der Fak­toren, der über die Arbeit­szeit hin­aus wirkt. Das ist eine neue Erfahrung für viele Arbeit­ge­ber. Dass sie nicht nur sagen: „Ich sorge am Arbeit­splatz dafür, dass es nicht laut ist und dass die Tem­per­atur stimmt.“ Son­dern, dass sie auch für eine entsprechende Beleuch­tung ver­ant­wortlich sind. Denn sie wirkt sich auf den Nach­schlaf – oder auf den Tagschlaf – aus. Ander­sherum betra­chtet, wirkt sich die Schlafqual­ität auf meine Arbeit­sleis­tung aus.

Sie meinen, wenn Beschäftigte über­müdet zur Arbeit erscheinen?

Ja. Genau­so, wie wir ja auch ein Ver­ständ­nis dafür haben, nicht betrunk­en zur Arbeit zu kom­men. Wenn ich mor­gens früh raus muss, trinke ich nicht die ganze Nacht durch, son­dern beherrsche mich ein biss­chen. Wir sind ja auch als Arbeit­nehmer verpflichtet, unsere Arbeit­skraft so zur Ver­fü­gung zu stellen, dass wir unsere Arbeit machen kön­nen und dass wir uns nicht in Gefahren brin­gen und pünk­tlich bei der Arbeit sind. Nur beim The­ma Schlaf machen wir eine Aus­nahme und sagen „Schlaf ist völ­lig egal“.

Allzu viel Ein­fluss habe ich aber nicht als Ban­dar­beit­er oder Stew­ardess auf meinen Schichtplan …

Men­schen kön­nen sich zusam­men­tun und ihre Stimme kund­tun. Das funk­tion­iert schon. Und sich mit ihrem Vorge­set­zten sol­i­darisieren – weil wir alle im sel­ben Boot sitzen. Aber ich kann tat­säch­lich unab­hängig vom Arbeit­splatz viel tun.

Und das wäre …

Viele Schichtar­bei­t­ende haben einen sim­plen Trick: Sie tra­gen am Ende der Schicht eine Son­nen­brille mit orangenen Gläsern. Damit sig­nal­isieren sie dem Kör­p­er, dass langsam Schlafen­szeit ist. Zum erhol­samen Schlafen sollte dann der Raum ruhig sein, dunkel und nicht zu warm. Also etwa 18 oder 19 Grad. Manchen Leuten helfen auch Ohrstöpsel oder eine Schlafbrille.

Haben Sie auch Schlaf-Tipps für Men­schen, die tagsüber arbeiten?

Zwei Stun­den vor dem Schlaf auf­passen mit der kün­stlichen Beleuch­tung. Also alles Licht aus­machen, das ich nicht benötige oder Lichter abends dim­men. Das Licht sollte weniger Blauan­teile haben – also nicht weißes Licht, son­dern eher orange­nes – warmweißes – Licht. Zudem gilt: nicht direkt in Lichtquellen schauen, bess­er so organ­isieren, dass das Licht zum Beispiel an Wän­den oder der Zim­merdecke gestreut wird.

Sie sprechen auf Smart­phone, Tablet und Fernse­her an?

Fernse­hen geht immer noch. Aber Smart­phone und Tablet soll­ten vor dem Schlafen weit­er von den Augen wegge­hal­ten oder es sollte darauf verzichtet wer­den. Es gibt aber auch Soft­ware – so zum Beispiel Night Shift, f.lux oder Twi­light, die das Dis­play dim­men. Ich empfehle seit Jahren, ein­fach ein­mal eine Woche lang einen dig­i­tal­en Detox zu machen.

Was ver­ste­hen Sie unter „dig­i­talem Detox“?

Abends ein gedruck­tes Buch oder eine Zeitschrift bei Kerzen­schein lesen. Sie wer­den merken, wie schnell und wie schön Sie schlafen kön­nen. Es wirkt sehr schnell und neben­wirkungs­frei. Und das ist das Beson­dere, wenn wir mit Licht hantieren.

Und dann bin ich fit für einen neuen Arbeitstag?

Ich will das The­ma gar nicht daran aufhän­gen, dass wir Men­schen pro­duk­tiv­er machen kön­nen – das baut so ein falsches Image auf – und die Gewin­n­max­imierung sollte nicht die Haupt­triebfed­er sein.

Vie­len Dank für das Gespräch.


Prof. Dr. Thomas Kantermann

„Licht ist ein­er der Fak­toren, der über die Arbeit­szeit hin­aus wirkt.“


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