Im Notfall müssen Gebäude oder Betriebsgelände schnell geräumt werden. Trotz ausgefeilter Planung aber ist der Erfolg von Evakuierungen schwer berechenbar, weil das Verhalten von Menschen in Extremsituationen sich nicht sicher vorhersehen lässt. An der Universität Jena untersuchen Psychologen typische Verhaltensmuster und ihre Hintergründe. Dabei sind sie auf „Mythen der Entfluchtung“ gestoßen, die die Wirksamkeit von Sicherheitskonzepten beeinträchtigen. Wir haben Dr. Gesine Hofinger gefragt, wovon es abhängt, ob, wann und wie schnell Menschen nach einem Alarm ihren Aufenthaltsort verlassen. Das Interview für Sicherheitsingenieur führte Sabine Kurz.
Frau Dr. Hofinger, warum kommt es auch bei vorschriftsgemäßer Alarmierung und ausreichend dimensionierten Fluchtwegen zu Verzögerungen bei der Räumung von Gebäuden, etwa bei einem Brand?
Sehr häufig liegt das daran, dass menschliches Verhalten und menschliche Eigenschaften bei der Evakuierungsplanung zu wenig berücksichtigt werden. So gehen viele Planer bei der Dimensionierung von Fluchtwegen davon aus, dass die anwesenden Personen sich bei einem Alarm gleichmäßig auf die Fluchtwege verteilen. Das ist aber nicht der Fall. Menschen tendieren dazu, einen Raum durch die Tür zu verlassen, durch die sie ihn betreten haben. Deshalb kommt es häufig zu Stauungen an einem Ausgang. Bei der Planung möglicher Personenströme orientiert man sich an Raumbreiten und an den Schulterbreiten von Durchschnittsmännern, nicht aber daran, dass Menschen in der Regel nicht gerne direkt an Wänden gehen und engen Körperkontakt zu anderen meiden. So kommt es, dass im Ernstfall oft weniger Personen einen Fluchtweg passieren, als dies möglich wäre.
Welche anderen psychologischen und sozialen Faktoren spielen in Notsituationen eine Rolle?
Unter Stress tendieren Menschen dazu, sich an dem, was ihnen bekannt ist, zu orientieren, deshalb nutzen sie z.B. spontan nicht die vorgesehenen Notausgänge, auch wenn diese näher liegen als etwa eine Eingangstür. Als psychologische Barriere wirkt dabei auch, dass Notausgänge alarmgesichert und für die Nutzung im Notfall bestimmt sind, also „verboten“. Menschen verlassen Gebäude eher durch die Eingänge, durch die sie hineingekommen sind. Außerdem tendieren sie dazu, die Nähe anderer Menschen zu suchen und folgen ihnen, auch wenn diese einen ungünstigen Weg wählen.
Wie können Planer, aber auch Unternehmer psychologische und soziale Faktoren sinnvoll in ihr Notfallkonzept einbeziehen?
Quantifizieren lassen sich Einflüsse wie Persönlichkeit, Gefahrenbewusstsein und Gruppenzugehörigkeit bislang nicht hinreichend. Trotzdem ist eine Sensibilisierung von Verantwortlichen für typische psychische Mechanismen sinnvoll, weil diese sich nicht immer mit unseren Alltagsüberzeugungen decken. Die amerikanischen Evakuierungsforscher Tubbs und Meacham etwa sprechen von eingefahrenen „Glaubenssätzen“, die uns vermeintliche Gewissheiten über zu erwartendes Verhalten suggerieren.
Können Sie einige dieser Glaubenssätze bzw. „Mythen der Entfluchtung“, wie Sie es nennen, beschreiben?
Zunächst einmal sollte man sich klarmachen, dass die Einhaltung von Normen und Vorschriften allein Sicherheit nicht garantieren kann. In der Praxis lassen Menschen Brandschutztüren offen, blockieren Fluchtwege oder rauchen in Gefahrenbereichen. Falsch ist auch die Annahme, dass Menschen bei einem Brand nicht durch Rauch laufen, weil dabei u.a. eine Vergiftung durch Rauchgase droht. Auswertungen haben gezeigt, dass Menschen die Bedrohung durch Rauch unterschätzen und gegen die Vernunft verrauchte Wege wählen, etwa, weil sie ihnen kürzer erscheinen oder weil sie vertraut sind.
Warum verstreicht nach einem Alarm so oft kostbare Zeit, weil die Menschen nicht oder zu langsam reagieren?
So naheliegend es auch wäre, die Erfahrung zeigt, dass Menschen eben nicht unverzüglich mit einer Räumung beginnen, nachdem ein Alarm abgesetzt wurde. Unter anderem aus der Forschung von Fitzpatrick und Mileti wissen wir, dass Anwesende meist mehrere Phasen von Wahrnehmung und Aktivierung durchleben, die zu Verzögerungen bei der Evakuierung führen können. Der Grund dafür sind individuelle Bewertungsprozesse und Motive.
Welche Phasen der Alarmierung sind typisch?
Zunächst müssen die Menschen den Alarm hören bzw. durch optische Signale wahrnehmen. In lauten Arbeitsbereichen kann es durchaus vorkommen, dass das Alarmsignal im Maschinenlärm untergeht. Dann müssen die Betroffenen verstehen, dass ein Notfall eingetreten ist. Zwar gibt es in Deutschland die Norm DIN EN 54–4 Feueralarmeinrichtungen – akustische Alarmgeber zur Vereinheitlichung von Feueralarmen, doch wird sie nicht konsequent verwendet. Deshalb sind so unterschiedliche akustische Alarmzeichen im Einsatz, die von Anwesenden nicht zwingend als so dringlich empfunden werden, dass sie eine Gefahr erkennen. Menschen handeln aber erst, wenn sie ein Alarmsignal auf sich beziehen. Das setzt voraus, dass sie die Warnung als echt identifizieren. Gerade dort, wo regelmäßig Räumungsübungen durchgeführt werden, unterstellen die Anwesenden häufig einen „falschen“ Alarm und verweigern die Räumung. Deshalb ist es wichtig, Warnungen so zu gestalten, dass Anwesende sie als relevant erkennen. Auch möchten Menschen meist über ausreichend Informationen verfügen, bevor sie eine Entscheidung treffen. Deshalb ist es sinnvoll, wenn bei einer Alarmierung Informationen übermittelt werden, ohne die Personen zu ängstigen.
Wie groß ist die Gefahr von Panikreaktionen bei einer Räumung?
Dass in Fluchtsituationen regelmäßig Panik entsteht und Menschen sich egoistisch verhalten, ist ebenfalls ein Mythos, den vor allem die Medien gern aufgreifen. Viele vermeintliche Fälle von Massenpanik erweisen sich bei genauerer Untersuchung als anderweitig begründet. In der Forschung wird Panik meist als emotionale Kollektivreaktion kommunizierender Menschen definiert, die sich in einer rücksichtslosen Fluchtreaktion und im Kampf ums Überleben äußert. Das ist zum Glück sehr selten. Empirische Belege für ein häufiges Auftreten von Konkurrenzverhalten oder unüberlegten Verhaltensweisen gibt es jedenfalls kaum. Nicht selten zeigte eine Analyse von Ereignissen dagegen pflichtbewusstes, hilfsbereites und altruistisches Verhalten. Bei der Loveparade 2010 in Duisburg, bei der 21 junge Menschen starben, sprach man z.B. von einer Massenpanik. Tatsächlich aber ist es nur am Fuß der Rampe zwischen den Zugangstunneln zum Veranstaltungsgelände zu einem lokalen Fluchtverhalten – mit allerdings verhängnisvollen Folgen – gekommen.
Wie lässt sich eine Massenpanik verhindern?
Panik wird häufig als einfache und schnelle Erklärung für Unglücke herangezogen, oft auch von Gebäudebetreibern, um bauliche Mängel herunterzuspielen und um Imageschäden abzuwehren. Tatsächlich verfallen Menschen selten in Panik, und Räumungen verlaufen tendenziell eher geordnet, oft sogar zu langsam. Einzelne ängstliche Menschen gibt es natürlich immer. Wenn eine Massenpanik entsteht, dann meist aufgrund einer Überfüllung von Räumen mit Personen, die beim Einzelnen etwa zu Atemnot führt. Sauerstoffknappheit ist aber ein physikalisches, kein psychologisches Problem.
Belastbare empirische Erkenntnisse zur Entstehung von Panik bei einzelnen Personen gibt es bislang nicht. Auch lässt sich nicht vorhersagen, wer aus einer Gruppe betroffen sein könnte. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 10 Prozent der Anwesenden planlos auf eine Gefahrensituation reagieren, während zwischen 10 und 15 Prozent der Betroffenen besonnen handeln und in der Lage wären oder sind, die Führung zu übernehmen. Schwierig ist auch zu beurteilen, ob einzelne panische Flüchtende die gesamte Gruppe anstecken können.
Kann man das Fluchtverhalten von Menschen steuern?
Entscheidend für eine sichere Räumung von Gebäuden und anderen Infrastrukturen ist es, den Menschen gezielte Anreize zum Handeln, zur Entfluchtung zu geben. Wenn die konkrete Gefahr bei der Alarmierung benannt wird, erleben die Anwesenden die Dringlichkeit und Authentizität der Warnung unmittelbar und halten sich eher an die Vorgaben.
Bewährt hat es sich, einzelne Personen als Evakuierungshelfer auszubilden, die im Ernstfall die Führung übernehmen können, denn auf persönliche Ansprache reagieren Anwesende meist unmittelbar. Durch äußere Merkmale wie Warnwesten, durch ihren Status und durch den ihnen zugeschriebenen Informationsvorsprung fungieren sie als Autoritäten, denen man folgt.
Quellen:
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- Künzer, L., Zinke, R. & Hofinger, G. (2012): Mythen der Entfluchtung. In: Proceedings der Jahrestagung der vfdb e.V., Mai 2012. Köln: vfdb. Online verfügbar: www.gesine-hofinger.de > Publikationen > Artikel, Buchkapitel > kuenzer-zinke-hofinger
- Künzer, L., Zinke, R. & Hofinger, G. (2013): „Nichts wie raus hier?!“ Entscheiden in Räumungs- und Evakuierungssituationen. Erscheint in Heimann, R., Strohschneider, S. & Schaub, H. (Hg.) (2013). Entscheiden in kritischen Situationen: Neue Perspektiven und Erkenntnisse. Frankfurt a.M.: Verlag für Polizeiwissenschaft
- Human Factors : Psychologie sicheren Handelns in Risikobranchen. Badke-Schaub, Petra [Hrsg.] ; Hofinger, Gesine [Hrsg.] ; Lauche, Kristina [Hrsg.] 2., überarb. Aufl. Berlin ; Heidelberg : Springer2012
- Entrauchung von Räumen im Brandfall – Notwendige Zeiten für Entfluchtung, Rettung, Löschangriff. GESPRÄCHSKREIS ENTRAUCHUNG Informationsblatt Nr. 3 / März 2005 http://www.fvlr.de/downloads/vdma_merkblatt_entrauch_2005.pdf
Die diplomierte Psychologin Dr. Gesine Hofinger beschäftigt sich vor allem mit Human Factors in komplexen, sicherheitskritischen Arbeitswelten – dem Blick darauf, wie menschliches Handeln in kritischen Situationen sich auf die Sicherheit auswirkt. Frau Dr. Hofinger forscht, berät und lehrt und ist Vorsitzende des Vereins „Plattform für Menschen in komplexen Arbeitswelten e. V.“.
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