Wie steht es um Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit in Deutschland? Gehört Deutschland tatsächlich europaweit zu den Schlusslichtern, wie kürzlich behauptet wurde?
Hintergrund dieser Einschätzung war der isolierte Blick auf eine Zahl: 2017 hatten 451 Menschen einen tödlichen Arbeitsunfall, das waren 27 – also gut sechs Prozent – mehr als im Jahr zuvor. Zunächst muss deutlich betont werden: Jeder Mensch, der sein Leben aufgrund eines Arbeitsunfalls verliert, ist einer zu viel. Und genau aus diesem Grund verfolgt die gesetzliche Unfallversicherung bereits seit Jahren die Strategie der Vision Zero, mit der sie sich für eine Welt ohne Arbeitsunfälle und arbeitsbedingte Erkrankungen einsetzt. Höchste Priorität hat dabei die Vermeidung tödlicher und schwerer Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Das haben die Vertreterinnen und Vertreter von Arbeitgeber und Versicherten im November 2018 mit ihrer Position der gesetzlichen Unfallversicherung zur Prävention bekräftigt.
Um ihre Kräfte noch mehr zu fokussieren, hat die gesetzliche Unfallversicherung jüngst auch Unfallschwerpunkte untersucht: Wenige Unfallgruppen sind für fast die Hälfte der schweren Arbeitsunfälle verantwortlich. Das sind Unfälle im Straßenverkehr und durch Fahrzeuge auf dem Betriebsgelände, Absturzunfälle, Unfälle durch Krane und pendelnde Lasten sowie Maschinenunfälle.
Die Vision Zero ist zwar längst nicht erreicht, aber gerade bei den Unfallzahlen zeigt sich langfristig eine gute Entwicklung. Betrachtet man nicht nur das Jahr 2017, sondern nimmt eine längere Zeitspanne in den Blick, ergibt sich folgendes Bild: In den letzten beiden Jahrzehnten sind die tödlichen Arbeits- und Wegeunfälle um insgesamt 63 Prozent zurückgegangen, die tödlichen Arbeitsunfälle alleine um knapp 60 Prozent. Diese Zahlen widersprechen der Schlusslicht-Behauptung deutlich. Übrigens auch international: Ein eindeutiges Bild zeichnet eine weltweite Recherche des Arbeitsministeriums von Singapur, das sich in kurzer Zeit zum Arbeitsschutz-Primus Asiens entwickelt hat. Demnach ist Deutschland eines von nur vier Ländern der Welt, die nachhaltig über mehrere Jahre das Niveau von einem tödlichen Arbeitsunfall pro 100.000 Beschäftigte erreicht haben. Gerade im internationalen Vergleich kann sich unser Land im Arbeitsschutz sehen lassen.
Es besteht jedoch auch kein Grund, sich auf diesen Erfolgen auszuruhen. Deshalb arbeiten staatliche Aufsicht und gesetzliche Unfallversicherung auch Hand in Hand dafür, dass die Zahl der schweren und tödlichen Arbeitsunfälle weiter sinkt. Zentrale Instrumente der Prävention sind die Überwachung und Beratung der Betriebe und Bildungseinrichtungen durch Aufsichtspersonen. Allein auf Seiten der Berufsgenossenschaften und Unfallkassen gehen jeden Tag über 2500 Präventionsfachleute in die Betriebe. 2017 führten sie etwa 464.000 Betriebsbesichtigungen durch. Mehr als 630.000 Mal baten Unternehmen ihrerseits um Beratungen.
Die gesetzliche Unfallversicherung hat jedoch noch viel mehr Leistungen in ihrem Portfolio, denn ihr gesetzlicher Auftrag lautet ja: Prävention von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren „mit allen geeigneten Mitteln“. Sie ermittelt zum Beispiel regelmäßig Ursachen von Unfällen und Berufskrankheiten, um potenzielle Gefahrstellen zu erkennen und ihre Prävention daran auszurichten. Sie forscht zu Fragen von Sicherheit und Gesundheit, die sich aus der Beratung in den Betrieben ergeben. Auch werden Messungen direkt an Arbeitsplätzen durchgeführt, um Expositionen festzustellen. Die Unfallversicherung publiziert eine Vielzahl von Handreichungen und Informationen für die Betriebe. Sie beobachtet technologische und gesellschaftliche Trends, um rechtzeitig auf neue Entwicklungen reagieren zu können. Das kann ebenso den Einsatz von Robotern betreffen wie psychische Belastungen durch Arbeitsverdichtung. Ziel ist immer, rechtzeitig gegensteuern zu können, bevor Menschen Schaden nehmen. Einen großen Beitrag zum Gesamterfolg leisten auch die Trainings von jährlich fast 400.000 Fach- und Führungskräften aus den Betrieben.
Immer wichtiger wird auch die Zusammenarbeit mit anderen Trägern der sozialen Sicherheit. Da ist zuerst die seit 2008 bestehende Kooperation mit Bund und Ländern in der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) zu nennen. 2015 hat das Präventionsgesetz dann noch mehr Protagonisten an einen gemeinsamen Tisch gebracht, um Sicherheit und Gesundheit in allen Lebensbereichen zu verbessern und eine hohe Beschäftigungsfähigkeit sicherzustellen. Die Arbeit der Berufsgenossenschaften und Unfallkassen leistet dabei einen wichtigen Beitrag.
Eines sollten wir aber nicht vergessen: Trotz all dieser Bemühungen gibt es immer noch Betriebe, in denen in Sachen Sicherheit einiges im Argen liegt. Das führt immer wieder auch zu schweren Unfällen und Berufserkrankungen. In diesen Fällen ist das konsequente Einfordern gesetzlicher Mindeststandards das richtige Mittel – notfalls auch mit Sanktionen. Klar ist aber auch: Kontrolle kann nicht alles sein. Weitere Fortschritte bedürfen nicht nur ausreichender Ressourcen für die Überwachung und Beratung, die letztlich zwei Seiten derselben Medaille sind. Sie hängen auch maßgeblich vom politischen und gesellschaftlichen Willen ab, dem Thema einen Vorrang einzuräumen.
Genau dieses Ziel verfolgt die gesetzliche Unfallversicherung mit ihrer neuen Präventionskampagne kommmitmensch. Mit der Kampagne setzt sie sich für die Etablierung einer Kultur der Prävention in den Unternehmen ein. Damit ist ein ganzheitlicher Zugang zu Sicherheit und Gesundheit gemeint. Denn wie die zukünftige Arbeitswelt aussehen wird, hängt sehr stark davon ab, wie wertvoll der Gesellschaft und jedem einzelnen Menschen die Ressourcen Sicherheit und Gesundheit sind.
Autor: Prof. Dr. Joachim Breuer
Hauptgeschäftsführer der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV)