Die Öffentlichkeit wird, wenn auch zum Glück sehr selten, immer wieder mit Amokläufen und den damit einhergehenden Dramen von Opfern und Tätern konfrontiert. In vielfacher Hinsicht wirken auch Fehlalarme, die über Stunden als „Echtalarm“ behandelt werden, psycho-traumatologisch ähnlich auf die Schüler. Trotz der vermehrten Berichterstattung in den Medien scheint es, dass „Amok“ immer noch ein Tabuthema ist und Schulen auf Amoklagen nicht ausreichend vorbereitet sind.
Besteht schon Aufklärungs- und Informationsbedarf über „lebensrettende Sofortmaßnahmen bei Amokalarm“ für Schulleitungen und Lehrkräfte (vgl. Sicherheitsbeauftragter 2011, Heft 7–8, S. 26 ff.), gilt dies in weit höherem Maße für Schülerinnen und Schüler. Die Erklärung: In der Literatur und in Notfallleitfäden von Ministerien, Polizei und Schulbehörden wird fast durchweg davon abgeraten, Schüler ähnlich wie bei Brandschutzübungen auf Amoklagen vorzubereiten.
Das verunsichere und beunruhige Eltern und Schüler, lautet die übliche Begründung für diese Vogel-Strauß-Haltung.
Nach dem Amoklauf von Erfurt im Jahr 2002 nahmen viele Schulen erst die nachfolgenden Amokläufe von Emsdetten, Winnenden und Ansbach zum Anlass, sich überhaupt mit dem Thema zu befassen, die Polizei zu Vorträgen einzuladen und auf Elternabenden und in Elternbriefen zu versichern, auf solche Krisen vorbereitet zu sein. In der Zusammenarbeit mit Schulen stellt die Polizei jedoch in erster Linie ihr Konzept und ihre Erwartungen an Schulträger und Schulverwaltung vor und beschränkt sich auf sehr allgemeine Hinweise, die für das professionelle Verhalten der Lehrkräfte nur wenig ergiebig sind.
Sicherheitsgefühl stärken – Sicherheit steigern
Für alle Krisensituationen, die Angst, Furcht und Schrecken auslösen können, gilt, dass Schweigen Befürchtungen und Unsicherheit steigert, dagegen sachgerechte Informationen zur Beruhigung beitragen. Entscheidend für den Erfolg solcher Maßnahmen zur Beruhigung und Ermutigung ist nicht, dass sie durchgeführt werden, sondern wie. Unter Berücksichtigung solcher Erfahrungen gilt: Das sensible Thema „Amok“ muss einfühlsam, altersgerecht und Mut machend aufgegriffen und aufbereitet werden. Weiterhin müssen alle – Schule, Eltern und Schüler – einbezogen werden und alle müssen das Konzept „Verhalten bei Amokalarm“ gemeinsam tragen.
Zum Konzept
Eine sehr schwierige Situation bei einem Amokalarm ist, wenn im Akutfall die Schüler alleine und ohne Lehrkraft sind, wie es tagtäglich zum Beispiel in Pausen oder Freistunden vorkommt. Ausgehend von der Frage, was eine Klasse machen soll, wenn sie im Augenblick des Amokalarms ohne Lehrkraft ist, entschied eine Schule, ihre Schüler über zweckmäßiges Verhalten bei Amokalarm zu informieren.
Es sollte keine „Vollübung“ angeboten werden, sondern eine Informationsveranstaltung zunächst für ausgewählte Schüler als eine Art Testlauf, die die Kernthemen aufgreift, mit Experimenten und Übungen Handlungsimpulse fördert und Erfahrungen für künftige Veranstaltungen, auch in methodisch-didaktischer Hinsicht, vermittelt. Einbezogen wurden Krisenteammitglieder, Elternvertreter und die Notfallseelsorge. Es liegt auf der Hand, dass sich aus einer einzigen Pilotveranstaltung keine allgemeingültigen Regeln ableiten lassen – eine tendenzielle Aussage lässt sich hingegen wagen.
Auf den Ernstfall vorbereiten
Ziel war, die Schüler so zu informieren und anzuleiten, dass sie im Ernstfall schnell die lebensrettenden Handlungsmuster „abrufen“ können, ohne dass sie nach der Veranstaltung verängstigt und verunsichert den Schulbesuch verweigern wollen. Falsch angegangen ist eine solche Reaktion durchaus möglich, wie praktische Fälle zeigen. Um dies zu vermeiden, erschien ein Mix aus Information, Diskussion von Szenarien und lösungsorientierten praktischen Übungen als geeignet.
Täterziele – Schulziele
Ziel des Amokläufers ist es oft, möglichst viele Menschen zu töten. Dem gegenüber steht das Ziel der Schule, Opfer zu vermeiden und alle Schüler zu retten. Aus diesem Spannungsbogen muss ein tragfähiges Handlungskonzept abgeleitet werden, das die Schadensverhinderung erreichbar erscheinen lässt.
Run – hide – fight
Im eingesetzten Kurzfilm wurde das Szenario „Auf dem Schulhof“ vorgestellt: Eine Schülergruppe auf dem Schulhof hört Schüsse, bewertet sie als Gefahrenlage, flüchtet und warnt andere Schüler und Passanten. Einig waren sich alle, dass Flucht die beste Rettungsmöglichkeit sei. Befindet man sich draußen (Schulhof) oder gibt es einen direkten Zugang ins Freie (Raum im Erdgeschoss), ist Flucht angesagt.
Das Gleiche gilt, wenn kein Raum mehr direkt erreicht werden kann, der Schutz bieten könnte. Auf einem Flur die „richtige“ Fluchtrichtung zu finden, ist, wenn keine Informationen über einen Täteraufenthalt vorliegen, wie ein Glücksspiel. In solchen Situationen ist eine Risikominimierung „auf Null“ nicht möglich. Kann ein Klassenzimmer nicht mehr zum Schutz betreten werden, ist also Flucht und/oder Verstecken angezeigt.
Günstiger ist das Folgeszenario: „Flucht nicht mehr gefahrlos möglich“, weil sich der Klassenraum beispielsweise im Obergeschoss befindet und Betreten der Flure und Treppenhäuser aus Sicherheitsgründen zu unterbleiben hat. Lösungsvorschlag der Schüler: Klasse abschließen, Tür verbarrikadieren.
Wie lösungskreativ auch 12- und 15-Jährige sein können, erwies sich im praktischen Teil, als nur die Gegenstände verwendet werden durften, die sich im Raum befanden. Auf Anhieb fanden sie Wege, das Türöffnen wirksam zu verhindern, selbst wenn das Schloss der nach außen zu öffnenden Tür mit einem Schlüssel entriegelt wurde.
Eine kritische Phase entschärft
Amokläufe führen zu Situationen, die alle Beteiligten an ihre Grenzen bringen. Wie lässt sich zum Beispiel Kindern und Jugendlichen vermitteln, dass eine verbarrikadierte Tür nicht mehr geöffnet werden darf, auch wenn ein Klassenkamerad von außen an die Tür klopft und Einlass begehrt?
Schnell erkannten die Schüler, dass ein erreichtes Sicherheits- und Schutzniveau nicht mehr vermindert werden darf. Daher war für alle klar, dass die verbarrikadierte Tür verschlossen bleiben muss, und dass der Einzelne zu flüchten oder sich zu verstecken hat, anstatt verzweifelt von außen gegen die Tür zu trommeln und damit die Sicherheit der Klasse zu gefährden. Erkenntnis der Schüler: Dieser Grundsatz („Die Tür bleibt zu“) muss allen Angehörigen der Schule bekannt sein.
Letztes Mittel: Angriff
Das Szenario der verbarrikadierten Tür und Reaktionsmöglichkeiten darauf waren Grundlage für das folgende Horrorszenario: „Der Amokläufer betritt einen nicht verschlossenen Klassenraum.“
In einem solchen Fall bleibt nur noch der Angriff gegen den Täter als letzte Option. Zur vorherigen Einstimmung wurde in der Turnhalle ein Parcours aus Bänken und Kästen aufgebaut, an dessen Ende ein kräftiger Schüler stand, den es festzuhalten und bewegungsunfähig zu machen galt.
Auf Kommando sprangen die Akteure „über Tische und Bänke“ und gingen „erfolgreich“ gegen den Anderen vor. In der Übung lautete aus Sicherheitsgründen die Vorgabe, den „Täter“ nur festzuhalten, im Ernstfall wäre der Umgang mit ihm deutlich robuster gewesen.
Weitere Möglichkeiten wurden erprobt, zum Beispiel wie viele oder wenige Verteidiger ausreichen können, einen Angreifer abzuwehren.
Zurück im Klasseraum ließ sich dieser Impuls für den Transfer nutzen, den Schülerinnen und Schülern die Zuversicht zu vermitteln, selbst in der Situation des Super-GAUs nicht völlig hilflos zu sein, sondern noch etwas zur eigenen Rettung tun zu können.
Ziel erreicht: Furcht- und Angstabbau und Ermutigung zum Handeln
In der Rückmelderunde nach dem Training (und in den schriftlichen Rückmeldungen) sprachen sich die Teilnehmer dafür aus, auch allen anderen Schülern die wichtigsten Informationen zum zweckmäßigen Verhalten im Amokfall zu vermitteln. Als hilfreich hoben sie die Übungen und Experimente hervor, die ihnen erst das Gefühl gaben, künftig handlungsfähig zu sein. Eine rein kognitive Vermittlung in Form von Vorträgen oder Gedankenspielen hätte nicht den gleichen Effekt gehabt, möglicherweise sogar mehr zu Ängsten und Misstrauen untereinander beigetragen.
Zu erwähnen ist, dass schon im Vorfeld die Eltern der ausgewählten Schüler und die Elternvertretung das Projekt vorbehaltlos unterstützten.
Erfahrungen
- 1. Die Informationsveranstaltung war auf drei Schulstunden angelegt. Präsentation, Fragen und Antworten sowie die praktischen Übungen setzen einen längeren Zeitansatz voraus.
- 2. Es gab auch kritische Fragen, etwa: „Wird der Täter auf uns schießen, wenn wir angreifen?“
- 3. Ausgewählte Videosequenzen regen zur Diskussion an und tragen zum Praxistransfer bei.
- 4. Ohne besonderes Aufsehen ließe sich eine solche gezielte Vorbereitung in den Rahmen von Projekttagen zum Thema „Gewalt“ oder „Sicherheit an unserer Schule“ einbeziehen.
- 5. In die praktischen Übungen sollten alle Teilnehmenden einbezogen werden, um ihnen ein Gespür für Handlungsabläufe zu vermitteln und sie erkennen zu lassen, dass sie auch im Ernstfall genügend Ressourcen haben, eine solche Extremlage glimpflich zu überstehen.
- 6. Schließlich hängt der Erfolg des Konzepts auch von der gezielten Umsetzung ab, so dass die „Führungskräfte“ in den Klassen übungsmäßig erprobt haben sollten, Anweisungen zu geben für das Verbarrikadieren der Türen, Schließen der Vorhänge oder Jalousien und das Ausschalten der Mobiltelefone.
- 7. Ergänzend könnte das Thema „Psychische Erste Hilfe“ oder Beruhigen eines Menschen, der sich in Todesangst, tiefer Trauer oder ähnlicher psychischer Situation befindet, bearbeitet werden. Es könnte auch in einer Erste-Hilfe-AG und für sonstige Krisensituationen aufgegriffen werden.
- 8. Schließlich muss allen Schulangehörigen, auch den Schülern, das mit anderen Signalen unverwechselbare Auslösesignal (Alarmton, Durchsage…) für Amokalarm bekannt sein.
Verständigung über das „Ob“ und das „Wie“
Schulleitung, Lehrerkollegium, Schüler- und Elternvertretung und das Krisenteam müssen sich verständigen, ob den Schülern überhaupt Informationen über zweckmäßiges Verhalten in der extremen Krisensituation „Amokalarm“ vermittelt werden sollen.
Wenn sie sich für einen solchen Schritt entschieden haben, ist festzulegen,
- in welcher Art und Weise das Thema „Amok“ aufgegriffen und bearbeitet werden soll (notwendige Informationen, einfühlsam und altersgerecht, mutmachend, vorhandene Ressourcen stärkend),
- ob ausgewählte Schüler aus mehreren Klassen und Klassenstufen oder ob jeweils ein Klassenverband beschult werden sollen,
- dass jederzeit, auch zu einem späteren Zeitpunkt, Fragen willkommen sind,
- wie vorsorglich Betreuung sichergestellt ist, falls doch einige Kinder und Jugendliche Angst- und Stresssymptome zeigen oder Eltern über Auffälligkeiten berichten.
Mut zeigen
Die Schule bewies den Mut, das unbequeme und angstbehaftete Thema „Amok“ anzugehen und nicht – wie leider üblich – totzuschweigen. Die Verantwortlichen waren auch bereit, den etwaigen Sturm der Entrüstung von Polizei, Schulverwaltung und sonstigen „Fachleuten“ auszuhalten. Die Argumente für ihr Vorgehen ergeben sich aus der Testveranstaltung, und ich freue mich, dass ich Skeptikern künftig die Erfahrungen aus diesem Experiment, auch wenn dessen Ergebnisse nicht repräsentativ sind, entgegenhalten kann.
Mein Fazit: Nicht wegschauen und totschweigen, sondern offensiv die Themen angehen und für Lösungen offen sein. Das schafft bei allen Betroffenen mehr Sicherheit und auch den Mut, sich unbequemen Fragen und Situationen zu stellen.
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