§ 15 Abs. 1 Satz 3 DGUV Vorschrift 1 sagt in aller Deutlichkeit: „Versicherte haben die entsprechenden Anweisungen des Unternehmers zu befolgen“. Wer Weisungen befolgen muss, hat keine Befugnis, von diesen „Befehlen“ abzuweichen – und man kann im Sinne des Grundsatzes „Keine Verantwortung ohne Befugnis“ (siehe Folge 5) für das Folgeleisten auch grundsätzlich nicht haften, wenn diese Befolgung der Anweisung zu einem Unfall und Schaden führt. Leitung ist Fremdentscheidung, die in Anordnungen umgesetzt wird1. Die Folgepflicht „entlastet den Angestellten von der Verantwortung für Anordnungen“2, denn Weisungsbefugnis ist „Fremdentscheidungsbefugnis“3. So ist die „Verantwortung an eine höhere Stelle in der Hierarchie verlagert“4. Ist einem Mitarbeiter „eine Aufgabe lediglich zur Ausführung übertragen und hat er nicht zu entscheiden, dann obliegt ihm nur die Ausführung“5.
Gerichtsurteile: Bei Weisung „ohne Einfluss“ und in „Zwangslage“
Zwei Beispiele aus der Rechtsprechung:
- Nachdem ein Maler in einem Umspannwerk in Stolberg von einer Leiter fiel und einen Stromschlag an einem nicht freigeschalteten Verteilerkasten erlitt, sprach das Amtsgericht Eschweiler einen Elektromonteur vom Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung frei, „da er den Weisungen des Netzbetriebsmeisters unterworfen war“ und daher „keine Einflussmöglichkeit auf das Geschehen“ hatte6.
- Nachdem ein Auszubildender beim Bau des Kaufhofs in Halle auf Weisung des Ausbilders bei laufendem Betrieb in eine Bohrschnecke griff, äußerte das OLG Naumburg7 nach seinem schweren Unfall nachsichtig: „Die Übernahme gefährlicher Arbeiten begründet kein Mitverschulden, wenn der Arbeitnehmer damit einer Anordnung des Weisungsbefugten entspricht. Der Arbeitnehmer handelt dann nicht autonom, sondern unter dem Eindruck einer tatsächlichen Zwangslage“.
Man kann also pointiert sagen: Die Gehorsamspflicht ist im Grundsatz stärker als das Haftungsrecht. Obwohl auch das Bundesverfassungsgericht von „Gehorsamspflicht“8 spricht, wird der Begriff allerdings als „wenig glücklich“ bezeichnet9, denn es habe ein gesellschaftlicher Wertewandel stattgefunden und „bürokratisch-hierarchische Herrschaft ist einer Erosion ausgesetzt“10.
Die Reichweite der Gehorsamspflicht wird auch überschätzt, denn:
Die Grenzen der Gehorsamspflicht
Selbst im militärischen Bereich „hat die historische Überlieferung ‚Befehl ist Befehl‘ heute deutlich abgesteckte Grenzen“11. Diese Grenzen gehen weiter als nur eine „Freiheit des Gewissens“ zu propagieren12, sie sind vielmehr „harte“ haftungsauslösende Grenzen.
Drei Punkte müssen betont werden:
- Erstens: Selbst im Einzelnen angewiesene Ausführungsstellen haben Entscheidungsspielräume – sie „betreffen ausschließlich den eigenen Handlungsbereich im Sinne einer Selbstentscheidung“13. Aber diese Verantwortung für das eigene Tun (siehe Folge 2) reicht weit und beinhaltet die Verantwortung für die „Art und Weise der Aufgabendurchführung“14. Das betont etwa § 15 Abs. 1 Satz 1 DGUV Vorschrift 1. Es besteht eine „Verpflichtung zu Fremdvorsorge“15 und „grundsätzlich muss jeder Handwerker ohne Rücksicht auf etwaige Anweisungen des Auftraggebers seine Aufgaben so erfüllen, dass weder aus der Ausführungstätigkeit noch aus dem hergestellten Werk Gefahren für Dritte entstehen“16.
- Zweitens: Wenn größere Entscheidungsspielräume übertragen werden (das nennt man Delegation), dann ist auch nicht im Einzelnen „angewiesen“ bzw. „bestimmt“, es besteht insoweit auch keine konkrete „Befolgungspflicht“ und der Mitarbeiter muss selbst entscheiden und die Verantwortung für die innerhalb dieses weiten Rahmens getroffenen Entscheidungen übernehmen. Das verdeutlicht das erwähnte Urteil zum „Stromschlag im Umspannwerk“. Dort betont das OLG Köln, der Betriebsmeister „kann sich nicht mit dem Hinweis entlasten, er habe lediglich Anweisungen seines Vorgesetzten ausgeführt. Präzise, den konkreten Fall betreffende Anweisungen, denen er unbedingt folgen musste, hat er nicht vorgetragen“. Er „behauptet nicht, er sei angewiesen gewesen, den Mittelspannungsverteiler während der Dauer der Malerarbeiten nicht freizuschalten, sondern lediglich, es habe keine Anweisung bestanden, sie in der Regel bei solchen Anlässen auszuschalten. Letztlich oblag ihm also die Entscheidung, ob im Einzelfall freizuschalten war oder welche Sicherheitsvorkehrungen sonst zu treffen waren“ (der Betriebsmeister ist schließlich doppelt verurteilt worden: sowohl strafrechtlich wegen fahrlässiger Körperverletzung als auch zivilrechtlich zur Erstattung der Sozialversicherungsaufwendungen auf die Regressklage der Berufsgenossenschaft).
- Drittens ahnen wir es – und es ist richtig und wichtig zu betonen: „Befehl ist Befehl“ kann nicht grenzenlos sein, sondern muss eingeschränkt werden. Das bringt auch § 15 Abs. 1 Satz 4 DGUV Vorschrift 1 zum Ausdruck und wird ausführlich in der nächsten Folge besprochen. Aber hier schon einmal eine Überlegung zum Bohrschnecken-Fall: fünf Tage vor dem schlimmen Arbeitsunfall des Auszubildenden war der Ausbilder selber beim Säubern der Bohrmaschine mit einem Pulloverärmel an der rotierenden Bohrschnecke hängen geblieben. Er zog sich aber nur blaue Flecken und Kratzer zu, weil der Auszubildende rechtzeitig den Notausschalter betätigte. Kann und muss dieser Beinaheunfall nicht Anlass für den Auszubildenden sein, den Befehl zu verweigern?
Fußnoten:
1 Manfred Schulte-Zurhausen, Organisation, 5. Aufl. 2010, 3. Teil 2.3.1, S.173.
2 Uttlinger/Breier/Kiefer/Hoffmann/Pühler, BAT-Kommentar, 199. Lieferung 2009, § 8 Erläuterung 5, S. 37 zum ähnlichen § 8 Abs. 2 Bundesangestelltentarifvertrag (BAT) a. F.
3 Vahs/Schäfer-Kunz, Einführung in die Betriebswirtschaftslehre, 5. Aufl., 2007, 8.5.2.1.1.1, S. 318; Vahs, Organisation – Einführung in die Organisationstheorie und ‑praxis, 5. Aufl. 2005, 4.2, S. 62.
4 Philip Kunig, Das Recht des Öffentlichen Dienstes, in: Schmidt-Aßmann/Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2008, Kap. 6, Rn. 130.
5 Ekkehard Crisand, Prinzipien der Führungsorganisation, 1998, 5.5, S. 49.
6 Urteilsbesprechung in Wilrich, Arbeitsschutz-Strafrecht, 2020, Fall 29, S. 307 ff
7 Urteilsbesprechung in Wilrich, Praxisleitfaden BetrSichV, 2. Aufl. 2020, Fall 8, S. 345 ff.
8 BVerfG, Beschluss v. 07.11.1994 (Az. 2 BvR 1117/94).
9 So Ulrich Battis, Bundesbeamtengesetz, 4. Aufl. 2009, § 62 Rn. 3.
10 Georg Schreyögg, Grundlagen der Organisation – Basiswissen für Studium und Praxis, 2012, 3.2, S. 45.
11 Dau, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 236. Lieferung Mai 2021, § 5 Wehrstrafgesetzbuch Rn. 3.
12 Vgl. BVerwG, Urteil v. 21.06.2005 (Az. 2 WD 12/04) = NJW 2006, Seite 77, 90.
13 Schulte-Zurhausen, Organisation, 5. Aufl. 2010, 3. Teil 2.3.1, S. 173.
14 Schulte-Zurhausen, Organisation, 5. Aufl. 2010, 3. Teil 2.1, S. 166.
15 DGUV Regel 100–001 Nr. 3.1.1.
16 OLG Zweibrücken, Urteil v. 16.09.1976 (Az. 6 U 31/76).
DGUV Vorschrift 1 „Grundsätze der Prävention“
§ 15 Allgemeine Unterstützungspflichten und Verhalten
(1) Die Versicherten sind verpflichtet, nach ihren Möglichkeiten sowie gemäß der Unterweisung und Weisung des Unternehmers für ihre Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit sowie für Sicherheit und Gesundheitsschutz derjenigen zu sorgen, die von ihren Handlungen oder Unterlassungen betroffen sind. Die Versicherten haben die Maßnahmen zur Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren sowie für eine wirksame Erste Hilfe zu unterstützen. Versicherte haben die entsprechenden Anweisungen des Unternehmers zu befolgen. Die Versicherten dürfen erkennbar gegen Sicherheit und Gesundheit gerichtete Weisungen nicht befolgen.
Weitere Teile der Rechtsserie:
Verantwortung für Tun: Handlungsverantwortung ist die Basis des Arbeitsschutzes
Keine Verantwortung ohne Befugnisse – keine Befugnis ohne Verantwortung
Der Mensch steht im Mittelpunkt – und der Mensch ist Mittel. Punkt
Es entscheiden und es gehorchen Menschen: Befehl ist Befehl!
Wann ist Vertrauen gut, wann sind Achtsamkeit und Zweifel besser?
Arbeitgeber und Unternehmen sind primär verantwortlich – aber nur „mystische Kunstschöpfungen“
Befehlsverweigerung bei Erkennbarkeit der Sicherheitswidrigkeit
Autor:
Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Wilrich
Hochschule München, Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen, Professor für Wirtschafts‑, Arbeits‑, Technik‑, Unternehmensorganisationsrecht
und Recht für Ingenieure