In den Jahren 2019 und 2020 sah sich die Westnetz mit einer Serie schwerer Unfälle konfrontiert. Dies führte zu einer tiefgreifenden Analyse der Hintergründe und dem Start eines langfristigen HSE-Programms zur nachhaltigen Weiterentwicklung der Arbeitssicherheitskultur.
Ein wichtiger Bestandteil davon ist der positive Umgang mit Beinaheunfällen und unsicheren Situationen. Insbesondere das Schulen der Risikowahrnehmung, das organisationsübergreifende Lernen, aber auch das Abstellen unsicherer Situationen sind dabei zentral.
Konzept und Aktivitäten
Zu Beginn stellte sich die Herausforderung, dass durch die bestehenden Meldewege über PDF-Formular und E‑Mail nur circa ein Dutzend Beinaheunfälle und unsichere Situationen pro Jahr eingingen. Um dem zu begegnen, wurde ein ganzheitliches Konzept zusammengestellt und umgesetzt, das im Wesentlichen aus den folgenden Elementen besteht:
- Einfacher Meldeweg: Einführung einer intuitiven HSE-App
- Kontinuierliche Kommunikation: Erreichen aller Führungskräfte und Mitarbeitenden
- Integration in Unternehmensstrukturen: Zahl der Beinaheunfälle als wichtiger Indikator
- Lokale Bearbeitung: Schnelles Abstellen von Unsicherheiten vor Ort
- Zentrale Auswertung: Kontinuierliche Analyse der Meldungen und Integration von Erkenntnissen
Im Folgenden werden diese fünf Bestandteile näher vorgestellt.
Einfacher Meldeweg per App
In einem interdisziplinären Team, bestehend aus IT-Experten, technischen Mitarbeitern sowie Sicherheitsbeauftragten, entstand im Jahr 2020 eine HSE-App zur Meldung von Beinaheunfällen und unsicheren Situationen. Mit Unterstützung externer Partner wurde die Anwendung realisiert.
Die App ist über den unternehmensinternen App-Store für alle Mitarbeitenden der Westnetz zugänglich und einfach zu installieren. Die intuitive Eingabemaske ermöglicht die unkomplizierte Meldung von Beinaheunfällen.
Meldungen werden automatisch an das zentrale HSE-Team, die Führungskraft und die meldende Person versendet. „Über unser System können wir schnell und einfach Beinaheunfälle melden. Auch von unterwegs. Diese Benutzerfreundlichkeit ist top“, unterstreicht Carsten Janning, Sicherheitsbeauftragter Regionalzentrum Osnabrück.
Intensive Kommunikation
Die Meldewege und ihre Vorteile wurden intensiv durch eine breit angelegte Kampagne kommuniziert – zum Beispiel mit Info-Veranstaltungen, Werbeplakaten und Beiträgen im Intranet des Unternehmens. Ziel dieser intensiven Kommunikation war es, das aktive Lernen aus Beinaheunfällen und die Wahrnehmung von Risiken durch alle Mitarbeitenden positiv zu bestärken.
Hierbei konnten wir auf große Unterstützung durch Geschäftsführung und Vorstand bauen. Beispielsweise werden regelmäßig in einstündigen Online-Terminen allen Führungskräften und den über 300 Sicherheitsbeauftragten durch Geschäftsführung, Vorstand und zentralem HSE-Team Erkenntnisse aus den geteilten Beinaheunfällen und unsicheren Situationen vorgestellt.
Zum Unternehmensziel erklärt
Die Meldung von Beinaheunfällen und unsicheren Situationen wurde als einer der HSE-Indikatoren in die Unternehmensziele integriert und ist somit ein wesentlicher Bestandteil der Unternehmenssteuerung.
Im monatlichen HSE-Reporting wird die jeweils aktuelle Zahl geteilter Beinaheunfälle und unsicherer Situationen, neben anderen vorausschauenden Arbeitsschutzkennzahlen, an Geschäftsführung und Führungskräfte zurückgespielt. Somit bleibt das Thema dauerhaft von hoher Relevanz.
Abstellen der Risiken vor Ort
Meldende Personen und ihre direkten Führungskräfte sind angehalten, die Auslöser für Beinaheunfälle und unsichere Situationen direkt vor Ort abzustellen. Dies ist oft mit Aufwand verbunden, der in der Arbeitsplanung einkalkuliert werden muss.
Sicherheitsbeauftragte können hierbei mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung stark unterstützen. Durch ihre Nähe zu den operativen Teams können sie nicht nur bei der Abstellung der Risiken vor Ort helfen, sondern auch bei der team-internen Diskussion und Aufarbeitung.
Um den Aufarbeitungsprozess in den Teams zu unterstützen, werden nach Abgabe einer Meldung mit der HSE-App automatisiert weiterführende Informationen und Vorlagen zur Aufarbeitung an die meldende Person versandt.
Kontinuierliche Analyse
Ein zentrales Team im HSE-Bereich der Westnetz sichtet und wertet die eingehenden Meldungen täglich aus. Falls die lokalen Führungskräfte und Mitarbeitenden unsichere Situationen nicht selbstständig abstellen können, unterstützt das zentrale HSE-Team und leitet entsprechende Maßnahmen ein.
In manchen Fällen werden tiefergehende Ereignisanalysen angestoßen. Zudem speist das HSE-Team die Erkenntnisse in die Präventionsarbeit ein, bereitet Kommunikationsunterlagen auf und stellt diese allen betroffenen Beschäftigten zur Verfügung.
Entscheidend ist hier, dass Mitarbeitende und Führungskräfte sehen, dass ein geteilter Beinaheunfall auch eine Reaktion zur Folge hat und kein unnötiger Aufwand kreiert wird. Nur dann werden dauerhaft Meldungen abgegeben.
„Man sieht, dass gemeldete unsichere Situationen, etwa Stolperkanten oder eine unzureichende Beleuchtung, schnell abgestellt werden“, bestätigt Sicherheitsbeauftragter Carsten Janning. „Das zeigt mir, dass meine Meldung wichtig ist und wertgeschätzt wird.“
Seinem Kollegen Hendrik Hilwers, ebenfalls Sicherheitsbeauftragter im Regionalzentrum Osnabrück, gefällt zudem der einfache Verbreitungsweg für bedeutsame Wahrnehmungen: „Wir haben die Möglichkeit, Beobachtungen, die alle betreffen, schnell zu teilen. So können unsere Kollegen und Kolleginnen an anderen Standorten ebenfalls davon profitieren.“
Zusätzlich werden Erkenntnisse der zentralen Auswertungen an Partnerfirmen (Dienstleister, Schwesterfirmen etc.) geleitet und mit ihnen diskutiert.
Weitreichende Erfolge
Die Einführung des Gesamtkonzeptes zur Meldung von Beinaheunfällen und unsicheren Situationen bei der Westnetz hat zu beeindruckenden Ergebnissen geführt. Die Anzahl der gemeldeten Beinaheunfälle und unsicheren Situationen ist von circa einem Dutzend Meldungen im Jahr 2020 auf ein Niveau von rund 1.400 Meldungen im Jahr 2021 angestiegen. Seitdem beobachten wir kontinuierlich steigende Meldezahlen.
Die Anzahl der geteilten Beinaheunfälle und unsicheren Situationen sollte jedoch kein Selbstzweck sein. Weit wichtiger sind die damit einhergehenden Veränderungen, die zur Prävention von Unfallereignissen führen:
- Abgestellte unsichere Situationen: Etwa zwei Drittel der gemeldeten unsicheren Situationen konnten umgehend durch die Beseitigung der Auslöser abgestellt werden. In diesen Situationen waren keine weiteren Aktivitäten vor Ort nötig. Somit konnten weitere potenzielle Unfälle vermieden werden, bevor sie entstehen.
- Abgeleitete Sicherheitsimpulse: Besprechungen ab einer bestimmten Größe werden in der Westnetz mit einem kurzen Sicherheitsimpuls eingeleitet. Um dies zu unterstützen, stellt das HSE-Team wöchentlich einen zentralen Sicherheitsimpuls über das Unternehmens-Intranet zur Verfügung. Seit der Einführung des Gesamtkonzeptes zum Teilen von Beinaheunfällen konnten über 20 zentrale Sicherheitsimpulse basierend auf gemeldeten Beinaheunfällen bereitgestellt werden.
- Angestoßene Unfallanalysen: Beinaheunfälle, die zu einem schweren Unfallereignis hätten führen können, werden in der Westnetz mit einer detaillierten Ereignisanalyse (zum Beispiel in Form einer Grundursachenanalyse) aufgearbeitet. Auf Basis der eingehenden Meldungen wurden mehr als 26 Ereignisanalysen angestoßen. Die hieraus abgeleiteten Erkenntnisse sind für die weitere Unfallpräventionsarbeit sehr wertvoll und wären ohne die Möglichkeit zur Meldung von Beinaheunfällen nicht bekannt geworden.
Neben diesen quantitativ messbaren Erfolgen konnten wir zugleich eine qualitative Entwicklung unserer Arbeitssicherheitskultur beobachten. Diese ist zwar schwer in konkreten Zahlen darzustellen, trotzdem möchten wir sie an dieser Stelle nicht verschweigen.
- Positive Fehlerkultur: Mit unserem Ansatz möchten wir das Erkennen und Teilen eines Beinaheunfalls zu etwas Positivem machen, das vom Unternehmen anerkannt und wertgeschätzt wird. Durch vielfache Rückmeldung sehen wir, dass die kontinuierliche Diskussion von Beinaheunfällen und davon abgeleiteten Erkenntnissen eine offene Atmosphäre geschaffen hat, in der zum Besprechen und Aufarbeiten von Fehlern ermutigt wird. Dies fördert eine positive Fehlerkultur, in der nicht Schuldzuweisung, sondern Lernen und kontinuierliche Verbesserung im Vordergrund stehen.
- Erhöhtes Risikobewusstsein: Die kontinuierliche Suche nach unsicheren Situationen, in Verbindung mit der ständigen Kommunikation, haben zu einem gesteigerten Risikobewusstsein innerhalb der Belegschaft geführt. Mitarbeitende sind nun stärker sensibilisiert für potenzielle Gefahrensituationen und tragen aktiv zum Teilen der gewonnenen Erkenntnisse bei. Dies beobachten wir insbesondere anhand der Qualität der eingehenden Meldungen.
- Austausch und Reflexion: Die Diskussion von Beinaheunfällen und erkannten unsicheren Situationen in den Teams vor Ort hat zu einem verstärkten Austausch über Arbeitsschutz geführt. Teams setzen sich intensiver mit sicherheitsrelevanten Themen auseinander, tauschen Erfahrungen aus und reflektieren gemeinsam, um voneinander zu lernen und die Arbeit kontinuierlich sicherer zu gestalten. Dies wird weiter unterstützt durch unternehmensweit kommunizierte Sicherheitsimpulse aus anderen Einheiten.
Herausforderungen
Natürlich sind wir auf unserem Weg zur Förderung der Sicherheitskultur auch auf Herausforderungen gestoßen. Insbesondere waren folgende Punkte bedeutsam:
- Akzeptanz und Kulturwandel: Die Einführung der neuen Meldewege und die Förderung einer offenen Fehlerkultur erforderten einen Kulturwandel. Dies stieß nicht bei allen Mitarbeitenden von Anfang an auf uneingeschränkte Akzeptanz. Die Umstellung brauchte Zeit und Überzeugungsarbeit. Zu Beginn wurde das Teilen von Beinaheunfällen von einigen Personen als eine Art Petzen bezeichnet. Im Gegensatz zum Melden per App herrschte die Meinung vor, unsichere Situationen sollten direkt abgestellt werden, ohne dies weiter zu thematisieren. In der weiteren Kommunikation legten wir deshalb einen starken Fokus auf die Vorteile des bereichsübergreifenden Lernens und Aufarbeitens von Beinaheunfällen, das nur stattfinden kann, wenn Erkenntnisse auch geteilt werden.
- Technische Herausforderungen: Die neue HSE-App musste sich nicht nur technisch bewähren, sondern auch organisatorisch reibungslos in die täglichen Abläufe eingebettet werden. Die Verfügbarkeit der Anwendung muss jederzeit gewährleistet sein, da die Meldebereitschaft deutlich sinkt, falls eine Meldung aus technischen Gründen nicht möglich ist. Darüber hinaus erfordert der Umgang mit sensiblen Meldungen ein Höchstmaß an Datenschutz und Vertraulichkeit. Mitarbeitende müssen sich bei der Meldung stets sicher fühlen und Vertrauen in den Prozess haben.
Erfolgsfaktoren und Ausblick
Der Erfolg des Konzepts beruht aus unserer Sicht auf der Kombination der dargestellten Elemente. Kontinuität ist dabei ein entscheidender Faktor. Wir streben danach, die etablierten Maßnahmen nachhaltig zu verankern und kontinuierlich zu verbessern.
Darüber hinaus entwickeln wir unseren aktuellen Ansatz zur Arbeitssicherheit kontinuierlich weiter – etwa bei der automatisierten Auswertung der Meldungen – und integrieren unsere Partnerfirmen in den Prozess, zum Beispiel durch die Bereitstellung eines Online-Meldewegs.
Beispiele für aufgedeckte Beinaheunfälle
Die Meldungen von Beinaheunfällen und unsicheren Situationen bei Westnetz steigen kontinuierlich. Doch welche Mängel wurden und werden entdeckt? Hier einige konkrete Beispiele:
- Ein Bagger einer Fremdfirma arbeitet in der Nähe einer Freileitung und riskiert damit einen Störlichtbogen
- Die unzureichende Deinstallation eines Gashahnes in der Vergangenheit bietet das Potenzial für ausströmendes Gas
- Mangelnde Baustellenabsicherung im öffentlichen Raum führt zu Absturzgefahr
- Fehlende Feuerlöscher in einem Bürogebäude
- Stolperfallen durch falsch verlegte Kabel oder abgebrochene Fliesen
- Mitarbeiter legen Kabel frei und verspüren beim Schneiden vermeintlich spannungsfreier Kabel ein Kribbeln
Beinaheunfall
Bei unserem Verständnis von unsicheren Situationen und Beinaheunfällen lassen wir uns von der Unfallpyramide nach Heinrich leiten. Unter einer unsicheren Situation verstehen wir dabei eine mögliche Gefährdung (zum Beispiel eine abgebrochene Treppenstufe). Kommt der Mensch hinzu, kann es zu einem Beinaheunfall kommen (zum Beispiel das Stolpern über die Treppenstufe). Im schlimmsten Fall kommt es hier zu einem Unfall, bei dem sich der Mensch verletzt (zum Beispiel ein Treppensturz).
Westnetz GmbH
Mit mehr als 6.000 Beschäftigten und einer Versorgungsfläche von über 50.000 Quadratkilometern ist die Westnetz GmbH der größte Verteilnetzbetreiber für Strom und Gas in Deutschland. Als 100-prozentige Tochtergesellschaft der Westenergie AG und Teil des E.ON-Konzerns spielt sie eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung und Umsetzung der Energiewende. Ihre Aufgabe ist es, die Energienetze für die intelligente Netzinfrastruktur von morgen aus- und umzubauen, um eine sichere und effiziente Energieversorgung in der Region sicherzustellen.