Betriebsrat und Arbeitgeberin streiten im einstweiligen Verfügungsverfahren um die Inbetriebnahme eines Paketverteilzentrums. Die Arbeitgeberin ist für die Zustellung und Verteilung von Briefen und Paketsendungen in Schleswig-Holstein und Teilen Mecklenburg-Vorpommerns zuständig. Sie beschäftigt in ihrer Niederlassung circa 6.000 Arbeitnehmer. Pakete werden im Paketzentrum angeliefert und von dort in die verschiedenen Zustellbasen verteilt. Die Arbeitgeberin plante, eine neue mechanisierte Zustellbasis (MechZB) für die Paketzustellung in Betrieb zu nehmen. Es handelt sich hierbei um eine große Halle, an deren Längsseiten sich circa 25 Verladetore für Paketzustellfahrzeuge befinden. Die Pakete sollen angeliefert, entladen und über eine Paketverteilanlage zu den jeweiligen Beladetoren transportiert werden. Betriebsrat und Arbeitgeberin verhandelten seit Januar 2019 erfolglos vor einer Einigungsstelle über die Erstellung einer Gefährdungsbeurteilung. Im Januar 2021 hat die Arbeitgeberin das neue Paketverteilzentrum in Betrieb genommen, nachdem sie in Abstimmung mit der Berufsgenossenschaft eine Mustergefährdungsbeurteilung durchführen ließ.
Der Betriebsrat verlangt nun im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes, die Tätigkeiten in dem Paketverteilzentrum mit eigenen Beschäftigten oder Leiharbeitskräften zu untersagen, solange keine mitbestimmte Gefährdungsbeurteilung durchgeführt worden ist. Zur Begründung hat er auf sein Mitbestimmungsrecht nach dem Betriebsverfassungsgesetz hingewiesen sowie darauf, dass entsprechend den arbeitsschutzrechtlichen Vorschriften vor Inbetriebnahme einer neuen Betriebsstätte und vor Verwendung neuer Arbeitsmittel Gefährdungsbeurteilungen durchgeführt werden müssten. Bei einem Verstoß gegen dieses Mitbestimmungsrecht stehe ihm auch während eines laufenden Einigungsstellenverfahrens ein Unterlassungsanspruch hinsichtlich der Inbetriebnahme des Paketzentrums zu, damit es nicht zu einer betriebsverfassungswidrigen Lage komme.
Die Arbeitgeberin erwiderte im Wesentlichen, dass in ihrem Betrieb die vorgeschriebenen Gefährdungsbeurteilungen schon immer nach einem mit der zuständigen Berufsgenossenschaft abgestimmten Verfahren (Mustergefährdungsbeurteilung) durchgeführt werden. Dies habe der Betriebsrat seit Jahren akzeptiert. Nach dieser Mustergefährdungsbeurteilung sei auch bereits die MechZB bereits beurteilt worden. Es gebe anderenorts eine weitere baugleiche Paketverteilanlage. Daher sei für die Vereinbarung der Grundlagen einer Gefährdungsbeurteilung für die Paketverteilanlage der Gesamtbetriebsrat zuständig.
Entscheidung
Das LAG hat den Unterlassungsanspruch des Betriebsrats zurückgewiesen. Der Verstoß der Arbeitgeberin gegen das Mitbestimmungsrecht rechtfertige die Untersagung der Tätigkeitsaufnahme in dem neuen Paketverteilungszentrum nicht.
Die Mitbestimmung des Betriebsrats sei nach dem Betriebsverfassungsgesetz – insbesondere auch soweit es um die Verhütung von Arbeitsunfällen, den Gesundheitsschutz oder die Beachtung von Unfallverhütungsvorschriften gehe – Wirksamkeitsvoraussetzung für das Handeln des Arbeitgebers. Flankierend zu seinem Mitbestimmungsrecht kann der Betriebsrat vom Arbeitgeber das Unterlassen mitbestimmungswidriger Maßnahmen verlangen. Sei das mitbestimmungspflichtige Verhalten bereits vollzogen, ist der Arbeitgeber verpflichtet, den mitbestimmungswidrigen Zustand zu beseitigen.
So habe beispielsweise in einem vom Bundesarbeitsgericht (BAG) entschiedenen Fall eine mitbestimmungswidrige Anweisung zur Konkretisierung einer Unfallverhütungsschrift aus einem Handbuch des Arbeitgebers entfernt werden müssen, weil durch die Aufnahme in das Handbuch der Anschein der Wirksamkeit dieser Anordnung entstanden sei. Das bedeute übertragen auf den zu entscheidenden Sachverhalt, dass der Betriebsrat die „Beseitigung“ der Folgen der (bereits durchgeführten) Gefährdungsbeurteilung verlangen könne, indem etwa die Dokumentation über die Gefährdungsbeurteilung, die den Anschein einer mitbestimmten Gefährdungsbeurteilung erweckt, aus den Unterlagen, in denen sie im Betrieb aufbewahrt wird, zu entfernen ist. Dies habe der Betriebsrat im Verfahren jedoch nicht beantragt, sondern vielmehr die Stilllegung des bereits eröffneten Betriebs einschließlich der Paketverteilanlage. Zwar sei das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Erstellung der Gefährdungsbeurteilung vor Inbetriebnahme der MechZB und der Paketverteilanlage zwischen den Beteiligten unstreitig. Die Gefährdungsbeurteilung hätte auch bereits vor Aufnahme der Tätigkeiten bzw. Inbetriebnahme der Arbeitsmittel erfolgen müssen. Dies ergebe sich nach Ansicht des Gerichts aus dem Umstand, dass anderenfalls Ordnungswidrigkeiten nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 der Arbeitsstättenverordnung bzw. § 22 Abs. 1 Nr. 7 Betriebssicherheitsverordnung vorliegen. Über das Arbeitsschutzgesetz werden diese Verstöße mit Bußgeldern bis zu 5.000 Euro geahndet. Mitzubestimmen habe der Betriebsrat aber (nur) bei der Festlegung der Regelungen, nach denen die Gefährdungsbeurteilung erfolgen soll. Der Zeitpunkt, an dem die Gefährdungsbeurteilung durchzuführen ist, unterliege hingegen nicht der Mitbestimmung des Betriebsrats. Dieser sei (nur) anhand der vorgenannten Bußgeldvorschriften gesetzlich vorgegeben.
Die Arbeitgeberin habe zwar im Ergebnis aus Sicht des LAG eindeutig das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats verletzt, da sie es unterlassen hat, vor Durchführung der Gefährdungsbeurteilung mit dem Betriebsrat über deren Grundlagen eine Vereinbarung herbeizuführen: Dass sie die Gefährdungsbeurteilung nicht vor Inbetriebnahme der MechZB und der Paketverteilanlage vorgenommen hat, begründe eine Ordnungswidrigkeit. Zu deren Sanktionierung sei die zuständige Ordnungsbehörde berufen, nicht jedoch der Betriebsrat. Daher könne dieser keinen Unterlassungsanspruch hinsichtlich einer Betriebsuntersagung erreichen. So weit gingen seine Rechte nach Darstellung der Richterinnen und Richter des LAG Schleswig-Holstein nicht. Die Folge einer einseitig durch die Arbeitgeberin erfolgten Gefährdungsbeurteilung sei (nur) deren Unwirksamkeit. Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bestehe fort, es sei nicht etwa durch Zeitablauf erloschen, weil mittlerweile die MechZB und die Paketverteilanlage in Betrieb genommen wurden. Regelungen über die Grundlagen der Gefährdungsbeurteilung könnten auch jetzt noch verhandelt und vereinbart werden. Die Durchsetzung dieses Anspruchs des Betriebsrats sei dem Einigungsstellenverfahren vorbehalten. Die Grundlagen der Gefährdungsbeurteilung würden nicht deswegen anders zu regeln sein, weil der Betrieb bereits aufgenommen worden ist. Dafür gebe es aus Sicht des Gerichts keine Anhaltspunkte.
Darüber hinaus seien die betroffenen Arbeitnehmer auch nicht schutzlos. Sie seien nicht verpflichtet unter Bedingungen zu arbeiten, die den Vorschriften über den Arbeitsschutz widersprechen und hätten in diesem Fall ein Leistungsverweigerungsrecht. Das gelte jedenfalls dann, wenn die vom Arbeitgeber einseitig getroffen Arbeitsschutzmaßnahmen die Arbeits- und Gesundheitsschutzvorschriften nicht erfüllen würden. Im Übrigen sei die Einhaltung der Vorschriften der Betriebssicherheitsverordnung und des Arbeitsstättengesetzes durch die Ordnungsbehörde zu gewährleisten.
Fazit
Zwar war das Verhalten der Arbeitgeberin rechtswidrig, weil sie sich bewusst über das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates hinwegsetzte. Der Betriebsrat war jedoch mit seinen Anträgen über das Ziel hinausgeschossen. Das Recht des Betriebsrates geht zwar so weit, die vorgeschriebene Mitbestimmung bei Fragen des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten zu erzwingen. Der Anspruch auf Mitbestimmung reicht aber nicht dahin, dass der Betriebsrat bei Verstößen den Betrieb so lange stilllegen lassen kann, bis mitbestimmte Gefährdungsbeurteilungen durchgeführt wurden. Diese Möglichkeit ist nur den Ordnungsbehörden vorbehalten, und zwar nur dann, wenn gravierende materielle Verstöße gegen den Arbeitsschutz festgestellt werden. Der Entscheidung ist daher inhaltlich zuzustimmen.
Autor: Rechtsanwalt Matthias Klagge, LL.M.
TIGGES Rechtsanwälte
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