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Umzug einer Betriebsstätte – Unterlassungsanspruch des Betriebsrats bei Fehlen einer mitbestimmten Gefährdungsbeurteilung?

LAG Schleswig-Holstein
Umzug einer Betriebsstätte – Unterlassungsanspruch des Betriebsrats bei Fehlen einer mitbestimmten Gefährdungsbeurteilung?

Umzug einer Betriebsstätte – Unterlassungsanspruch des Betriebsrats bei Fehlen einer mitbestimmten Gefährdungsbeurteilung?
Arbeitgeberin und Betriebsrat stritten sich zum Thema Gefährdungsbeurteilung im Zusammenhang mit der Eröffung einer neuen Betriebsstätte. Foto: © Wiski – stock.adobe.com
In ein­er aktuellen Entschei­dung hat­te sich das Lan­desar­beits­gericht (LAG) Schleswig-Hol­stein (Beschluss vom 12.1.2021 – 1 TaB­V­Ga 4/20) mit der Frage zu befassen, ob der Betrieb­srat das Recht hat, den Umzug ein­er Betrieb­sstätte und die Inbe­trieb­nahme neuer Arbeitsmit­tel zu stop­pen, wenn die Arbeit­ge­berin ent­ge­gen der Arbeitsstät­ten- und Betrieb­ssicher­heitsverord­nung zuvor keine mitbes­timmte Gefährdungs­beurteilung durchge­führt hat.

Betrieb­srat und Arbeit­ge­berin stre­it­en im einst­weili­gen Ver­fü­gungsver­fahren um die Inbe­trieb­nahme eines Paketverteilzen­trums. Die Arbeit­ge­berin ist für die Zustel­lung und Verteilung von Briefen und Paket­sendun­gen in Schleswig-Hol­stein und Teilen Meck­len­burg-Vor­pom­merns zuständig. Sie beschäftigt in ihrer Nieder­las­sung cir­ca 6.000 Arbeit­nehmer. Pakete wer­den im Paket­zen­trum angeliefert und von dort in die ver­schiede­nen Zustell­basen verteilt. Die Arbeit­ge­berin plante, eine neue mech­a­nisierte Zustell­ba­sis (MechZB) für die Paket­zustel­lung in Betrieb zu nehmen. Es han­delt sich hier­bei um eine große Halle, an deren Längs­seit­en sich cir­ca 25 Ver­ladetore für Paket­zustell­fahrzeuge befind­en. Die Pakete sollen angeliefert, ent­laden und über eine Paketverteilan­lage zu den jew­eili­gen Beladetoren trans­portiert wer­den. Betrieb­srat und Arbeit­ge­berin ver­han­del­ten seit Jan­u­ar 2019 erfol­g­los vor ein­er Eini­gungsstelle über die Erstel­lung ein­er Gefährdungs­beurteilung. Im Jan­u­ar 2021 hat die Arbeit­ge­berin das neue Paketverteilzen­trum in Betrieb genom­men, nach­dem sie in Abstim­mung mit der Beruf­sgenossen­schaft eine Musterge­fährdungs­beurteilung durch­führen ließ.

Der Betrieb­srat ver­langt nun im Wege des einst­weili­gen Rechtss­chutzes, die Tätigkeit­en in dem Paketverteilzen­trum mit eige­nen Beschäftigten oder Lei­har­beit­skräften zu unter­sagen, solange keine mitbes­timmte Gefährdungs­beurteilung durchge­führt wor­den ist. Zur Begrün­dung hat er auf sein Mitbes­tim­mungsrecht nach dem Betrieb­sver­fas­sungs­ge­setz hingewiesen sowie darauf, dass entsprechend den arbeitss­chutzrechtlichen Vorschriften vor Inbe­trieb­nahme ein­er neuen Betrieb­sstätte und vor Ver­wen­dung neuer Arbeitsmit­tel Gefährdungs­beurteilun­gen durchge­führt wer­den müssten. Bei einem Ver­stoß gegen dieses Mitbes­tim­mungsrecht ste­he ihm auch während eines laufend­en Eini­gungsstel­len­ver­fahrens ein Unter­las­sungsanspruch hin­sichtlich der Inbe­trieb­nahme des Paket­zen­trums zu, damit es nicht zu ein­er betrieb­sver­fas­sungswidri­gen Lage komme.

Die Arbeit­ge­berin erwiderte im Wesentlichen, dass in ihrem Betrieb die vorgeschriebe­nen Gefährdungs­beurteilun­gen schon immer nach einem mit der zuständi­gen Beruf­sgenossen­schaft abges­timmten Ver­fahren (Musterge­fährdungs­beurteilung) durchge­führt wer­den. Dies habe der Betrieb­srat seit Jahren akzep­tiert. Nach dieser Musterge­fährdungs­beurteilung sei auch bere­its die MechZB bere­its beurteilt wor­den. Es gebe anderenorts eine weit­ere bau­gle­iche Paketverteilan­lage. Daher sei für die Vere­in­barung der Grund­la­gen ein­er Gefährdungs­beurteilung für die Paketverteilan­lage der Gesamt­be­trieb­srat zuständig.

Entscheidung

Das LAG hat den Unter­las­sungsanspruch des Betrieb­srats zurück­gewiesen. Der Ver­stoß der Arbeit­ge­berin gegen das Mitbes­tim­mungsrecht recht­fer­tige die Unter­sa­gung der Tätigkeit­sauf­nahme in dem neuen Paketverteilungszen­trum nicht.

Die Mitbes­tim­mung des Betrieb­srats sei nach dem Betrieb­sver­fas­sungs­ge­setz – ins­beson­dere auch soweit es um die Ver­hü­tung von Arbeit­sun­fällen, den Gesund­heitss­chutz oder die Beach­tung von Unfal­lver­hü­tungsvorschriften gehe – Wirk­samkeitsvo­raus­set­zung für das Han­deln des Arbeit­ge­bers. Flankierend zu seinem Mitbes­tim­mungsrecht kann der Betrieb­srat vom Arbeit­ge­ber das Unter­lassen mitbes­tim­mungswidriger Maß­nah­men ver­lan­gen. Sei das mitbes­tim­mungspflichtige Ver­hal­ten bere­its vol­l­zo­gen, ist der Arbeit­ge­ber verpflichtet, den mitbes­tim­mungswidri­gen Zus­tand zu beseitigen.

So habe beispiel­sweise in einem vom Bun­de­sar­beits­gericht (BAG) entsch­iede­nen Fall eine mitbes­tim­mungswidrige Anweisung zur Konkretisierung ein­er Unfal­lver­hü­tungss­chrift aus einem Hand­buch des Arbeit­ge­bers ent­fer­nt wer­den müssen, weil durch die Auf­nahme in das Hand­buch der Anschein der Wirk­samkeit dieser Anord­nung ent­standen sei. Das bedeute über­tra­gen auf den zu entschei­den­den Sachver­halt, dass der Betrieb­srat die „Besei­t­i­gung“ der Fol­gen der (bere­its durchge­führten) Gefährdungs­beurteilung ver­lan­gen könne, indem etwa die Doku­men­ta­tion über die Gefährdungs­beurteilung, die den Anschein ein­er mitbes­timmten Gefährdungs­beurteilung erweckt, aus den Unter­la­gen, in denen sie im Betrieb auf­be­wahrt wird, zu ent­fer­nen ist. Dies habe der Betrieb­srat im Ver­fahren jedoch nicht beantragt, son­dern vielmehr die Stil­l­le­gung des bere­its eröffneten Betriebs ein­schließlich der Paketverteilan­lage. Zwar sei das Mitbes­tim­mungsrecht des Betrieb­srats bei der Erstel­lung der Gefährdungs­beurteilung vor Inbe­trieb­nahme der MechZB und der Paketverteilan­lage zwis­chen den Beteiligten unstre­it­ig. Die Gefährdungs­beurteilung hätte auch bere­its vor Auf­nahme der Tätigkeit­en bzw. Inbe­trieb­nahme der Arbeitsmit­tel erfol­gen müssen. Dies ergebe sich nach Ansicht des Gerichts aus dem Umstand, dass anderen­falls Ord­nungswidrigkeit­en nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 der Arbeitsstät­ten­verord­nung bzw. § 22 Abs. 1 Nr. 7 Betrieb­ssicher­heitsverord­nung vor­liegen. Über das Arbeitss­chutzge­setz wer­den diese Ver­stöße mit Bußgeldern bis zu 5.000 Euro geah­n­det. Mitzubes­tim­men habe der Betrieb­srat aber (nur) bei der Fes­tle­gung der Regelun­gen, nach denen die Gefährdungs­beurteilung erfol­gen soll. Der Zeit­punkt, an dem die Gefährdungs­beurteilung durchzuführen ist, unter­liege hinge­gen nicht der Mitbes­tim­mung des Betrieb­srats. Dieser sei (nur) anhand der vor­ge­nan­nten Bußgeld­vorschriften geset­zlich vorgegeben.

Die Arbeit­ge­berin habe zwar im Ergeb­nis aus Sicht des LAG ein­deutig das Mitbes­tim­mungsrecht des Betrieb­srats ver­let­zt, da sie es unter­lassen hat, vor Durch­führung der Gefährdungs­beurteilung mit dem Betrieb­srat über deren Grund­la­gen eine Vere­in­barung her­beizuführen: Dass sie die Gefährdungs­beurteilung nicht vor Inbe­trieb­nahme der MechZB und der Paketverteilan­lage vorgenom­men hat, begründe eine Ord­nungswidrigkeit. Zu deren Sank­tion­ierung sei die zuständi­ge Ord­nungs­be­hörde berufen, nicht jedoch der Betrieb­srat. Daher könne dieser keinen Unter­las­sungsanspruch hin­sichtlich ein­er Betrieb­sun­ter­sa­gung erre­ichen. So weit gin­gen seine Rechte nach Darstel­lung der Rich­terin­nen und Richter des LAG Schleswig-Hol­stein nicht. Die Folge ein­er ein­seit­ig durch die Arbeit­ge­berin erfol­gten Gefährdungs­beurteilung sei (nur) deren Unwirk­samkeit. Das Mitbes­tim­mungsrecht des Betrieb­srats beste­he fort, es sei nicht etwa durch Zeitablauf erloschen, weil mit­tler­weile die MechZB und die Paketverteilan­lage in Betrieb genom­men wur­den. Regelun­gen über die Grund­la­gen der Gefährdungs­beurteilung kön­nten auch jet­zt noch ver­han­delt und vere­in­bart wer­den. Die Durch­set­zung dieses Anspruchs des Betrieb­srats sei dem Eini­gungsstel­len­ver­fahren vor­be­hal­ten. Die Grund­la­gen der Gefährdungs­beurteilung wür­den nicht deswe­gen anders zu regeln sein, weil der Betrieb bere­its aufgenom­men wor­den ist. Dafür gebe es aus Sicht des Gerichts keine Anhaltspunkte.

Darüber hin­aus seien die betrof­fe­nen Arbeit­nehmer auch nicht schut­z­los. Sie seien nicht verpflichtet unter Bedin­gun­gen zu arbeit­en, die den Vorschriften über den Arbeitss­chutz wider­sprechen und hät­ten in diesem Fall ein Leis­tungsver­weigerungsrecht. Das gelte jeden­falls dann, wenn die vom Arbeit­ge­ber ein­seit­ig getrof­fen Arbeitss­chutz­maß­nah­men die Arbeits- und Gesund­heitss­chutzvorschriften nicht erfüllen wür­den. Im Übri­gen sei die Ein­hal­tung der Vorschriften der Betrieb­ssicher­heitsverord­nung und des Arbeitsstät­tenge­set­zes durch die Ord­nungs­be­hörde zu gewährleisten.

Fazit

Zwar war das Ver­hal­ten der Arbeit­ge­berin rechtswidrig, weil sie sich bewusst über das Mitbes­tim­mungsrecht des Betrieb­srates hin­wegset­zte. Der Betrieb­srat war jedoch mit seinen Anträ­gen über das Ziel hin­aus­geschossen. Das Recht des Betrieb­srates geht zwar so weit, die vorgeschriebene Mitbes­tim­mung bei Fra­gen des Gesund­heitss­chutzes der Beschäftigten zu erzwin­gen. Der Anspruch auf Mitbes­tim­mung reicht aber nicht dahin, dass der Betrieb­srat bei Ver­stößen den Betrieb so lange stil­l­le­gen lassen kann, bis mitbes­timmte Gefährdungs­beurteilun­gen durchge­führt wur­den. Diese Möglichkeit ist nur den Ord­nungs­be­hör­den vor­be­hal­ten, und zwar nur dann, wenn gravierende materielle Ver­stöße gegen den Arbeitss­chutz fest­gestellt wer­den. Der Entschei­dung ist daher inhaltlich zuzustimmen.


Autor: Recht­san­walt Matthias Klagge, LL.M.

TIGGES Recht­san­wälte

E‑Mail: klagge@tigges.legal

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