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Problemfall Evakuierung: Der menschliche Faktor

Mythen der Entfluchtung
Problemfall Evakuierung: Der menschliche Faktor

Problemfall Evakuierung: Der menschliche Faktor
Foto: © Christian Müller – Fotolia.com
Im Not­fall müssen Gebäude oder Betrieb­s­gelände schnell geräumt wer­den. Trotz aus­ge­feil­ter Pla­nung aber ist der Erfolg von Evakuierun­gen schw­er berechen­bar, weil das Ver­hal­ten von Men­schen in Extrem­si­t­u­a­tio­nen sich nicht sich­er vorherse­hen lässt. An der Uni­ver­sität Jena unter­suchen Psy­cholo­gen typ­is­che Ver­hal­tens­muster und ihre Hin­ter­gründe. Dabei sind sie auf „Mythen der Ent­fluchtung“ gestoßen, die die Wirk­samkeit von Sicher­heit­skonzepten beein­trächti­gen. Wir haben Dr. Gesine Hofin­ger gefragt, wovon es abhängt, ob, wann und wie schnell Men­schen nach einem Alarm ihren Aufen­thalt­sort ver­lassen. Das Inter­view für Sicher­heitsin­ge­nieur führte Sabine Kurz.

Frau Dr. Hofin­ger, warum kommt es auch bei vorschrifts­gemäßer Alarmierung und aus­re­ichend dimen­sion­ierten Fluchtwe­gen zu Verzögerun­gen bei der Räu­mung von Gebäu­den, etwa bei einem Brand?
Sehr häu­fig liegt das daran, dass men­schlich­es Ver­hal­ten und men­schliche Eigen­schaften bei der Evakuierungs­pla­nung zu wenig berück­sichtigt wer­den. So gehen viele Plan­er bei der Dimen­sion­ierung von Fluchtwe­gen davon aus, dass die anwe­senden Per­so­n­en sich bei einem Alarm gle­ich­mäßig auf die Fluchtwege verteilen. Das ist aber nicht der Fall. Men­schen tendieren dazu, einen Raum durch die Tür zu ver­lassen, durch die sie ihn betreten haben. Deshalb kommt es häu­fig zu Stau­un­gen an einem Aus­gang. Bei der Pla­nung möglich­er Per­so­n­en­ströme ori­en­tiert man sich an Raum­bre­it­en und an den Schul­ter­bre­it­en von Durch­schnittsmän­nern, nicht aber daran, dass Men­schen in der Regel nicht gerne direkt an Wän­den gehen und engen Kör­perkon­takt zu anderen mei­den. So kommt es, dass im Ern­st­fall oft weniger Per­so­n­en einen Fluchtweg passieren, als dies möglich wäre.
Welche anderen psy­chol­o­gis­chen und sozialen Fak­toren spie­len in Not­si­t­u­a­tio­nen eine Rolle?
Unter Stress tendieren Men­schen dazu, sich an dem, was ihnen bekan­nt ist, zu ori­en­tieren, deshalb nutzen sie z.B. spon­tan nicht die vorge­se­henen Notaus­gänge, auch wenn diese näher liegen als etwa eine Ein­gangstür. Als psy­chol­o­gis­che Bar­riere wirkt dabei auch, dass Notaus­gänge alar­m­gesichert und für die Nutzung im Not­fall bes­timmt sind, also „ver­boten“. Men­schen ver­lassen Gebäude eher durch die Eingänge, durch die sie hineingekom­men sind. Außer­dem tendieren sie dazu, die Nähe ander­er Men­schen zu suchen und fol­gen ihnen, auch wenn diese einen ungün­sti­gen Weg wählen.
Wie kön­nen Plan­er, aber auch Unternehmer psy­chol­o­gis­che und soziale Fak­toren sin­nvoll in ihr Not­fal­lkonzept einbeziehen?
Quan­tifizieren lassen sich Ein­flüsse wie Per­sön­lichkeit, Gefahren­be­wusst­sein und Grup­pen­zuge­hörigkeit bis­lang nicht hin­re­ichend. Trotz­dem ist eine Sen­si­bil­isierung von Ver­ant­wortlichen für typ­is­che psy­chis­che Mech­a­nis­men sin­nvoll, weil diese sich nicht immer mit unseren All­t­agsüberzeu­gun­gen deck­en. Die amerikanis­chen Evakuierungs­forsch­er Tubbs und Meacham etwa sprechen von einge­fahre­nen „Glaubenssätzen“, die uns ver­meintliche Gewis­sheit­en über zu erwartendes Ver­hal­ten suggerieren.
Kön­nen Sie einige dieser Glaubenssätze bzw. „Mythen der Ent­fluchtung“, wie Sie es nen­nen, beschreiben?
Zunächst ein­mal sollte man sich klar­ma­chen, dass die Ein­hal­tung von Nor­men und Vorschriften allein Sicher­heit nicht garantieren kann. In der Prax­is lassen Men­schen Brand­schutztüren offen, block­ieren Fluchtwege oder rauchen in Gefahren­bere­ichen. Falsch ist auch die Annahme, dass Men­schen bei einem Brand nicht durch Rauch laufen, weil dabei u.a. eine Vergif­tung durch Rauch­gase dro­ht. Auswer­tun­gen haben gezeigt, dass Men­schen die Bedro­hung durch Rauch unter­schätzen und gegen die Ver­nun­ft ver­rauchte Wege wählen, etwa, weil sie ihnen kürz­er erscheinen oder weil sie ver­traut sind.
Warum ver­stre­icht nach einem Alarm so oft kost­bare Zeit, weil die Men­schen nicht oder zu langsam reagieren?
So nahe­liegend es auch wäre, die Erfahrung zeigt, dass Men­schen eben nicht unverzüglich mit ein­er Räu­mung begin­nen, nach­dem ein Alarm abge­set­zt wurde. Unter anderem aus der Forschung von Fitz­patrick und Mileti wis­sen wir, dass Anwe­sende meist mehrere Phasen von Wahrnehmung und Aktivierung durch­leben, die zu Verzögerun­gen bei der Evakuierung führen kön­nen. Der Grund dafür sind indi­vidu­elle Bew­er­tung­sprozesse und Motive.
Welche Phasen der Alarmierung sind typisch?
Zunächst müssen die Men­schen den Alarm hören bzw. durch optis­che Sig­nale wahrnehmen. In laut­en Arbeits­bere­ichen kann es dur­chaus vorkom­men, dass das Alarm­sig­nal im Maschi­nen­lärm unterge­ht. Dann müssen die Betrof­fe­nen ver­ste­hen, dass ein Not­fall einge­treten ist. Zwar gibt es in Deutsch­land die Norm DIN EN 54–4 Feuer­alarmein­rich­tun­gen – akustis­che Alar­mge­ber zur Vere­in­heitlichung von Feuer­alar­men, doch wird sie nicht kon­se­quent ver­wen­det. Deshalb sind so unter­schiedliche akustis­che Alar­mze­ichen im Ein­satz, die von Anwe­senden nicht zwin­gend als so dringlich emp­fun­den wer­den, dass sie eine Gefahr erken­nen. Men­schen han­deln aber erst, wenn sie ein Alarm­sig­nal auf sich beziehen. Das set­zt voraus, dass sie die War­nung als echt iden­ti­fizieren. Ger­ade dort, wo regelmäßig Räu­mungsübun­gen durchge­führt wer­den, unter­stellen die Anwe­senden häu­fig einen „falschen“ Alarm und ver­weigern die Räu­mung. Deshalb ist es wichtig, War­nun­gen so zu gestal­ten, dass Anwe­sende sie als rel­e­vant erken­nen. Auch möcht­en Men­schen meist über aus­re­ichend Infor­ma­tio­nen ver­fü­gen, bevor sie eine Entschei­dung tre­f­fen. Deshalb ist es sin­nvoll, wenn bei ein­er Alarmierung Infor­ma­tio­nen über­mit­telt wer­den, ohne die Per­so­n­en zu ängstigen.
Wie groß ist die Gefahr von Panikreak­tio­nen bei ein­er Räumung?
Dass in Flucht­si­t­u­a­tio­nen regelmäßig Panik entste­ht und Men­schen sich ego­is­tisch ver­hal­ten, ist eben­falls ein Mythos, den vor allem die Medi­en gern auf­greifen. Viele ver­meintliche Fälle von Massen­panik erweisen sich bei genauer­er Unter­suchung als ander­weit­ig begrün­det. In der Forschung wird Panik meist als emo­tionale Kollek­tivreak­tion kom­mu­nizieren­der Men­schen definiert, die sich in ein­er rück­sicht­slosen Fluchtreak­tion und im Kampf ums Über­leben äußert. Das ist zum Glück sehr sel­ten. Empirische Belege für ein häu­figes Auftreten von Konkur­ren­zver­hal­ten oder unüber­legten Ver­hal­tensweisen gibt es jeden­falls kaum. Nicht sel­ten zeigte eine Analyse von Ereignis­sen dage­gen pflicht­be­wusstes, hil­fs­bere­ites und altru­is­tis­ches Ver­hal­ten. Bei der Lovepa­rade 2010 in Duis­burg, bei der 21 junge Men­schen star­ben, sprach man z.B. von ein­er Massen­panik. Tat­säch­lich aber ist es nur am Fuß der Rampe zwis­chen den Zugangstun­neln zum Ver­anstal­tungs­gelände zu einem lokalen Fluchtver­hal­ten – mit allerd­ings ver­häng­nisvollen Fol­gen – gekommen.
Wie lässt sich eine Massen­panik verhindern?
Panik wird häu­fig als ein­fache und schnelle Erk­lärung für Unglücke herange­zo­gen, oft auch von Gebäude­be­treibern, um bauliche Män­gel herun­terzus­pie­len und um Imageschä­den abzuwehren. Tat­säch­lich ver­fall­en Men­schen sel­ten in Panik, und Räu­mungen ver­laufen ten­den­ziell eher geord­net, oft sog­ar zu langsam. Einzelne ängstliche Men­schen gibt es natür­lich immer. Wenn eine Massen­panik entste­ht, dann meist auf­grund ein­er Über­fül­lung von Räu­men mit Per­so­n­en, die beim Einzel­nen etwa zu Atem­not führt. Sauer­stof­fk­nap­pheit ist aber ein physikalis­ches, kein psy­chol­o­gis­ches Problem.
Belast­bare empirische Erken­nt­nisse zur Entste­hung von Panik bei einzel­nen Per­so­n­en gibt es bis­lang nicht. Auch lässt sich nicht vorher­sagen, wer aus ein­er Gruppe betrof­fen sein kön­nte. Schätzun­gen gehen davon aus, dass etwa 10 Prozent der Anwe­senden plan­los auf eine Gefahren­si­t­u­a­tion reagieren, während zwis­chen 10 und 15 Prozent der Betrof­fe­nen beson­nen han­deln und in der Lage wären oder sind, die Führung zu übernehmen. Schwierig ist auch zu beurteilen, ob einzelne panis­che Flüch­t­ende die gesamte Gruppe ansteck­en können.
Kann man das Fluchtver­hal­ten von Men­schen steuern?
Entschei­dend für eine sichere Räu­mung von Gebäu­den und anderen Infra­struk­turen ist es, den Men­schen gezielte Anreize zum Han­deln, zur Ent­fluchtung zu geben. Wenn die konkrete Gefahr bei der Alarmierung benan­nt wird, erleben die Anwe­senden die Dringlichkeit und Authen­tiz­ität der War­nung unmit­tel­bar und hal­ten sich eher an die Vorgaben.
Bewährt hat es sich, einzelne Per­so­n­en als Evakuierung­shelfer auszu­bilden, die im Ern­st­fall die Führung übernehmen kön­nen, denn auf per­sön­liche Ansprache reagieren Anwe­sende meist unmit­tel­bar. Durch äußere Merk­male wie Warn­west­en, durch ihren Sta­tus und durch den ihnen zugeschriebe­nen Infor­ma­tionsvor­sprung fungieren sie als Autoritäten, denen man folgt.
Quellen:
    • Künz­er, L., Zinke, R. & Hofin­ger, G. (2012): Mythen der Ent­fluchtung. In: Pro­ceed­ings der Jahresta­gung der vfdb e.V., Mai 2012. Köln: vfdb. Online ver­füg­bar: www.gesine-hofinger.de > Pub­lika­tio­nen > Artikel, Buchkapi­tel > kuenzer-zinke-hofinger
    • Künz­er, L., Zinke, R. & Hofin­ger, G. (2013): „Nichts wie raus hier?!“ Entschei­den in Räu­mungs- und Evakuierungssi­t­u­a­tio­nen. Erscheint in Heimann, R., Strohschnei­der, S. & Schaub, H. (Hg.) (2013). Entschei­den in kri­tis­chen Sit­u­a­tio­nen: Neue Per­spek­tiv­en und Erken­nt­nisse. Frank­furt a.M.: Ver­lag für Polizeiwissenschaft
    • Human Fac­tors : Psy­cholo­gie sicheren Han­delns in Risiko­branchen. Bad­ke-Schaub, Petra [Hrsg.] ; Hofin­ger, Gesine [Hrsg.] ; Lauche, Kristi­na [Hrsg.] 2., überarb. Aufl. Berlin ; Hei­del­berg : Springer2012
    • Entrauchung von Räu­men im Brand­fall – Notwendi­ge Zeit­en für Ent­fluchtung, Ret­tung, Löschangriff. GESPRÄCHSKREIS ENTRAUCHUNG Infor­ma­tions­blatt Nr. 3 / März 2005 http://www.fvlr.de/downloads/vdma_merkblatt_entrauch_2005.pdf

Die diplomierte Psy­cholo­gin Dr. Gesine Hofin­ger beschäftigt sich vor allem mit Human Fac­tors in kom­plex­en, sicher­heit­skri­tis­chen Arbeitswel­ten – dem Blick darauf, wie men­schlich­es Han­deln in kri­tis­chen Sit­u­a­tio­nen sich auf die Sicher­heit auswirkt. Frau Dr. Hofin­ger forscht, berät und lehrt und ist Vor­sitzende des Vere­ins „Plat­tform für Men­schen in kom­plex­en Arbeitswel­ten e. V.“.
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