Im Sommer vergangenen Jahres erschien im „Sicherheitsingenieur“ über mehrere Ausgaben ein sehr ausführlicher Bericht über das Arbeitsschutzsystem in der ehemaligen DDR. Dieser Bericht bedarf dringend persönlicher Ergänzungen von Seiten des Autors.
Dr. Peter Krommes
Ich habe im Frühsommer 1990 den Auftrag erhalten, für die BG Chemie den Technischen Aufsichtsdienst in den Ländern Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt aufzubauen. In dieser Funktion war ich von 1990 bis 1994 in den neuen Bundesländern tätig und konnte mir dabei einen dezidierten Eindruck über den „real existierend Arbeitsschutz“ in der DDR verschaffen.
Ich denke, dass es dringend geboten ist, die damals von mir beobachteten Fakten in Erinnerung zu rufen, damit nicht Nostalgiker im Nachhinein dieses in Wirklichkeit menschen-verachtende System in der DDR heute glorifizieren!
Sommer 1990 …
Wir hatten im Frühsommer 1990 Informationen erhalten, dass ca. 350.000 Beschäftigte in der chemischen Industrie der DDR tätig waren. Vertreter der Modrow-Regierung hatten zu dieser Zeit das Volksvermögen der DDR auf ca. 1.000 Milliarden DM veranschlagt. Mit dieser Mitgift, in einem praktisch schuldenfreien Staat, der sich immer wieder als zwölftstärkste Wirtschaftsmacht der Welt dargestellt hatte, erschien die DDR als durchaus gut ausgestatteter Partner für die deutsch/deutsche Eheschließung. Dass diese Einschätzung wohl ziemlich an den Realitäten vorbeiging, wurde mir bei meinen ersten Aufenthalten in Ostdeutschland sehr schnell bewusst!
Meine Aufgabe bestand damals darin, neue Mitarbeiter einzuarbeiten und mich mit ihnen um die Arbeitsschutzbelange in den neuen Mitgliedsbetrieben der chemischen Industrie Ostdeutschlands zu kümmern. Ich hatte mir noch in Westdeutschland das Arbeitsgesetzbuch der DDR und eine Sammlung von Arbeitsschutzvorschriften besorgt und war von dem außerordentlich hohen Niveau sehr angetan. Danach hätte eine weitgehende Übernahme von westdeutschen Vorschriften, wie im Überleitungsvertrag vorgesehen, keine größeren Probleme mit sich bringen dürfen.
Die Wirklichkeit …
Meine ersten Betriebsbesichtigungen im Herbst 1990 lösten bei mir blankes Entsetzen aus. Anspruch und Wirklichkeit klafften in unglaublicher Weise auseinander. Das in der Theorie hervorragende System zum Schutz der Beschäftigten war in der Praxis, auch durch Ausnahmegenehmigungen, fast völlig zum Erliegen gekommen, solche völlig verwahrlosten, maroden Chemieanlagen hatte ich bis dahin noch nie gesehen!
Wie die chemische Industrie der DDR zur Wendezeit wirklich aussah, kann man einem Bericht von kritischen Führungskräften der damaligen Leunawerke (nicht von „bösmeinenden“ Treuhandmanagern!) entnehmen, der im Sommer 1990 erstellt wurde. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die „VEB Leuna-Werke Walter Ulbricht“ ein offizieller DDR-Musterbetrieb waren:
- „Die Infrastruktur dieses Industriebetriebes ist völlig marode. Die Energieversorgung hat schlechte Wirkungsgrade, ist unzuverlässig und von Grund auf erneuerungsbedürftig. Das Produktionsprofil ist veraltet. Es gibt kein Produktionskonzept, die Grundmittelsubstanz ist verschlissen, die Reparaturbereiche sind nicht leistungsfähig und überlastet. Die notwendigsten Reparaturen werden nicht durchgeführt. Die Arbeitszeitauslastung durch die Menschen ist schlecht. Die Investitionsfähigkeit ist fast völlig zusammengebrochen. Investitionen, die noch gemacht werden, sind zu teuer, das Produktionspersonal ist überaltert, hat keine hohe Disziplin. Die Qualifikation des Produktionspersonals einschließlich der Schichtleiter sinkt ständig. Die Führungskräfte sind demotiviert und werden durch die sog. sozialistischen Leitungsaufgaben von fachlicher Arbeit ferngehalten, so dass das Produktionsniveau seit Jahren stagniert. Innovationsanstöße sind Mangelware. Inner- wie außerbetriebliche Transportfragen sind große Störfaktoren für die Produktion. Moderne Informationstechnik existiert kaum in Ansätzen. PC und Roboter sind Farcen für die politische Statistik. Der Anteil der nicht nützlichen Tätigkeiten unter den Beschäftigten beträgt mehr als 25%. Das Werk hat keine internationalen Vertriebs- und Tochtergesellschaften, das Management hat keine hohe Qualifikation, ist international unerfahren und unfähig in globalen Dimensionen zu denken. Alles Bedingungen, die einen Chemiebetrieb der DDR mit mindestens dem doppelten volkswirtschaftlichen Kostenaufwand arbeiten lassen gegenüber einem westlichen Chemiekonzern. Hinzu kommt, dass mindestens 8 bis 10 Milliarden DM zur Sanierung und Modernisierung des Chemiekombinates benötigt werden. Verglichen mit anderen Betrieben der DDR-Volkswirtschaft muss aber noch eingeschätzt werden, dass dieses Werk noch zu den leistungsfähigsten Kombinaten gehört, es in den anderen Werken der DDR noch viel schlimmer aussieht.“
Insbesondere da, wo allein die Gesundheit der Mitarbeiter und nicht die Anlagensicherheit betroffen war, wurde mit frühkapitalistischer Rücksichtslosigkeit vorgegangen. Im November 1990 wurde uns ein Bücherschrank voller Akten zugespielt, die ca. 100 Ausnahmegenehmigungen des zuständigen Ministeriums der DDR für die chemische Industrie enthielten. Ich darf drei Beispiele vorstellen:
a) Zinkchromat
In diesem Betrieb, der bereits im Frühjahr 1991 aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen wurde, hatten ca. 120 Mitarbeiter unter unvorstellbaren Bedingungen gearbeitet. Bis zu den Knöcheln stand man in dem hochtoxischen und krebserzeugenden Zinkchromat. Messungen, die ordentlich in den Akten dokumentiert waren, belegten, dass die zulässigen Grenzwerte, die auch in der DDR existierten, um mehr als das 30.000-fache (!) überschritten waren. Über ca. 15 Jahre war in streng vertraulichen Akten sauber festgehalten worden, wie schlimm die Arbeitsbedingungen waren. Die Mitarbeiter wurden gezielt im Unklaren gelassen, Maßnahmen zum Arbeitsschutz die auch nach DDR Recht dringend erforderlich gewesen wären, unterblieben!
b) Bischlormethylether
Dieser Stoff gilt als „das Plutonium der Chemie“. Es ist bekannt, dass schon kurzzeitiger Kontakt mit Bischlormethylether, der auch reizend auf die Atemwege wirkt, das Krebsrisiko dramatisch ansteigen lässt. Über den Arbeitsbereich in diesem DDR-Betrieb gibt es folgenden Originalbericht eines Werksarztes:
- „Mit dem Anlaufen der Produktion traten häufiger als es im Hinblick auf die technische Neuanlage zu erwarten war, Reizerscheinungen bei den Belegschaftsmitgliedern auf, in Form von plötzlich einsetzenden erstickenden Hustenanfällen, über Minuten dauernd, heftiges Oppressionsgefühl auf der Brust, stärkste Erschütterungen des gesamten Brustkorbes, teilweise auch Erbrechen, deutlich verlängertes Exspirium, rötlich-bläuliche Verfärbung von Gesicht und Hals mit Stauung der Halsvenen. Wenn der Betriebsarzt in den Betrieb gerufen wurde, fand er oft den Kollegen bereits im Freien, den Oberkörper nach vorn gebeugt, beide Unterarme gegen den Rippenbogenrand gepresst oder, erschöpft von quälendem Hustenreiz, mit dem Oberkörper gegen die Wand gelehnt.“
Trotz dieser katastrophalen Arbeitsbedingungen beim Umgang mit einer der gefährlichsten Chemikalie überhaupt wurde wenig unternommen, der Arbeitsprozess mit einer „Ausnamegenehmigung“ sanktioniert, die Mitarbeiter wurden über die extreme Gesundheitsgefahr im Unklaren gelassen.
c) Vinylchlorid (VC)
In diesem Betrieb arbeiteten mehrere hundert Mitarbeiter. In den uns vorliegenden Unterlagen wurde dokumentiert, dass die Belastungen noch 1990 das mehrere 1.000-fache des zulässigen Grenzwertes betrug. Auch VC ist ein stark krebserzeugender Stoff. Keinem Mitarbeiter war das Gesundheitsrisiko am Arbeitsplatz bewusst, Arbeitsschutzmaßnahmen unterblieben.
Diese Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. Neben den Ausnahmegenehmigungen des Ministeriums gab es, wie ich im Januar 1991 erfahren habe, Tausende von Ausnahmegenehmigungen, die auf Bezirksebene ausgestellt waren. Das Arbeitsschutzsystem war durch diese Vorgehensweise durchlöchert wie ein Schweizer Käse.
Da wir nicht nur für die Prävention, sondern auch für die Rehabilitation zuständig sind, wurden von uns sofort Ermittlungen durchgeführt, in wie vielen Fällen die zu erwartenden Berufskrankheiten ausgebrochen waren und wie die medizinische Betreuung optimiert werden könnte. Wir hatten doch alle von dem angeblich so perfekten Krebskataster der DDR gehört, mussten aber feststellen, dass beispielsweise für die drei oben genannten Betriebe kein einziger Krebsfall gemeldet war!!!
Mir ist teilweise auch heute noch nicht klar, mit welch perfiden Methoden diese Erkrankungen verschleiert werden konnten. In einem Fall, durch VC verursachten Leberkrebs, wissen wir es: Es war nämlich einfach untersagt, bei allen an Lebererkrankungen Gestorbenen, eine Obduktion vorzunehmen. Nur dadurch kann diese Berufskrankheit eindeutig nachgewiesen werden. Weltweit, auch in den alten Bundesländern, hat man bis in die 60er Jahre VC falsch eingeschätzt. Als es dann zu dramatischen Erkrankungen kam, wurden in Westeuropa die Anlagen völlig umgestaltet und die Mitarbeiter durch moderne Technologien geschützt. In der DDR hat man bis 1990 unter den alten, extrem belastenden Bedingungen gearbeitet!
Wir haben in den Jahren 1991 und 1992 alle uns bekannt gewordenen Betriebe mit Ausnahmegenehmigungen aufgesucht und unter Einsatz eines großen Teils des Messtechnischen Dienstes der BG Chemie die Arbeitsplatzbedingungen nochmals geprüft und anschließend bei der Umsetzung der dringend notwendigen Sanierungsmaßnahmen mitgeholfen. In einer umfangreichen Dokumentation haben wir in allen diesen Fällen die Belastungen an den Arbeitsplätzen dokumentiert, damit vielen zehntausend Beschäftigten in diesen Betrieben zu einer nachgehenden arbeitsmedizinischen Betreuung verholfen und für die zu erwartenden Berufskrankheitenverfahren die Beweissicherung ermöglicht! Außerdem wollten wir mit dieser Arbeit einer späteren Geschichtsklitterung bei der Betrachtung des Arbeitsschutzes in der DDR vorbeugen!
Aber zunächst standen wir vor dem kritischen Problem, dass ein Teil der alten DDR-Chemieanlagen aus wirtschaftlichen Gründen kurz vor der Stilllegung stand und in den verbleibenden, um das Überleben kämpfenden Anlagen sich die Arbeitsschutzbedingungen oft auf dem beschriebenen miserablen Niveau befanden. Der Zwang, wirtschaftliche Belange und sofort notwendige Arbeitsschutzmaßnahmen unter einen Hut zu bringen, hat mich manche Nacht nicht schlafen lassen (und das ist nicht rhetorisch gemeint)!!
So haben wir zum Beispiel als Sofortmaßnahme in einigen Fällen angeordnet und durchgesetzt, dass mehrere hundert komfortable Atemschutzgeräte (sogenannte fremdbelüftete Atemhauben) angeschafft und von den Beschäftigten an den belastenden Arbeitsplätzen getragen wurden. Dabei kam ich mir zwischenzeitlich wie ein Generalvertreter der Atemschutzfirmen Rakal, Auer und Dräger in Ostdeutschland – allerdings ohne dessen Erfolgsprovision – vor.
An dieser Stelle muss aber noch darauf hingewiesen werden, dass es durchaus auch positive Ausnahmen gab! Ich denke da zum Beispiel an ein Arzneimittelwerk in Sachsen, in dem ein ungewöhnlich couragierter Betriebsleiter in seinem Bereich ein Arbeitsschutzsystem auf mitteleuropäischem Niveau umsetzen konnte!
Persönliches Fazit
Fast fünf Jahre habe ich in den neuen Bundesländern verbracht, Jahre, die sicher zu den aufregendsten meines Lebens gehören. Ich habe mit verhaltenem Zorn auf meinen Arbeitgeber, der mich in den „wilden Osten“ versetzt hatte, meine Arbeit begonnen, und sie mit heißem Zorn auf die ehemaligen Machthaber der DDR beendet.
Ich bin heute froh, dass ich mich über die Wiedervereinigung Deutschlands und die Verhältnisse in der DDR nicht aus zweiter Hand informieren lassen musste. Ich bin aber unendlich froh darüber, dass ich bis 1990 in dem Teil Deutschlands leben durfte, der nicht 40 Jahre lang durch die SED beherrscht wurde.
Anmerkung: Dieser Bericht ist Teil einer umfassenden Darstellung der Gefahrstoffsituation in den neuen Bundesländern, die vom Verfasser auf einer gemeinsamen Veranstaltung der Kommission der Europäischen Gemeinschaft, des Deutschen Verbindungsausschusses und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz (BAU) bereits im Juli 1992 in Dresden vorgestellt wurde.
Literatur: „Die BG“ Nov. 1992
Autor
Dr. Peter Krommes
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