„Es geht immer darum, ein anständiges Geschäft zu machen“, sagt Prof. Timm Homann, CEO von Ernsting‘s family, und betont dabei „anständig“. Alles andere habe keinen Wert. Und Andrea Heilmann, Führungskraft bei dem Textilhändler, legt Wert darauf, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gern zur Arbeit kommen. „Ich persönlich finde es wichtig, dass wir wertschätzend sind, den Mensch achten“, betont Gebietsleiterin Anja Kleimann. Sie und viele weitere Mitarbeiter, Führungskräfte und die Geschäftsführung kommen im Firmen-Video „Unsere Werte“ zu Wort. Lilly Ernsting, vor über 50 Jahren Mitgründerin und heute noch Gesellschafterin des erfolgreichen Unternehmens, betont einen weiteren grundlegenden Wert, indem sie auf das „Family“ im Firmennamen verweist: „Das sagt ja schon, dass das Unternehmen für die ganze Familie da sein muss.“
Keine Frage, wenn es um Unternehmen und ihre Werte geht, kommen rasch die Familienunternehmen ins Spiel. Hier geht es traditionell nicht um „die schnelle Mark“, hier wird über Generationen hinweg gedacht, geplant und gehandelt. Und dabei helfen Werte: Es sind Eigenschaften und Qualitäten, die von Einzelnen oder einer Gruppe von Menschen als erstrebenswert betrachtet werden und die Entscheidungen zugrunde liegen. Dabei sind sie nicht kurzlebig; ihre besondere Kraft ziehen Werte aus ihrer Beständigkeit über lange Zeiträume.
Wegweiser für Entscheidungen
Das macht sie gerade in der Gegenwart so hilfreich. Zwar leben Unternehmen schon immer mit dem Wandel. Aber selten haben sich in kurzer Zeit die Rahmenbedingungen für erfolgreiches Wirtschaften so rasch und immer wieder so stark geändert: Die Pandemie hat Prozesse in Unternehmen massiv beeinflusst, sie müssen mit Sanktionen und Störungen in den Lieferketten umgehen. Dabei fehlen immer mehr Fach- und Hilfskräfte. Umbrüche durch neue technologische Entwicklungen schaffen neue Möglichkeiten, müssen aber auch bewältigt werden. Die Aufzählung ließe sich noch fortsetzen. Deutlich wird: Unternehmen müssen so flexibel wie kaum je zuvor reagieren. Werte können dafür sorgen, dass sie dabei auf Kurs bleiben.
„Werte dienen als Richtungsweiser, sie helfen Mitarbeitern bei Entscheidungen und nehmen so Unsicherheiten“, hat Kim Wlach beobachtet. Die Mitgründerin der Münchner Organisationsberatung „Berg & Macher“ unterstützt Unternehmen unter anderem dabei, Werte zu formulieren und vor allem zu leben. Das Beispiel Ernsting‘s family zeigt, warum das wichtig ist: Über 12.000 Mitarbeitende arbeiten für das Unternehmen, im Hauptsitz im münsterländischen Coesfeld-Lette, an den drei Logistikstandorten in Lette, Klieken und Schwarzenbek und vor allem in den 1.920 Filialen in ganz Deutschland und Österreich. Wie Verkäuferin Melanie Wimmer schätzen sie ihre Selbstständigkeit. Daniel Köster, verantwortlich für Strategie und Portfoliomanagement, nennt es „den Freiheitsgrad und das agile Arbeiten“.
Wer so viel Selbstständigkeit zulassen will, braucht Vertrauen darauf, dass die richtigen Entscheidungen getroffen werden. Da helfen prägnante Werte. Das Beispiel Bayer macht deutlich, wie das aussehen kann.
Arbeitsschutz als abgeleiteter Wert
Der Chemiekonzern Bayer hat seine Werte sehr griffig in einem Wort zusammengefasst: LIFE. Dazu gibt es folgende Erklärung: „Die Kultur unseres Unternehmens basiert auf den LIFE-Werten. Das Wort LIFE steht für die Werte und Führungsprinzipien von Bayer. LIFE setzt sich aus den Anfangsbuchstaben von Leadership (Führung), Integrität, Flexibilität und Effizienz zusammen. Diese Werte sind fest im Unternehmen verankert und geben uns Orientierung. An ihnen richtet sich unser Handeln aus.“ Um diese Begriffe näher an den Alltag zu bringen, hat der Konzern zusätzlich acht Bayer Societal Engagement (BASE) Prinzipien entwickelt. Eins davon beschreibt „Wie wir uns im Alltag verhalten“. Da findet sich in einer längeren Aufzählung auch der Punkt „Wir gewährleisten sichere und gesunde Arbeitsbedingungen.“
Doch nicht nur große Unternehmen profitieren von Werten. Auch alle Firmen, die schnell wachsen, ziehen Stärke daraus. „Spätestens ab 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern braucht es klare Werte und Prinzipien zur Orientierung für alle weiteren Mitarbeitenden, die nicht seit Stunde Null mit an Bord sind“, empfiehlt Beraterin Kim Wlach.
Wann Werte überzeugen
So weit, so klar. Und ein kurzes Brainstorming in der Chefetage führt gewiss in den meisten Unternehmen umgehend zu einem guten Dutzend von Begriffen, die sich als Werte auf der Unternehmenswebsite und in Image-Broschüren promoten lassen. Doch das wird nicht viel bringen, wenn diese nicht gut auf das Unternehmen zugeschnitten sind. Ernsting‘s family betont Vielfalt und Buntheit – das entspricht sowohl dem Unternehmen mit seiner diversen Belegschaft als auch der farbenfrohen Mode, die es anbietet. Das „LIFE“ von Bayer passt ebenfalls gut zu einem Unternehmen, das sich selbst als „Life-Science-Unternehmen mit einer über 150-jährigen Geschichte und Kernkompetenzen in den Bereichen Gesundheit und Landwirtschaft“ beschreibt. Doch in der Praxis gelingt das nicht immer. Schätzen Sie einmal, welche Unternehmen mit diesen Werten werben (Auflösung in der Fußnote am Artikelende*):
a) Führung – Verantwortung – Erfolgswille – Vertrauen
b) Verlässlichkeit – Lösungsorientierung – Einfachheit – Effizienz – Kompetenz – Transparenz – Erreichbarkeit – Wertschätzung
c) Kundenfokus – Verantwortung – Schnelligkeit – Teamgeist
d) Respect & Results
Die Auflistung zeigt, wie viele der Begriffe austauschbar oder eigentlich selbstverständlich sind: Unternehmen ohne Kundenfokus oder ohne Verlässlichkeit werden am Markt nicht lange bestehen. Aber auch Unterschiede sind zu entdecken: Vielleicht fühlen Sie sich vom „Erfolgswillen“ besonders angesprochen oder doch eher vom „Teamgeist“? Eventuell wirken englische Begriffe für Sie moderner als die deutschen. Die Beispiele zeigen, wie viel zu bedenken ist.
Sieben Schritte zu überzeugenden Werten
Bleibt die Frage, wie Unternehmen vorgehen können, damit ihre Werte maßgeschneidert wirken. Kim Wlach hat vor allem bei mittelständischen Unternehmen den Prozess der Werteentwicklung begleitet. Nach ihrer Erfahrung ist ein Prozess in sieben Schritten erfolgversprechend:
- Vision finden: Hier geht es darum, eine klare Vision als Grundlage für die Werteentwicklung zu erarbeiten und zu definieren.
- Initiale Suche: Gründerinnen und Gründer und die Geschäftsführung prägen Werte. Von ihnen kommen die ersten Vorschläge.
- Partizipative Entwicklung: Eine möglichst divers zusammengesetzte Gruppe von Mitarbeitenden sorgt dafür, dass die vorhandenen Vorschläge ergänzt und vertieft werden.
- Im Alltag beobachten: Situationen finden, in denen Werte tatsächlich Entscheidungen beeinflussen.
- Priorisieren: Herausfinden, welche der bisher gefundenen Werte einzigartig und bedeutsam gerade für das eigene Unternehmen sind.
- Formulieren: verständliche Begriffe finden.
- Im Alltag greifbar machen: In dieser Phase müssen die Werte innerhalb des Unternehmens für alle Mitarbeitenden kommuniziert und in konkreten Situationen angewendet werden.
Kim Wlach und ihr Team haben für sich selbst, das Beratungsunternehmen „Berg & Macher“, in diesem Prozess die folgenden Werte entwickelt: Leidenschaftliche Macher – Agil in die Zukunft – Teamerfolg leben – Ganzheitliche Wirksamkeit – Echte & wertschätzende Haltung. Diese Werte hat das Team auf Herz und Nieren geprüft und Beispiele aus dem Alltag hinterlegt. „Macher ist nicht nur in unserem Namen und in den Werten zu lesen,“ betont Kim Wlach, „sondern es beschreibt unsere Vorgehensweise und das Selbstverständnis der Teammitglieder, ins pragmatische Umsetzen zu kommen.“
Werte lebendig machen
Fragt man Marcello Concilio, den Kommunikationschef von Ernsting‘s family, wie sein Unternehmen eigene Werte gefunden hat, tauchen die eben genannten Schritte wieder auf. Bei Concilio klingt das so: „Wir haben vor zwei Jahren die gesamte Unternehmenskultur einmal untersucht und systematisch aufgearbeitet. In dem Zuge haben wir auch die Unternehmenswerte in Umfragen eruiert und validiert und dann zu den sechs Werten zusammengefasst.“ Und er verweist darauf, dass Werte kein Selbstläufer sind. Ein langer Atem und weitere Initiativen im Unternehmen seien erforderlich, damit die Werte gelebt werden: „Wir erarbeiten derzeit eine ausgetüftelte Kommunikationskampagne mit direkter Einbeziehung der Mitarbeitenden, um diese Werte noch stärker in der gesamten Organisation zu verankern.“
Schaut man auf die aktuellen Entwicklungen bei Bayer, wird klar, dass gute Slogans nicht reichen – aber helfen können, in Krisen Kurs zu halten. Auch in Umbrüchen hält das Unternehmen an seinen Leitlinien fest. Der neue Geschäftsführer Bill Anderson sprach in seiner Antrittsrede Ende Februar nicht über Gewinne oder Verluste. Stattdessen erläuterte er den Mitarbeitenden, was „advancing life – das Leben voranbringen“ für ihn bedeutet.
Erfolgsfaktor: Viele Stimmen einbinden
In einer Studie der Unternehmensberatung Rochus Mummert erklärten 96 Prozent der 130 befragten Aufsichts- und Beiräte von Unternehmen im deutschsprachigen Raum „ … ein guter Zustand der Wertschätzungskultur sowie klare gelebte und ethische Prinzipien erhöhen die Profitabilität und stärken die Robustheit eines Unternehmens gegen Krisen.“ Doch ernüchternd ist die Tatsache, dass trotz dieser Einsicht nur 19 Prozent von ihnen bestätigten, dass in ihren Unternehmen die ethischen Grundsätze wirklich gelebt werden. Dabei liegt die Lösung auf der Hand. Darauf macht Mark Poppenborg, Gründer der Organisationsberatung Intrinsify, aufmerksam: Menschen handeln immer in Verbindung mit ihren inneren Werten. Wer also Unternehmenswerte will, die gelebt werden, braucht solche Werte, die den Erwartungen und Erfahrungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entsprechen. Eine Einbeziehung möglichst vieler Stimmen in die Suche und die Formulierung der Werte ist also ein wichtiges, wahrscheinlich sogar das wichtigste Erfolgskriterium.
*Auflösung:
a) Konsumgüterkonzern mit etwa 99.000 Mitarbeitern weltweit
b) Beratungsunternehmen für Arbeits- und Datenschutz mit rund 60 Mitarbeitern in Deutschland
c) Online-Versandhändler mit 17.000 Mitarbeitern europaweit
d) Logistikkonzern mit 380.000 Mitarbeitern weltweit
Vision – Leitbild – Werte
- Eine Vision (vision statement) beschreibt das Ziel, das Wohin. Die vielleicht bekannteste Vision stammt aus der Gründungsphase von Microsoft: ein Computer auf jedem Schreibtisch und in jedem Haus.
- Ein Leitbild (mission statement) beschreibt möglichst kurz und prägnant, wie diese Ziele erreicht werden sollen.
- Werte (core values) beschreiben, was das Unternehmen ausmacht, welche positiven Eigenschaften seine besonderen Stärken und Wegweiser für alle Entscheidungen sind.
Werte stärken die Mitarbeiterbindung
Arbeitskräfte dringend gesucht: In so einer Situation wächst das Selbstvertrauen der Beschäftigten. Ihre Ansprüche steigen, Loyalität gegenüber dem Unternehmen ist nicht mehr selbstverständlich. Das belegen aktuelle Studien. So auch der Bericht „Global Human Capital Trends 2023“, für den das Prüfungs- und Beratungsunternehmens Deloitte weltweit 10.000 Unternehmensvertreter aus 139 Ländern befragte, darunter 1.500 Führungskräfte. Über die Hälfte der Teilnehmenden erklärte, sie wären bereit, ihre derzeitige Stelle zu wechseln oder würden dies mit hoher Wahrscheinlichkeit tun. Dabei spielt es eine große Rolle, wie das Unternehmen wahrgenommen wird. Beschäftigte der Generation Z und Millennials bleiben laut Deloitte-Studie mit größerer Wahrscheinlichkeit länger als fünf Jahre im Unternehmen, wenn sie mit den sozialen und ökologischen Bemühungen des Arbeitgebers zufrieden sind. Kurz gesagt: wenn sie dessen Werte teilen. Das Bewusstsein für Werte – die Studie bezieht sich hier vor allem auf Nachhaltigkeit – ist heute nicht nur fester Bestandteil unternehmerischer Verantwortung. Laut dem Bericht stärkt es auch die Bindung zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden.