Frau Thürmer, haben Sie die aktuellen Corona-Einschränkungen ausgebremst oder sind Sie weiterhin unterwegs?
Ich war sowohl im letzten als auch in diesem Jahr unterwegs. Irgendein Land ist immer offen, man muss halt flexibel sein. 2020 habe ich es nach Italien geschafft – ganz knapp vor dem dortigen Lockdown. In diesem Jahr wollte ich zunächst nach Finnland. An der litauischen Grenze habe ich aufgrund der Quarantäneauflagen umgedreht und bin stattdessen in Griechenland gelandet. Jetzt hole ich gerade das Baltikum nach.
Haben Sie keine Sorge, sich mit dem Corona-Virus zu infizieren?
Sie müssen sich das so vorstellen: Ich bin mindestens sechs Tage unterwegs und am siebten Tag ruhe ich – genau wie in der Bibel. Manchmal sind es auch fünf Tage, manchmal acht. Das heißt, den Großteil meiner Zeit verbringe ich ohne Kontakt zu Leuten. Und wenn ich einmal in der Zivilisation bin, so wie jetzt in Riga, strecke ich völlig platt im abgedunkelten Hotelzimmer alle Viere von mir. Und gehe höchstens einmal in den Supermarkt einkaufen. Es ist also relativ unwahrscheinlich, dass ich mich mit Corona infiziere, und inzwischen bin ich ja auch dagegen geimpft.
Generell zum Thema Gefahren und Sicherheit: Man muss ganz klar unterscheiden zwischen angenommenen und tatsächlichen Gefahren. Das klafft beim Wandern total auseinander. Die Leute sehen die Gefahren da, wo sie gar nicht sind. Sie unterschätzen zudem die wirklichen Gefahren und bereiten sich völlig falsch vor. Dadurch steigt die Zahl der Unfälle beim Wandern, obwohl es eigentlich mehr Sicherheit gibt als früher.
Welche Gefahren werden denn überschätzt?
Eine typische Frage, die mir immer wieder gestellt wird, lautet: Hast du denn keine Angst als Frau so allein im Wald? Ich frage dann zurück: „Was denkst du: Lauern Bösewichte in der Nacht irgendwo im Wald bei Wind und Wetter darauf, dass endlich mal eine Christine Thürmer vorbeigewandert kommt und dort ihr Zelt aufschlägt?“ Das passiert einfach nicht. Auch in der Polizeistatistik taucht der Tatort Wald nicht auf; diese Angst entbehrt also jeder Grundlage.
Wenn ich allein im Wald zelte, meistens in einer Fichtenschonung mit dicht stehenden Bäumen, werde ich nie entdeckt. Von Hunden schon mal, die Gassi geführt werden, aber nicht von ihren Herrchen. Es ist skurril: Die Hunde bellen nicht einmal. Die umwedeln mein Zelt, denken, das ist ja interessant, aber nicht mein Territorium, und rennen wieder weg. Auch Wildscheine greifen nichts an, was im Zelt liegt. Die sind nur nervig und machen eine Menge Krach. Außerdem sind sie furchtbar kurzsichtig. Eins ist mal über meine Zeltschnüre gestolpert, das war schon ein Riesenschreck. Was mir wirklich gefährlich werden könnte – nicht gerade in Europa, aber in den USA – sind Bären. Wobei die in der Regel auch scheu sind und Wanderer nicht auf ihrem Speiseplan stehen. Und im schlimmsten Fall kann man von einer Klapperschlange gebissen werden. Aber auch das wird überbewertet. Da hilft auch wieder ein Blick in die Statistik.
Eine tatsächliche Gefahr sind hingegen herabfallende Äste oder umstürzende Bäume. Der Fachbegriff dafür im Hiker-Slang ist widowmaker – Witwenmacher. Davor habe ich relativ viel Angst, vor allem weil die Wälder durch die letzten Dürrejahre in Europa sehr angegriffen sind. Ich mache deshalb immer ein Probeliegen, gucke nach oben und überlege, kann mir etwas auf den Kopf fallen? Und bei den Tieren sind es nicht Wildschweine, Bären oder Schlangen, sondern Zecken. Rund zehn Prozent der Appalachian Trail-Wanderer in den USA erkranken an Borreliose. Das ist eine echte Gefahr, die nicht gesehen wird. Ich selbst habe schon zwei Borreliose-Behandlungen hinter mir. Und es gab Tage, da habe ich dreißig Zecken von mir runtergezogen.
Im Arbeitsleben müssen sogenannte Alleinarbeiter für den Fall, dass ihnen etwas zustößt, besonders abgesichert werden – etwa durch Notrufsysteme. Nutzen Sie etwas Vergleichbares?
Nein, nur einmal und nie wieder. Notrufsysteme für Wanderer richten aus meiner Sicht mehr Schaden an als dass sie nutzen. Denn wer sich in Sicherheit wiegt, glaubt mehr Risiken eingehen zu können – ganz nach dem Motto, ich muss ja nur auf den Alarmknopf drücken, dann kommt einer und rettet mich. Dass erstmal jemand da sein muss zum Retten, dass die Wetterbedingungen dazu passen müssen, dass das Signal überhaupt erstmal durchkommen muss, dass es keinen technischen Defekt geben darf – daran denken die Leute nicht.
Im Zweifelfall nutzen diese Personal Locator Beacons – also PLB – oder Satelliten Messenger gar nichts, wie ich auf meiner Wanderung durch Patagonien gemerkt habe. Dort wären meine Knochen vielleicht nach zwei Monaten von der berittenen Patrouille gefunden worden – wenn denn das Signal durchgegangen wäre. Ich hatte vereinbart, zweimal am Tag eine Art „Ich lebe noch Nachricht“ abzusetzen, was sich im dichten Valdivianischen Regenwald als sehr schwierig erwies. Ich musste teilweise Stunden laufen, um eine Lichtung zu finden, auf der das Ding Verbindung zum Satelliten aufbauen konnte.
Also wenn ich hierzulande in den Bergen einen Unfall habe, möglichst auf dem Gipfel, dann klappt das mit der Bergrettung natürlich. Unter anderen Voraussetzungen ist es aber nicht so einfach. Im Grunde reicht es schon, in eine Spalte zu stürzen. Aber das machen sich die Leute einfach nicht klar.
Woran kann man noch scheitern auf der Langstrecke?
Langstreckenwandern machen Sie nicht über Geschwindigkeit, sondern über Ausdauer. Viele Leute lassen sich dennoch von diesem höher, schneller, weiter, lenken. In einschlägigen Outdoor-Foren wird ständig darüber diskutiert, wie man verletzungsfrei wandern kann. Trotzdem brüsten sich alle damit, dass sie die Zeiten aus dem Wanderführer unterbieten. Das steckt so in den Leuten drin. Gerade Männer unter 30 sind hier stark gefährdet. Die sind topfit, strotzen vor Kraft und können wirklich schneller laufen als ich. Sie haben aber eine vielfach höhere Abbruchquote auf der Langstrecke, weil sie sich konstant überlasten.
Ich selbst orientiere mich möglichst nah an meinen genetischen Grundlagen. Für was ist denn unser Körper ausgelegt? Ganz klar für Bewegung, aber unsere Vorfahren, die Jäger und Sammler, haben ihre Kräfte eingeteilt. Nur manchmal musste es schneller gehen, um das Mammut zu erlegen. So mache ich es auch. Ich laufe in der Regel relativ gemütlich vor mich hin, immer so meine 30 bis 35 Kilometer, und bewahre mir damit Kraft für den Notfall.
Ich bin generell nicht der Typ spartanische Athletin, sondern eher der Typ gemütliche Hausfrau. Aus diesem Grund stelle ich dieses „meistgewanderte Frau der Welt“ auch so heraus: Ich möchte damit insbesondere Frauen aus meiner Generation Mut machen. Die denken nämlich allzu oft, wenn man nicht durchtrainiert ist und wie ein Sportmodel aussieht, hat man keine Chance. Hier möchte ich ein klares Statement setzen nach der Art: Hey, schaut mich an: Plattfüße, X‑Beine, Übergewicht – und trotzdem bin ich die meistgewanderte Frau der Welt.
Ich bin auch keine Abenteurerin, wie man mich gerne tituliert. Ich bewege mich fast ausschließlich auf regulären Wanderwegen, meide Klettersteige oder steile Aufstiege. Mich zieht es auch nicht in gefährliche Gegenden – sowas wie Chile war schon das Höchste der Gefühle. Also ich suche alles, aber kein Abenteuer, denn das kommt so oder so. Ich kann ja nicht alles zu hundert Prozent planen, egal wie akribisch ich vorgehe. Das heißt, es wird immer zu irgendeiner bösen Überraschung in Form von Wetter, Verlaufen oder anderem kommen. Es ist nicht die Frage ob, es ist nur die Frage wann und wie oft. Und deshalb versuche ich von vornherein, Risiken zu vermeiden.
Sie haben Ihre Ausrüstung auf ultraleicht optimiert. Mehr als fünf Kilo tragen Sie nicht mit sich herum. Was ist dennoch unverzichtbar?
Der große Luxus unterwegs ist nicht das, was ich dabeihabe, sondern das, was ich nicht tragen muss. Ganz wichtiger Satz. Auch die Verletzungsgefahr steigt, je mehr ich mit mir herumtrage: Mit mehr Gewicht auf den Schultern stürze ich häufiger und überanstrenge mich deutlich mehr. Deshalb habe ich im Prinzip nur vier Sachen dabei. Wetterschutz, Wärme, Proviant und Wasser. Es gibt genau zwei Klamotten-Sets, eins zum Wandern und eins zum Schlafen. Die Schlafkleidung trage ich nie am Tag, denn wenn die nass würde, müsste ich nachts frieren. Deshalb halte ich das streng getrennt.
Ich spare also an allem, trenne sogar die Etiketten aus der Kleidung und kürze die Zahnbürste. Aber es gibt eine Sache, bei der darf man nicht sparen: Man muss immer zwei voneinander unabhängige Navigationssysteme dabeihaben. Die Betonung liegt auf voneinander unabhängig. Es gibt Spezis, die rennen mit Handy und GPS durch die Gegend und laden beides über eine Powerbank. Was, wenn die Powerbank die Grätsche macht? Andere denken, mit den guten alten Faltkarten kann nichts schiefgehen. Ich habe Leute getroffen, denen die Karten aus der Hosentasche gerutscht sind.
Mir selbst ist auch schon alles passiert: GPS kaputt gegangen, bei Flussüberquerungen das Handy in der Hosentasche vergessen, Kabelbruch, Kabel verloren, Powerbank macht schlapp. Deshalb habe ich immer zwei voneinander unabhängige Systeme bei mir: erstens das GPS-Gerät, das um meinen Hals hängt. Da gucke ich immer drauf. Und als Backup ein Smartphone. Das GPS-Gerät läuft mit Batterien, weil ich ja stromunabhängig sein will; das Smartphone lade ich über die Powerbank. Und wenn ich nochmal in die Wildnis gehe, würde ich mich sogar dreifach absichern. In der Zivilisation in Europa reicht zweifach. Aber das muss wirklich sein.
Steckbrief
- geboren 1967 in Forchheim
- meistgewanderte Frau der Welt
- beschreibt sich selbst als unsportlich
- machte nach dem Studium zunächst Karriere als Managerin
- verfasste die Bestseller „Laufen. Essen. Schlafen.“ (2016) und „Weite Wege Wandern“ (2020) mit persönlichen Tipps jenseits klassischer Wanderführer
- hält vergnügliche Vorträge, die auch Nicht-Wanderer ansprechen