Was passiert mit Menschen, die ihre innere Uhr dauerhaft ignorieren?
Bei manchen sehen wir bedrohliche Dinge. Es fängt mit Verdauungsstörungen, Schlafstörungen, Stimmungsstörungen und depressiven Verstimmungen an. Es lassen sich aber auch schwerwiegende Folgen wie Stoffwechsel- und Herz-Kreislaufstörungen – bis hin zu Schlaganfall, Herzanfall und Krebs beobachten.
Verursacht Schichtarbeit also Krebs?
Wir können vieles noch nicht ursächlich erklären, bei manchem haben wir eine gewisse Idee. Ob jetzt Schichtarbeit direkt zu Krebs führt oder ob Schichtarbeit in einen Zustand führt, der die Krebsbekämpfung herunterfährt, lässt sich derzeit nicht beantworten. Aber eine Evidenz ist sichtbar. So zeigen manche Studien, dass Krebserkrankungen mit zunehmender Schichtarbeitsdauer wahrscheinlicher auftreten. Und wenn ich diese Dauer verkürzen kann, dann sollte ich es auch tun.
Was raten Sie – wie sollten die Betriebe vorgehen?
Es muss eine Grundsatzdiskussion geführt werden um die zentralen Fragen: Wie weit wollen wir gehen? Wie weit wollen wir die Gesundheit von Menschen strapazieren – ja sogar gefährden – und wo sehen wir die Grenzen? Wenn ich die Möglichkeit habe, einen gewissen Prozentsatz abzumildern, indem ich Erholungsmöglichkeiten gebe, warum gehe ich diesen Weg dann nicht?
Würden Sie also Schichtarbeit am liebsten verbieten?
Ich sage ganz klar: Wir brauchen nachts Polizei und Sicherheitsdienste, wir brauchen nachts Krankenhäuser und wir brauchen nachts die Feuerwehr. Ich sage aber auch ganz klar, wenn es um den Einsatz von Menschen, auch Humankapital genannt, in der Nacht geht: Ein Standort wie Deutschland muss nachts keine Autos bauen. Eine grundsätzliche Diskussion über die biologischen Grenzen der Einsatzfähigkeit von Menschen muss in unsere gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen integriert werden.
Und welche Lösung schlagen Sie der Industrie vor?
Versucht doch Gewinne zu maximieren, indem ihr die Krankheits- und Personalkosten spart! Und die Hauptkostenlast für die Betriebe sind nun mal Personalkosten. Bei hoher Fluktuation und hohem Krankenstand explodieren diese Kosten. Gerade hatten wir wieder eine Grippewelle, die immense Kosten verursachte. Fehlende Erholungsmöglichkeiten und nicht erholsamer Schlaf erhöhen die Wahrscheinlich sich eine Erkältung einzufangen, die dann zudem auch länger dauern kann.
Sind denn flexible Arbeitszeiten die Lösung?
Das wird ja immer mehr praktiziert: flexible Arbeitszeiten und Lebensarbeitszeitkonten, die mehr Selbstbestimmung anbieten. Wenn ich Menschen mehr Mitspracherecht gebe, fühlen sie sich wohler. Es funktioniert nur nicht, wenn ich Menschen unter Druck setze, diese unter Schlafmangel leiden und ihnen dann auch noch das Wort wegnehme. Dann knallt es irgendwann. Das geht jetzt natürlich weit über die Chronobiologie hinaus, aber es läuft doch immer wieder auf den Kern heraus: Zeit, Zeitsouveränität, Überlastung und Erholung.
Die etablierte Praxis zu ändern, ist immer schwer …
Wenn es dann heißt „Das haben wir schon immer so gemacht und das hat uns auch nicht umgebracht“, dann sehen wir: Oh – da müssen wir ran. Was immer es dann auch kosten mag – wobei ich glaube, dass es gar nicht wirklich teuer ist – es müsste einfach mal eine gesellschaftliche Diskussion dazu angeregt werden. Und dann finden sich auch sehr kostengünstige Lösungen – zum Teil kosten sie auch gar nichts. Gottseidank ist ja Tageslicht immer noch kostenfrei.
Warum wird das Thema dann bisher nicht stärker diskutiert?
Es gibt für alles Mögliche Lobbys – nicht aber für das Tageslicht. Wenn die Leute dann „Biorhythmus“ googeln, finden sie irgendeinen Quatsch. Also ist es besser „biologischer Rhythmus“ oder „Chronobiologie“ einzutippen. Denn da steckt handfeste Wissenschaft dahinter und es betrifft alle Menschen an sieben Tagen die Woche, 24 Stunden am Tag und 365 Tage im Jahr. Und ich glaube, es lohnt sich darüber einmal nachzudenken.
Wenn Sie Lobbysprecher für das Tageslicht wären – welche Botschaft hätten Sie?
Tagsüber mehr Tageslicht: Also morgens früh raus und Licht tanken – vor allem vor dem Mittag. Je mehr Tageslicht ich habe, desto weniger störend ist künstliche Beleuchtung am Abend. Umgekehrt wirkt künstliche Beleuchtung doppelt und dreifach, wenn ich gar kein Tageslicht habe. Deswegen kann man Licht nicht isoliert betrachten, sondern immer nur im gesamten Tageskonzept.
Sie beraten Menschen, um ihnen zu helfen, Störungen der biologischen Rhythmen zu verhindern. Wie gehen Sie dabei vor?
Von der rein praktischen Seite her ist es eine Melange aus Schlaf- und Lichthygiene mit ein bisschen Lebensberatung. Es geht darum mit Menschen gemeinsam herauszufinden, wie Beruf, Privatleben und eine gesunde Biologie vereinbart werden können.
Welche Instrumente setzen Sie dabei ein?
Ich arbeite seit Jahren mit dem Münchner Chronotyp-Fragebogen (siehe Kasten). Damit lässt sich überhaupt erst mal zeigen, was es für verschiedene Chronotypen gibt. Er macht klar deutlich, dass da ganz viel Biologie dahintersteckt. Dass man nicht denkt „Ich muss jetzt mal
die Backen zusammenkneifen“, sondern sieht, dass da Grenzen gesetzt sind. Und solche Grenzen sind ja auch in anderen Bereichen da und werden anerkannt: Wenn es ums Alter geht, um Lebens- und Berufserfahrung geht, wenn es um Geschlechterunterschiede geht, wenn es um Größenunterschiede geht usw. Die Schlaf-Leistungsfähigkeit anhand der inneren Uhr ist genauso ein Aspekt, den wir berücksichtigen müssen. Wir kennen die negativen Konsequenzen, wenn wir dies nicht machen.
Was können denn Schichtarbeitende selbst konkret tun?
Es gibt zwar einige praktische Tipps für Schichtarbeiter: etwa das Licht am Ende der Nachtschicht zu dimmen. Wenn jemand das macht, stört dies den Kollegen, der gerade mit der Frühschicht beginnt. Hier gilt es viele Diskussionen – aber auch technische Ansatzmöglichkeiten, wie das Arbeitsumfeld gestaltet werden soll.
Wie müssen denn die entsprechenden Beleuchtungslösungen aussehen?
Auch dabei geht es um Individualität – und das ist ja etwas, das unter anderem mit der LED-Technik kommt. Man muss nicht mehr ganze Räume ausstrahlen, sondern kann einzelne Bereiche sehr punktuell beleuchten. Die KAN (Anm. d. Red.: Kommission Arbeitsschutz und Normung) hat die nötige wissenschaftliche Basis zusammengetragen, und bringt dieses Wissen jetzt in die Betriebe (Anm. d. Red.: siehe Artikel und Link „Nicht-visuelle Wirkungen von Licht“ auf den Seiten 8–10).
Es wird also viel geforscht …
Der deutsche Gesetzgeber hat ein Verlangen, mehr über die Thematik zu wissen. Wenn solche Dinge im Raum stehen wie „Nachtarbeit macht Krebs“, dann müssen Entscheidungen getroffen werden. Das ist nicht grundsätzlich neu, aber es erhärtet sich die Datenbasis und somit auch die Argumentationsbasis für kluge Entscheidungen.
Was steht im Kern in den Berichten?
Licht ist einer der Faktoren, der über die Arbeitszeit hinaus wirkt. Das ist eine neue Erfahrung für viele Arbeitgeber. Dass sie nicht nur sagen: „Ich sorge am Arbeitsplatz dafür, dass es nicht laut ist und dass die Temperatur stimmt.“ Sondern, dass sie auch für eine entsprechende Beleuchtung verantwortlich sind. Denn sie wirkt sich auf den Nachschlaf – oder auf den Tagschlaf – aus. Andersherum betrachtet, wirkt sich die Schlafqualität auf meine Arbeitsleistung aus.
Sie meinen, wenn Beschäftigte übermüdet zur Arbeit erscheinen?
Ja. Genauso, wie wir ja auch ein Verständnis dafür haben, nicht betrunken zur Arbeit zu kommen. Wenn ich morgens früh raus muss, trinke ich nicht die ganze Nacht durch, sondern beherrsche mich ein bisschen. Wir sind ja auch als Arbeitnehmer verpflichtet, unsere Arbeitskraft so zur Verfügung zu stellen, dass wir unsere Arbeit machen können und dass wir uns nicht in Gefahren bringen und pünktlich bei der Arbeit sind. Nur beim Thema Schlaf machen wir eine Ausnahme und sagen „Schlaf ist völlig egal“.
Allzu viel Einfluss habe ich aber nicht als Bandarbeiter oder Stewardess auf meinen Schichtplan …
Menschen können sich zusammentun und ihre Stimme kundtun. Das funktioniert schon. Und sich mit ihrem Vorgesetzten solidarisieren – weil wir alle im selben Boot sitzen. Aber ich kann tatsächlich unabhängig vom Arbeitsplatz viel tun.
Und das wäre …
Viele Schichtarbeitende haben einen simplen Trick: Sie tragen am Ende der Schicht eine Sonnenbrille mit orangenen Gläsern. Damit signalisieren sie dem Körper, dass langsam Schlafenszeit ist. Zum erholsamen Schlafen sollte dann der Raum ruhig sein, dunkel und nicht zu warm. Also etwa 18 oder 19 Grad. Manchen Leuten helfen auch Ohrstöpsel oder eine Schlafbrille.
Haben Sie auch Schlaf-Tipps für Menschen, die tagsüber arbeiten?
Zwei Stunden vor dem Schlaf aufpassen mit der künstlichen Beleuchtung. Also alles Licht ausmachen, das ich nicht benötige oder Lichter abends dimmen. Das Licht sollte weniger Blauanteile haben – also nicht weißes Licht, sondern eher orangenes – warmweißes – Licht. Zudem gilt: nicht direkt in Lichtquellen schauen, besser so organisieren, dass das Licht zum Beispiel an Wänden oder der Zimmerdecke gestreut wird.
Sie sprechen auf Smartphone, Tablet und Fernseher an?
Fernsehen geht immer noch. Aber Smartphone und Tablet sollten vor dem Schlafen weiter von den Augen weggehalten oder es sollte darauf verzichtet werden. Es gibt aber auch Software – so zum Beispiel Night Shift, f.lux oder Twilight, die das Display dimmen. Ich empfehle seit Jahren, einfach einmal eine Woche lang einen digitalen Detox zu machen.
Was verstehen Sie unter „digitalem Detox“?
Abends ein gedrucktes Buch oder eine Zeitschrift bei Kerzenschein lesen. Sie werden merken, wie schnell und wie schön Sie schlafen können. Es wirkt sehr schnell und nebenwirkungsfrei. Und das ist das Besondere, wenn wir mit Licht hantieren.
Und dann bin ich fit für einen neuen Arbeitstag?
Ich will das Thema gar nicht daran aufhängen, dass wir Menschen produktiver machen können – das baut so ein falsches Image auf – und die Gewinnmaximierung sollte nicht die Haupttriebfeder sein.
Vielen Dank für das Gespräch.
„Licht ist einer der Faktoren, der über die Arbeitszeit hinaus wirkt.“
Link-Tipps
- Den Münchner Chronotyp-Fragebogen finden Sie hier: https://humansleepproject.org/de/chronotyp oder http://bit.ly/2IwOW90
- Eine sehr sehenswerte TEDx-Aufzeichnung von Prof. Thomas Kantermann finden Sie hier: http://bit.ly/2HJiIGB
- Mehr über die Projekte von Dr. Thomas Kantermann:
www.synopus.de