Jede menschliche Gemeinschaft, jede Kultur, jedes Zeitalter hat auf der Basis der jeweils vorhandenen pflanzlichen Ressourcen ihre spezifischen Heilmittel, psychisch wirksamen Substanzen, sprich: ihre Drogen gefunden. Beispiele sind Coca in Südamerika, Opium im frühen China und selbstverständlich alkoholische Getränke wie Bier und Wein in den Frühkulturen des Alten Ägyptens, des antiken Griechenlands oder auch im Alten China. Für den europäischen Raum und damit auch für Deutschland hat sich der Alkohol als „Kulturdroge“ durchgesetzt. Alkohol hat eine sehr hohe gesellschaftliche Akzeptanz, ist aus vielen alltäglichen Ritualen kaum wegzudenken, ist überall und fast zu jeder Zeit leicht verfügbar. Im Rahmen von riskantem Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit in Deutschland verursacht er allerdings weitreichende soziale, rechtliche, ökonomische und gesundheitliche Probleme – auch in der Arbeitswelt. Mit diesen speziellen Zusammenhängen beschäftigt sich der nachfolgende Beitrag.
Alkoholkonsum in der Arbeitswelt – ein Thema mit langer Geschichte
Die Frage des Alkoholkonsums in der Arbeitswelt hat spätestens mit dem Zeitalter der technischen Industrialisierung eine zentrale gesellschaftlich-ökonomische Dimension eingenommen. Bei der Reflexion des Alkoholkonsums während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert treten im Allgemeinen zwei Assoziationen in den Vordergrund: die durch die Industrialisierung sich ausdehnende Trunksucht innerhalb der Arbeiterschaft sowie das Stichwort des „Elendsalkoholismus“. Beide Phänomene hatten mit dem sozialen Elend des Industrieproletariats zu tun, waren gleichzeitig aber auch die Folge der Industrialisierung der Alkoholindustrie.
Die Erfindung technischer Produktionsverfahren in der Branntweinerstellung sowie die Erfindung der Kältemaschine (1870/71) führten zu einer erheblichen Steigerung der Branntwein- und Bierproduktion. Es stellte sich dadurch verstärkt die Frage nach den Abnehmern der Erzeugnisse. Hierzu bot sich als ausgezeichnete Möglichkeit das sogenannte Trucksystem (Naturaliendebutat). Damit wurde der Lohn nicht nur in Geld und Lebensmitteln, sondern auch in Form von Branntwein und Bier ausgezahlt. Gleichzeitig wurde den Arbeitern in vielen Fabriken, speziell in der Schwerindustrie und im Bergbau, während des zwölf- bis 16-stündigen Arbeitstages mehrmals über Tag Schnaps angeboten, damit sie die Arbeitsbelastung überhaupt durchhielten. Es erfolgte damit in dieser frühen Zeit ein gezieltes, betrieblich gefördertes Doping in der Arbeitswelt durch Alkohol.
Der zunehmende Alkoholkonsum erhöhte aber nicht nur die Arbeitsbereitschaft, sondern brachte zusätzliche Verzweiflung sowie menschliches Elend in die Familien und wirkte sich zunehmend dysfunktional aus auf die industriellen Arbeitsverhältnisse, die ein rationales, berechenbares, selbstdisziplinierendes und affektkontrolliertes Verhalten fordern. Stattdessen ereigneten sich immer mehr Arbeitsunfälle, Arbeitsunfähigkeiten, Fehlleistungen etc. Sowohl einzelne Betriebe als auch staatliche Stellen reagierten darauf mit ersten Maßnahmen zum Arbeitsschutz und zur Arbeitssicherheit:
- Arbeitsordnung der Firma Krupp mit dem Passus: „Branntweintrinken in den Fabriken wird nicht geduldet“ (1838);
- Verbot des „Trucksystems“ (1849 – Preußische Gewerbeordnung);
- Gründung von Mäßigkeits- und Abstinenzvereinen (ab 1880);
- Forderungen zur Alkoholprävention in der Arbeitswelt: u.a. Abbau von Arbeitsbelastungen, Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Anhebung der Löhne, Verkürzung der Arbeitszeit (Viktor Böhmert (1885) „Der Branntwein in Fabriken“);
- Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884;
- Gründung von Berufsgenossenschaften;
- Unfallverhütungsvorschriften (ab 1900) verbieten Arbeitgebern, Betrunkene im Betrieb zu dulden, und Arbeitnehmern, betrunken zur Arbeit zu kommen oder sich auf der Arbeitsstätte zu betrinken.
Diese Regulierungen haben die Problematik des Alkoholkonsums in der Arbeitswelt bewusster gemacht und tendenziell zu einer Veränderung beigetragen, die Problematik allerdings nicht abschließend gelöst. Ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden sich daran erinnern, dass noch in den 1960er- bis in die 1980er-Jahre hinein Alkohol- konsum während der Arbeitszeit weitgehend geduldet war und dieses speziell in Produktionsbetrieben durch die Aufstellung von Bierautomaten und dem Ausschank von Alkohol in Kantinen forciert wurde. Erst in Folge der Umsetzung neuer Managementstrategien (u.a. Qualitäts‑, Lean- und Fehlzeitenmanagement), der verstärkten Aktivitäten zur betrieb- lichen Gesundheitsförderung sowie der neuen „Alkohol-am-Arbeitsplatz“-Bewegung erfolgten zunehmend die Einschränkung des Alkoholverkaufs und Regulierungen durch Alkoholverbote.
Über den tatsächlichen Umfang des Alkoholkonsums während der Arbeitszeit lässt sich nur spekulieren. Ältere Untersuchungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) belegen, dass ca. 50 % aller Berufstätigen zumindest gelegentlich und 11 % täglich am Arbeitsplatz Alkohol trinken. Dieser Konsum vollzieht sich in der Regel eher nicht offen, sondern verheimlicht und führt u.a. zu Arbeitssicherheitsproblemen.
Arbeitssicherheitsaspekte, Alkoholverbote und Punktnüchternheit
Schon der Konsum geringer Mengen Alkohols sowie die Wirkung von Restalkohol kann eine Gefährdung der Arbeitssicherheit mit sich bringen, wie die nachfolgenden Beispiele bei geringen Promillewerten zeigen:
- ab 0,2 Promille u.a. leichte Verringerung der Sehleistung, Verlängerung der Reaktionszeit, Anstieg der Risikobereitschaft;
- ab 0,5 Promille u.a. Sehleistung reduziert um 15 %, verlangsamte Anpassung der Augen an hell + dunkel, herabgesetztes Hörvermögen, Fehl- einschätzung von Geschwindigkeiten.
Bei höheren Promillewerten steigen die Einschränkungen entsprechend an:
- ab 0,8 Promille u.a. Einschränkung der Sehfähigkeit um 25 %, Verlängerung der Reaktionszeit um 25–30 %; Blickfeldverengung („Tunnelblick“), Beeinträchtigung des räumlichen Sehens;
- ab 1,1 Promille u.a. Gleichgewichtsstörungen, erheblich gestörtes Reaktionsvermögen, massive Aufmerksamkeits- und Konzentrationseinbußen.
Hieraus resultieren hohe Unfallgefährdungen:
Es wird davon ausgegangen, dass ca. 25 bis 30 % aller Arbeits- und Wegeunfälle alkoholbedingt sind. Allein schon hieraus resultiert eine hohe Verpflichtung, betrieblich bei konkreten Einzelfällen die Vorschriften der gesetzlichen Unfallversicherung umzusetzen:
DGUV Vorschrift 1 § 7
(2) Der Unternehmer darf Versicherte, die erkennbar nicht in der Lage sind, eine Arbeit ohne Gefahr für sich und andere auszuführen, mit dieser Arbeit nicht beschäftigen.
DGUV Vorschrift 1 § 15
(2) Versicherte dürfen sich durch den Konsum von Alkohol, Drogen oder anderen berauschenden Mitteln nicht in einen Zustand versetzen, durch den sie sich selbst oder andere gefährden können.
(3) Absatz 2 gilt auch für Medikamente.
Ein Element der Prävention alkoholbedingter Gefahren sind auch betriebsbedingte Absprachen und Regelungen zur Einschränkung des Konsums von Alkohol. Bestimmte gefahrengeneigte Tätigkeiten können z.B. ein absolutes Alkoholverbot begründen, wie:
- Steuerung von Dienstfahrzeugen
- Arbeiten, bei denen persönliche Schutzausrüstung vorgeschrieben ist
- Arbeiten mit hochwertigen Geräten und Anlagen, z.B. Laser, Radioaktivität
- Arbeiten an elektrischen Anlagen
- Arbeiten in Bereichen mit besonderen Stolper‑, Rutsch- und Absturzgefahren.
Grundsätzlich können Alkoholverbote ausgesprochen werden
- entsprechend der Präventionsvorschriften der Unfallversicherungsträger;
- per Betriebs- oder Dienstvereinbarung zwischen Arbeitgeber und Mitarbeitervertretung;
- durch den Arbeitgeber im Rahmen seines Direktionsrechts für sicherheitsrelevante Arbeitsplätze bzw. für einzelne Arbeitnehmer im begründeten Einzelfall als Zusatz zum Arbeitsvertrag.
In neueren Präventionskonzepten wird heute häufig die so genannte „Punktnüchternheit“ (siehe Kasten oben rechts) angeregt. Das Konzept der Punktnüchternheit, das mit den Aktivitäten zum „Aktionsplan Alkohol“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Ende der 90er-Jahre in Deutschland verbreitet wurde, erkennt an, dass Alkohol in verantwortlichem Rahmen als Genussmittel eingesetzt wird, ohne zwangsläufig Schaden anzurichten. Es legt aber nahe, dass an bestimmten Punkten, das heißt Situationen des alltäg-lichen Lebens, ganz bewusst auf Nüchternheit Wert gelegt wird.
Risikoarmer, riskanter und abhängiger Konsum von Alkohol
Während sich die Regeln von Arbeitssicherheit und Arbeitsschutz, betrieb- liche Vereinbarungen zum Umgang mit Alkohol sowie das Konzept der Punktnüchternheit auf sämtliche Beschäftigten beziehen und davon ausgegangen werden kann, dass dieses auch von allen Beschäftigten, die verantwortungsvoll mit Alkohol umgehen, eingehalten werden kann, bleibt die folgende Frage: Wie sieht es aus mit den Beschäftigten, die Alkohol eher ris-kant oder gar abhängig konsumieren.
Ein Blick auf den Gesamtkonsum in der Bundesrepublik zeigt, dass sich erfreulicherweise der Alkoholverbrauch je Einwohner von 12,4 Liter reinen Alkohols im Jahre 1991 kontinuierlich auf 9,5 Liter reinen Alkohols bzw. ca. 136 Liter alkoholischer Getränke im Jahre 2012 reduziert hat (2012 = ca. 106 Liter Bier, 21 Liter Wein, 4 Liter Schaumwein, 6 Liter Spirituosen). Trotzdem liegt der Alkoholkonsum in der Bundesrepublik immer noch auf einem sehr hohen Niveau mit weitreichenden negativen Folgen:
- die Mortalitätsrate aufgrund von Alkoholmissbrauch liegt bei mind. 40.000 Toten jährlich;
- die volkswirtschaftlichen Kosten alkoholbezogener Krankheiten werden auf ca. 27 Mrd. Euro pro Jahr geschätzt;
- jährlich werden ca. 300.000 Straftaten unter Alkoholeinfluss verübt (ca. 15 % aller Straftaten);
- im Jahr 2012 ereigneten sich über 15.000 Verkehrsunfälle mit Personenschaden durch Alkoholeinfluss, bei denen über 19.000 Menschen verunglückten, von denen über 300 Menschen starben (ca. 10 % aller tödlich verunglückten Verkehrsteilnehmer).
Hinsichtlich der so genannten Konsummuster kann unterschieden werden in alkoholabstinent lebende, risikoarm konsumierende, riskant oder schädlich konsumierende und alkoholabhängige Menschen (siehe Tabelle oben).
Da sich diese Daten auf die deutsche Bevölkerung im Alter von 14 bis 59 Jahren beziehen, können sie auch übertragen werden auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Dies bedeutet, dass insgesamt ca. 20 % der Beschäftigten in der Bundesrepublik einen riskanten oder gar abhängigen Alkoholkonsum aufweisen. Als riskant oder problematisch gilt dabei ein Alkoholkonsum, mit dem man sich selbst oder andere schädigt (sozial, gesundheitlich, beruflich, finanziell), verbunden mit häufigem Trinken, Wirkungstrinken (Beeinflussung der eigenen Gefühlszustände, z.B. Stressabbau), Rauschtrinken oder Alkoholkonsum in kritischen, riskanten Situationen. Die Einbeziehung dieser riskanten Konsummuster erweist sich als zwingend notwendig, da inzwischen bekannt ist, dass dieses problematische Trinken mehr gesellschaftliche und betriebliche Schäden verursacht als die Alkoholabhängigkeit.
An dieser Stelle muss zwingend darauf hingewiesen werden, dass es im betrieblichen Kontext nicht darum geht, einen riskanten oder abhängigen Konsum zu diagnostizieren. Grundsätzlich liegt die Frage des Konsums von Alkohol in der individuellen Verantwortung jedes Einzelnen und nicht der betrieblichen Beurteilung. Erst wenn es durch den riskanten oder abhängigen Alkoholkonsum zu arbeitsrechtlichen Pflichtverletzungen kommt, kann und muss das Unternehmen intervenieren. Die negativen Folgen eines riskanten oder abhängigen Alkoholkonsums werden sich allerdings zwangsläufig einstellen.
Betriebliche Folgen riskanten und abhängigen Konsums von Alkohol
Neben den schon aufgezeigten kritischen Zusammenhängen des Konsums von Alkohol im Rahmen der Arbeitssicherheit und alkoholbedingter Arbeits- und Wegeunfälle können aus der Literatur weitere negative individuelle und betriebliche Folgen benannt werden:
- riskant Konsumierende fehlen häufiger als andere Beschäftigte;
- riskant Konsumierende sind häufiger arbeitsunfähig geschrieben;
- riskant Konsumierende fehlen häufiger über acht und mehrere Tage;
- riskant Konsumierende erleiden häufiger Arbeitsunfälle;
- riskant Konsumierende werden häufiger frühzeitig verrentet oder pensioniert;
- riskant Konsumierende weisen auf Dauer eine Einschränkung ihrer Arbeitsleistung um etwa 25% auf.
Riskanter oder abhängiger Alkoholkonsum ist für Unternehmen damit in folgenden Faktoren kostenrelevant:
- erhöhte Kurzfehlzeiten;
- krankheitsbedingte Ausfälle;
- kurz- und längerfristiger Personalersatz;
- quantitative und qualitative Minderleistung;
- Material- und Maschinenschäden;
- Kosten durch Arbeits- und Wege- unfälle;
- Imageverlust gegenüber Kunden/ Öffentlichkeit;
- Schädigung Dritter durch Fehlhandlungen;
- Vorzeitiges Ausscheiden wegen Frühverrentung.
Fazit: konsequente Programme zur betrieblichen Suchtprävention
Die aufgeführten Faktoren verdeutlichen, dass es für die Unternehmen sowohl aus Fürsorge- und Arbeitsschutzverantwortlichkeiten als auch aus betriebsökonomischen und personalwirtschaftlichen Interessen notwendig ist, die Thematik Alkohol und Arbeitswelt aktiv aufzugreifen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es Berufsgruppen mit einem erhöhten Risiko für problematischen Alkoholkonsum gibt, und dass ein Zusammenhang zwischen stressbelasteten Arbeitsbedingungen und erhöhtem Alkoholkonsum arbeitswissenschaftlich nachgewiesen ist.
Die Arbeitswelt erfüllt alle Anforderungen für erfolgreiche Suchtprävention. Hier kann ein großer Teil der erwachsenen Bevölkerung in einem organisierten Umfeld erreicht werden. Es bestehenzumeist etablierte Kommunikationsstrukturen und die Unternehmen haben ein hohes Eigeninteresse, gut ausgebildete, qualifizierte, berufserfahrene, gesunde und leistungsfähige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für sich zu erhalten. Betriebliche Suchtprävention resultiert dabei in einem eindeutigen Nutzenvorteil.
Dipl.-Sozialwirt Günter Schumann
Betrieblicher Sozial- und Suchtberater der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Unsere Webinar-Empfehlung
15.06.23 | 10:00 Uhr | Maßnahmenableitung, Wirksamkeitsüberprüfung und Fortschreibung – drei elementare Bausteine in jeder Gefährdungsbeurteilung, die mit Blick auf psychische Belastung bislang weniger Beachtung finden.
Teilen: