Psychische Belastungen auf der Arbeit ergeben sich nicht allein aus Interaktionen zwischen Menschen, sondern häufig aus einer unzureichenden Organisation des Arbeitsprozesses. Und genau hier setzt (theoretisch) die sogenannte “Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen” an, die der Gesetzgeber im Arbeitsschutzgesetz fordert — übrigens schon seit 1996.
Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen dient nicht dazu, psychische Diagnosen zu erstellen oder den psychischen Zustand konkreter Mitarbeiter zu erkennen. Ihre Aufgabe ist es, das Arbeitssystem dahingehend zu überprüfen, ob es nach den aktuell arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen geeignet ist, psychische Beeinträchtigungen hervorzurufen. In der Praxis wird die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen aber kaum gemacht, zu umständlich gemacht, oder auch falsch gemacht. Wie kommt es dazu? Hierzu befragten wir Dr. Gerald Schneider von der BAD GmbH, einen Kenner der Szene.
Herr Dr. Schneider, wer mag das Thema Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen (GB Psyche) am wenigsten: Führungskräfte oder Fachkräfte für Arbeitssicherheit?
Dr. Gerald Schneider: Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Wenn man es etwas übertrieben auf den Punkt bringen will, mögen das Thema beide nicht. In vielen Unternehmen bestehen Befürchtungen, dass im Rahmen der GB Psyche Dinge ans Licht kommen, die für die einzelne Führungskraft unangenehm sind oder werden können. Die Fachkräfte für Arbeitssicherheit haben auf der anderen Seite die Befürchtung, dass sie in einen Prozess hineingezogen werden, den sie nicht überblicken und für den sie sich nicht gewappnet fühlen und der in vielen Fällen auch emotional aufgeladen ist.
Dies liegt häufig aber an der unzureichenden Kommunikation. In vielen Fällen wird das Thema “Psyche” an den Mitarbeitern als Personen “aufgehängt” und nicht am Arbeitssystem. Insbesondere Angebote wie Stressbewältigungskurse, Resilienztrainings und andere haben dem Ganzen eine Schieflage gegeben. Dabei ist es zu der Missdeutung gekommen, dass die psychische Situation der einzelnen Mitarbeiter das primäre Beurteilungsziel ist.
Dem ist aber nicht so, es geht wie immer bei Gefährdungsbeurteilungen um die Auswirkungen von Tätigkeiten oder eines Arbeitssystems und die durch Maßnahmen ausgelöste Entschärfung der Arbeitssituation. Auch hier gilt das Arbeitsschutzgesetz mit seinem TOP-Prinzip und die eben genannten Kurse und Trainings sind halt P‑Maßnahmen. Und die kommen immer erst zum Schluss, wenn über Technik und Arbeitsorganisation eine Gefährdungsminimierung nicht möglich ist.
Es kann und darf daher auch nicht sein, dass Arbeitgeber und gegebenenfalls Betriebsräte solche Trainings vereinbaren, ohne vorher das eigentliche Arbeitssystem verändert zu haben. So nach dem Motto: „Die Arbeitsbedingungen sind zwar bescheiden, aber wir machen unsere Mitarbeiter hart, das auszuhalten“. Bei der Handhabung schwerer Lasten schickt man schließlich die Mitarbeiter auch nicht in die Muckibude, sondern sucht nach technischen Lösungen.
In dem Bereich tummeln sich ja viele, die viel Geld verdienen wollen. Sind es die externen Berater, die durch die Botschaft „Kompliziert, lasst externe Profis ran“ das Thema für die Betriebe verdorben haben? Und wie ist das Thema bei hausinternen Abteilungen für Betriebliches Gesundheitsmanagement oder auch Betriebsräten aufgestellt? Mischen einfach zu viele mit?
Dr. Gerald Schneider: Hier wirkt es sich negativ aus, dass es für den Bereich keine Verordnung gibt. Verordnungen machen Auflagen, aber sie schaffen auch einen Rahmen, geben Halt und definieren, was der Gesetzgeber will. Gut abgefasst sind sie eine wichtige Hilfe. Dieser verordnungsfreie Raum hat aber dazu geführt, dass jeder, der etwas mit Psychologie im weitesten Sinne zu tun hat, meint, hier Geld verdienen zu können.
Dabei wird aber übersehen, dass wir gesetzliche Grundlagen haben, nämlich das Arbeitssicherheitsgesetz und das Arbeitsschutzgesetz. Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen ist keine Aufgabe des Betrieblichen Gesundheitsmanagements, sondern des klassischen, normativ geregelten Arbeitsschutz. Die Gefährdungsbeurteilung ist verpflichtend und die wesentlichen Berater sind genannt: Fachkraft für Arbeitssicherheit und Betriebsarzt.
Ich betone es gerne immer wieder: Die GB Psyche interessiert sich — jetzt mal “kraftvoll” ausgedrückt — nicht die Bohne um die aktuelle psychische Verfassung des einzelnen Mitarbeiters, sondern darum, ob die Tätigkeiten und das Arbeitssystem nach arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen geeignet sind, unzumutbare psychische Belastungen prinzipiell für alle Mitarbeiter zu erzeugen. Wie dann der Einzelne darauf reagiert mag aber dennoch sehr unterschiedlich sein. Es reicht für Maßnahmen jedoch, dass ein allgemein anerkanntes schädigendes Potenzial vorliegt.
Was die Komplexität angeht: Niemand sollte sich durch Interessengruppen einreden lassen, die GB Psyche wäre besonders kompliziert. Sie ist genau so kompliziert wie zum Beispiel die GB an einer großen Maschine beziehungsweise Produktionsstraße oder im Bereich der Gefahrstoffe. Zu all diesen Beurteilungen können sowohl die Fachkraft für Arbeitssicherheit als auch der Betriebsarzt substanzielle Beiträge leisten, unabhängig davon, dass man für Spezialfragen dann gegebenenfalls halt auch einen Spezialisten benötigt. Das gilt in gleicher Weise für die GB Psyche.
Und eines darf man nicht vergessen: Viele Tools zur GB Psyche durch Drittanbieter, seien es nun die Universitäten oder ehemalige Professoren mit Vermarktung ihrer eigenen Instrumente oder noch andere Trainer sind nicht geeignet, die Vorgaben der GDA, der Gemeinsamen Deutsche Arbeitsschutzstrategie, zu erfüllen. Sie haben aber ein hohes Interesse daran, das Thema aus dem Arbeitsschutz herauszulösen, um es auf ihrer Ebene zu spielen. Aber es ist klassischer Arbeitsschutz und da gehört es hin.
Und wie kriegen wir die Kuh vom Eis? Aus Ihrer Erfahrung heraus, was sollen die tun, die sich unsicher bis vollkommen unsicher fühlen und gar keinen Zugang zu dem Thema finden?
Dr. Gerald Schneider: Wer sich unsicher fühlt, muss sich beraten lassen. Aber man sollte natürlich genau schauen, wen hole ich mir in mein Haus. Da kann man keine Empfehlungen aussprechen außer, dass der- oder diejenige im Arbeitsschutz absolut sattelfest sein muss. Berater, die kein grundlegendes Wissen über Gefährdungsbeurteilungen, das deutsche rechtliche und BG-liche Arbeitsschutzsystem haben usw., bringen gegebenenfalls die falschen Informationen. Außerdem sollte sich ein Berater in dem Gewerbezweig, den er berät, auch auskennen. Wer zum Beispiel die Probleme und Restriktionen eines Produktionsbetriebs nicht kennt, wird sicher keine gute Hilfe sein. Ähnliches gilt für Pflegeheime, Krankenhäuser, Dienstleistungsbetriebe usw. .
Außerdem sollte geprüft werden, ob die Berater an einer durchgehenden Lösung interessiert sind. Einige wollen zunächst einen „Nucleus“, also einen kleinen zentralen Kern, einführen, der später ausgebaut wird. Natürlich unter weiterer Beteiligung des Beraters. Das nennt man „Folgegeschäft“.
Und dann ist natürlich auch der eigene Mut zum ersten Schritt notwendig. Man muss in einer GB Psyche nicht sofort alles “erschlagen” wollen. Man kann mit einfachen Instrumenten anfangen, von denen es genug gibt, und Erfahrungen sammeln. Dann kommt der nächste Schritt. Und dann ein weiterer Schritt, usw. Das gilt auch für die Fachkräfte für Arbeitssicherheit, man kann sich reinarbeiten und seine Fähigkeiten sukzessive verbessern. Abwehr und Angst sind jedenfalls einer Fachkraft für Arbeitssicherheit unwürdig und nicht mehr zeitgemäß.
Herr Schneider, danke für Ihre klaren Worte.
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Ein Videointerview mit Dr. Gerald Schneider zum Thema Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen finden Sie hier.