Nach anfänglichen Unsicherheiten in Form und Ausführung von GBUen haben sich heute standardisierte Dokumentationsverfahren durchgesetzt. Basis bildet der § 5 ArbSchG mit seinen konzeptionellen Handlungsschritten. Dennoch wird rechtlich keine besondere Form der GBU vorgeschrieben. Diese Freiheitsgrade haben zu unübersehbaren Varianten und Darstellungsformen bei GBUen geführt. Dennoch wird die GBU nach einer Erhebung des BMAS (Bundesministerium für Arbeit und Soziales) in 2017 nur in 54 Prozent der Betriebe durchgeführt [1], während die Unterweisungen bei 80 Prozent liegen.
Die meisten GBUen in Industrie und Handwerk sind EDV-basierte Systeme, oft in tabellarischer Form zum Beispiel in Excel mit zusätzlichen Verlinkungen und Anhängen. Es zeigt sich, dass mit dem Anspruch der Rechtssicherheit die Komplexität von GBUen mit der Zeit wächst. Die hinterlegten Dokumente nehmen zu, die verlinkten Schnittstellen wachsen an, die Pflege des Systems droht zur „Fulltime“-Aufgabe zu werden.
Auch haben sich die Rechtsgrundlagen zu GBUen im Laufe der Jahre vervielfacht [2]. Diese vorschriften-orientierten GBUen haben naturgemäß eigene Zielsetzungen in der Betrachtung von Risiken und Gefährdungen. Beispielhaft ist hier § 10 Mutterschutzgesetz, § 3 Arbeitsstättenverordnung, § 3 Betriebssicherheitsverordnung oder die GBU zum Explosionsschutz nach § 6 Gefahrstoffverordnung genannt (die genauen Rechtsquellen werden nicht extra aufgeführt). Neu ins Bewusstsein rückt auch die GBU zum Brandschutz, die letztlich durch die neue Arbeitsstättenrichtlinie ASR A2.2 „Maßnahmen gegen Brände“ verpflichtend wird.
Je nach Art und Betriebsgröße wird eine GBU in ihrer Komplexität (z. B. Umfang, Detailliertheit, Struktur) unterschiedlich ausfallen [2]. Dabei haben sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten viele Verlage und Autoren mit dem Thema GBU beschäftigt. Beispielhaft sind hier die GDA-Leitlinie Gefährdungsbeurteilung und Dokumentation (Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie) der BAuA [3], die unterschiedlichen Berufsgenossenschaften wie zum Beispiel die BGHM-Information 102 [4], die BGRCI Information A017 [5], GBU Praxishilfe und Leitfaden für die GBU [6], zu nennen.
Gefährdungsbeurteilungen in Großbetrieben
In industriellen Großbetrieben war die Anwendung der GBU auch schon vor dem Arbeitsschutzgesetz durchaus üblich [2]. Primär wurden unternehmensspezifische Varianten der GBU auf Grund vorhandener Gefährdungspotentiale beispielsweise in der chemischen Industrie oder in kerntechnischen Anlagen angewendet. Auch die Handlungsschritte der GBU, wie sie die §§ 5 und 6 ArbSchG aufzeigen, wurden schon in sogenannten Fehler-Möglichkeits- und Einflussanalysen (FMEA), Arbeitsbereichsanalysen für den Umgang mit Gefahrstoffen oder auch Risikobewertungen im Kraftwerksbereich umgesetzt.
Der Anspruch an eine GBU ist entweder objektorientiert oder arbeitsablauf(prozess)orientiert. Abbildung 1 zeigt die Zusammenhänge mit entsprechenden Variationsmöglichkeiten.
Welche Kernelemente sollten in einer industriellen GBU enthalten sein, um einen rechtssicheren Anspruch zu erfüllen? Empfehlenswert sind die Elemente:
- Daten, Anlass (Audit, Erstbeurteilung etc.)
- Festlegung des GBU-Bereiches /Arbeitsstätte
- Strukturierung nach Gefährdungsartenkatalog (Objektorientierung und Prozessorientierung)
- Bezug zu Rechtsvorschriften, Technischen Regeln, Schutzziel
- Fünf Handlungsschritte (Erfassung/Ermittlung, Beurteilung, Schutzmaßnahmenentwicklung, Umsetzung, Wirksamkeitskontrolle)
- Erste Risikobewertung nach der Beurteilung mindestens mit Auswirkung (Bedeutung) und Auftrittswahrscheinlichkeit
- Zweite Risikobewertung (Wirksamkeitskontrolle) nach der Umsetzung der Schutzmaßnahmen
- Festlegung der Verantwortlichkeit, Umsetzungstermin, Zeitfenster entsprechend demRisikograd
- Verweise auf andere Dokumente (sogen. Mitgeltende Unterlagen), Schnittstellen etc.
- Aktueller Revisionsstand, Verantwortlicher, Datum
Die obige Aufzählung muss näher erläutert werden:
- Der Anlass einer GBU können eine Erstbeurteilung, ein Umzug, Audits, Behördenbegehungen, aber auch Unfälle sein. Besondere Anlässe sind „wesentliche Änderungen“ oder sicherheitstechnische „Verkettung“ von Maschinen und Anlagen mit Eingriff in das Sicherheitskonzept der Anlagen.
- Die Festlegung des Untersuchungsgegenstandes, der Arbeitsstoffe, der Tätigkeit (Prozess), Arbeitsmittel und Gefahrstoffeinsatz ist obligatorisch. Wünschenswert ist hier in einer GBU die „Charakterisierung“ der Arbeitsstätte und Umfeldbedingungen auf einem Extradokument [7].
- Wie erfasst man alle Gefährdungen? Orientierung bieten hier die Gefährdungskataloge der einzelnen Unfallversicherungsträger, die oben schon genannt wurden. Nur mit dieser systematischen Abarbeitung ist eine Erfassung aller Gefährdungen annähernd möglich. Auch hier ist die Objektorientierung oder Prozessorientierung der GBU „einstellbar“.
- Wünschenswert ist der Bezug zu Rechtsvorschriften oder technischen Regeln, insbesondere wenn Grenzwerte oder Sollwerte einzuhalten sind. Auch hilft es bei der innerbetrieblichen (Kosten-)Diskussion. In der Regel sind Schutzmaßnahmen oft selbsterklärend in ihrer Notwendigkeit und müssen nicht mit einem Rechtsverweis hinterlegt werden.
- Die Handlungsschritte zielen auf die Beseitigung der Gefährdung und funktionieren in der Regel nach dem sogenannten STOP(V)-Prinzip (Substitution, Technik, Organisation, Persönlicher Schutz, Verhaltensänderung). Die Strukturierung erfolgt praktisch wie eine FMEA. Die Unfallversicherungsträger haben daraus einen Handlungszyklus in sieben Schritten abgeleitet [8].
- Die 1. Risikobewertung quantifiziert das Gefährdungspotential der Ausgangssituation. Viele Verfahren sind bekannt. Beispielsweise das Verfahren nach Nohl [9] oder die Anwendung von Risikoprioritätszahlen [10]. In der Regel bildet die Kernaussage des Risikos immer die Auftrittswahrscheinlichkeit (A) mit der Schadensauswirkung (S) (also RPZ = A x S). Komplexere RPZ-Zahlen mit mehr Faktoren sind möglich [11].
- Die 2. Risikobewertung beinhaltet im Prinzip die Wirksamkeitskontrolle. Sie wird nach Umsetzung der Schutzmaßnahmen durchgeführt. Es stellt sich dabei die Frage nach dem akzeptablen Restrisiko, welches zu quantifizieren ist.
- Hinter jeder Maßnahme steht eine verantwortliche Person, die namentlich genannt werden sollte. Damit korrespondiert auch der Umsetzungstermin in Abhängigkeit von der 1. Risikoeinschätzung (hohes Risiko/Gefährdung → kurzer Umsetzungstermin).
- In größeren Betrieben verfügt die GBU über eine erhebliche Anzahl von Anlagen oder Daten auf sogenannten „share points“ und hinterlegter „Sekundärdokumentation“. Das sind unter anderem
- Prüfungsnachweise
- Gefahrstoffkataster (Gefahrstoffanweisungen)
- G‑Vorsorge-Kataster
- Leitmerkmalmethoden (Ergonomie)
- Risikobewertungstool (z.B. Nohl-Matrix)
- Explosionsschutzdokumente und GBU-Ex-Schutz
- Betriebsanweisungen / Arbeitsanweisungen
- Tätigkeiten mit CMR-Stoffen (z. B. Arbeitsbereichsanalysen)
- Lärmkataster / EMF-Kataster / Lichtkataster
- GBU-Mutterschutz
- KPB (Kurzverfahren psychische Belastungen)
- Bestellungen befähigter Personen
- Pflichtübertragungen
- Gefahrstoff-Freigabedokumentation
- Fremdfirmen- / Dienstleister-Einweisungen
- Feuererlaubnisschein /Arbeitsfreigaben
- Unterweisungs-Dokumentation und Mitarbeiterentwicklungsschulungen,
- etc.
Entwicklungen der Gefährdungsbeurteilung
Wenn im vorausgegangenen Kapitel auch von Risikoeinschätzung gesprochen wird, muss klargestellt werden, dass eine klassische GBU keine Risikobewertung für das Inverkehrbringen (bzw. auf dem Markt Bereitstellen) von Maschinen nach dem Produktionssicherheitsgesetz bzw. der 9. Verordnung zum ProdSG (Maschinenverordnung) darstellt.
Die GBU nimmt mit der Zeit an Komplexität zu. Verlinkungen, Anhänge und die (hoffentlich) kontinuierliche Fortschreibung der Maßnahmen (oft nur über Sortierkommandos identifizierbar) blähen die GBU auf.
Die interne Hinterlegung der Felder und Verknüpfungen zum Beispiel im Excel-Format kann in der Praxis nur noch von Spezialisten beherrscht werden, ebenso die Ablage der Dokumente auf sogenannten „share points“.
Die GBU beinhaltet oft nicht die Charakterisierung der beschriebenen Gefährdungsanlage nach Arbeits- und Umgebungseinflüssen etc., bezogen auf die Grundgefährdung und Arbeitsschwere eines Arbeitsbereiches oder Arbeitsmittels → viele GBUs beginnen direkt mit dem Maßnahmenblatt.
Die GBU basiert oft auf Grundbetrachtungen aus der Risikoanalyse für das auf dem Markt Bereitstellen von Produkten (Erlangung der CE-Konformität nach MRL). Wichtiger ist aber die Berücksichtigung der „betriebsspezifischen“ Gefährdungen.
Und das Wichtigste?
Je komplexer eine GBU, desto geringer ist die Bereitschaft der Führungskräfte, die GBU zu erstellen oder sich mit ihr zu beschäftigen. Das gilt insbesondere dann, wenn EDV-Plattformen beziehungsweise Software-Systeme gewählt werden, die eine komplexe Struktur haben und nicht intuitiv bedient werden können.
Praxisanspruch an eine Gefährdungsbeurteilung
Welche Voraussetzungen sollten erfüllt sein, damit eine GBU auch „gelebt“ wird beziehungsweise welche Minimalanforderungen sind notwendig?
- Übersichtlichkeit: Günstig ist eine Darstellung in Tabellenform (z.B. Excel-Form).
- Rechtsbezug: Die Nennung der Rechtsgrundlage für jeden Gefährdungstatbestand ist kaum praktikabel. In der Regel ist der Gefährdungstatbestand selbsterklärend.
- Systematik: Als „Ordnungskriterium“ in GBUen bieten sich die Gefährdungsartenkataloge der DGUV bzw. der einzelnen Branchen-Unfallversicherungsträger an. Sie sollten auf jeden Fall für die „Grunderfassung“ einer objekt-/prozess-orientierten GBU angewendet werden. Die Anwendung der Gefährdungs-Kataloge ist aber keine Pflicht.
- Prozessorientierung: Die „Prägung“ einer GBU zum Beispiel nach Objekt- oder Prozessorientierung ist in der Praxis mit komplexen Infrastrukturen, Arbeitsabläufen und Schnittstellenbetrachtungen kaum möglich. In der Regel wird der Gefährdungstatbestand so dokumentiert wie er sich darstellt. Es ist immer ein Mix aus Tätigkeit, Gefährdungsart, Arbeitsablauf und Arbeitsstätte.
- Objektbezug: Viele GBUen definieren sich über das Maßnahmenblatt. Es gibt oft keine Aussagen über die Struktur des analysierten Objektes/Arbeitsstätte/Standort etc. Nach Arbeitsschutzgesetz § 5 sind aber mindestens die Tätigkeit, Arbeitsplatzgestaltung, Arbeitsumfeld, Arbeitsmittel und Einflüsse aus der Arbeitsumgebung zu definieren. Das ist auch wichtig für zum Beispiel zukünftige BK-Ermittlungen.
- Risiko definieren: Risikodefinition ist gut, muss aber nicht sein. Im einfachsten Fall ist ein Risiko gering, mittel, hoch. Komplexere Definitionen ergeben sich nach Risikoprioritätsverfahren und ‑kennzahlen [9, 10]. Dabei bleibt die Risikoabschätzung nach
allen Verfahren immer subjektiv in Abhängigkeit vom Erfahrungshorizont und „Blickwinkel“ des Beurteilers. - Wirksamkeitskontrolle: Die Wirksamkeitskontrolle (welche oft fehlt) ist ein wesentliches Element der GBU. Günstig ist, vorher eine (quantifizierte) Risikoabschätzung erstellt zu haben, die den „Erfolg“ vorher/nachher sichtbar macht. Zumindest muss die Maßnahmenumsetzung vom Verantwortlichen attestiert werden.
Im zweiten Teil dieses Beitrags geht es um neue Themen für Gefährdungsbeurteilungen sowie um den EDV-Einsatz rund um Gefährdungsbeurteilungen.
Autor: Dr.-Ing. Klaus Büdicker
Beratender Ingenieur für Betriebssicherheit, Umweltschutz und Führungskräfteentwicklung, Maßbach