Der direkte Weg zur Arbeit muss nicht unbedingt der kürzeste sein: Wählt die versicherte Person eine längere Strecke, beispielsweise um eine Autobahn zu benutzen oder einen Stau zu umfahren, ist das ebenso als unmittelbarer Weg zu werten. Wird der Weg aus privaten Gründen unterbrochen, zum Beispiel um einzukaufen, endet jedoch der Versicherungsschutz.
Nach dem Einkaufen verunglückt
So auch in zwei Fällen, die kürzlich das Bundessozialgericht (BSG) zu entscheiden hatte. Im einen Fall (Urteil vom 31.08.2017, Az. B 2 U 1/16 R) hatte der Kläger sein Auto auf dem Arbeitsweg angehalten, um auf der anderen Straßenseite bei einem Bäcker „Semmeln für eine Brotzeit“ zu kaufen. Als er die Straße überquerte, sah er eine lange Schlange vor dem Laden und kehrte um. Auf dem Weg zurück zu seinem Auto stürzte er und verletzte sich an der Schulter. Im zweiten Fall (Urteil vom 31.08.2017, Az. B 2 U 11/16 R) fuhr die Klägerin von der Arbeitsstelle nach Hause. Während der Fahrt hielt sie an einer Metzgerei an und kaufte dort eine Mahlzeit ein. Sie legte die gekaufte Ware auf der Beifahrerseite ihres Autos ab und stürzte auf dem Weg zur Fahrertür. Sie erlitt Brüche der rechten Hand sowie des rechten Oberschenkels und Prellungen.
Keine Anerkennung als Wegeunfälle
Bei beiden Unfällen habe es sich nicht um versicherte Wegeunfälle gehandelt, entschied das BSG. Der durch private Einkäufe unterbrochene Versicherungsschutz lebt nämlich erst wieder auf, wenn der Arbeitnehmer wieder im Auto sitzt und seinen ursprünglichen Arbeitsweg fortsetzt. Doch selbst dann kann der Versicherungsschutz erloschen sein: Von ebenfalls entscheidender Bedeutung ist, wie lange die Unterbrechung gedauert hat. Aus Gründen der Rechtssicherheit hat das BSG hierfür eine zeitliche Grenze von zwei Stunden festgelegt. Überschreitet man diese Zeitgrenze, erlischt der Versicherungsschutz endgültig. Wird der Heimweg nach Arbeitsende aus privaten Gründen hinausgeschoben, so zum Beispiel, weil man sich noch mit Kollegen unterhält, gilt das auch als zeitliche Unterbrechung des Weges.
Außentür als Grenze
Der Weg zur Arbeit beginnt mit dem Verlassen des sogenannten häuslichen Wirkungskreises, also mit Durchschreiten der Außentür. Wege in einem vom Versicherten bewohnten Haus stehen nicht unter Versicherungsschutz. Auch für Treppenhäuser in Mehrfamilienhäusern gilt daher: kein Versicherungsschutz – weil es kein öffentlicher Raum ist. Eine Außentür ist übrigens nicht nur die Haustür, durch die gewöhnlich das Wohngebäude verlassen oder betreten wird, sondern jede Tür, durch die man hinausgehen kann. So sind auch Garagen noch Teil des häuslichen Bereiches, wenn sie direkt vom Haus aus betreten werden können. Das Garagentor ist in diesem Fall die Außentür, mit deren Durchschreiten oder Durchfahren der Versicherungsschutz beginnt. Kann die Garage nur von außen betreten werden, ist der Weg zwischen Haustür und Garage versichert.
Fenster gilt als Notlösung
Doch gilt der Versicherungsschutz auch, wenn der Arbeitnehmer nicht durch die Haustür geht, sondern durch ein Fenster klettert? Ja, entschied das BSG (Urteil vom 31.08.2017, Az. B 2 U 2/16 R). Geklagt hatte ein Fahrzeuglackierer, der zu einem wichtigen Geschäftstermin wollte, als ihm ein Missgeschick passierte. Als er die verriegelte Wohnungstür von innen aufschließen wollte, brach ihm der Haustürschlüssel ab. Der Weg durch diese Tür war versperrt, sodass er die Hausaußentür über das Treppenhaus nicht erreichen konnte. Um den Geschäftstermin dennoch wahrnehmen zu können, wählte er einen ungewöhnlichen Weg: Er kletterte durch ein Fenster, um sich auf das Flachdach vor der Obergeschosswohnung herabzulassen. Er stürzte jedoch ab und fiel auf das Vordach. Dabei brach er sich den rechten Unterschenkel.
Die Berufsgenossenschaft lehnte die Anerkennung als Arbeitsunfall ab. Der Mann habe sich noch nicht im öffentlichen Raum befunden, so die Begründung. Doch darauf komme es nicht an, betonte nun das BSG. Entscheidend sei, ob sich der Versicherte „auf einem unmittelbaren Weg zu seiner Betriebsstätte“ befinde. Das sei hier der Fall gewesen. Das Urteil sei aber „kein Freibrief für Kletterer“, betonte das Gericht. Der Weg durchs Fenster könne nur dann versichert sein, wenn der normale Weg durch Wohnungstür und Treppenhaus versperrt sei. Außerdem müsse der Weg durchs Fenster „objektiv geeignet“, also unfallfrei zu bewerkstelligen sein.