Das „Stechuhr-Urteil“ des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) stammt aus dem Jahr 2019. Mit seinem Urteil hat das Gericht nichts Neues gefordert. Es hat lediglich verlangt, dass in den Mitgliedstaaten geltendes Recht – in dem Fall das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) – eingehalten wird. Um das sicherzustellen, müssen Arbeitszeiten tagesaktuell erfasst werden. Grund für die Entscheidung waren damals unter anderem steigende Krankheitszahlen etwa bei Burnout.
Nicht nur erheben, sondern erfassen
In Deutschland regelt das Arbeitszeitgesetz unter anderem die Höchstarbeitszeit sowie die Ruhepausen und das Verbot von Sonn- und Feiertagsarbeit. Doch woher weiß man, ob die Vorgaben eingehalten werden? In einigen Berufen ist es üblich, Arbeitszeiten lediglich zu erheben, aber nicht zu erfassen. Was bedeutet das?
Auf einem Schichtplan steht beispielsweise, wann eine bestimmte Person im Einsatz ist. Die Schicht entspricht also der Arbeitszeit. Aufgeschrieben – und das bedeutet erfasst – werden lediglich die Überstunden, die zusätzlich zum vorgegebenen Schichtdienst anfallen.
Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes, dem darauf basierenden Beschluss des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 13. September 2022 und dem Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) vom 18. April 2023 genügt dies künftig nicht mehr: Der Arbeitgeber hat demnach die Verpflichtung, für alle im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes (§ 5 Abs. 1 Satz 1) im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmenden ein Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen und zu verwenden.
Mit diesem muss Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit aufgezeichnet werden. Schicht- und Dienstpläne, Notizen zu Überstunden, die ausschließliche Dokumentation von Arbeitsbeginn und ‑ende oder von Projektstunden sind in Zukunft nicht mehr ausreichend.
Gründe für die Zeiterfassung
Warum ist es sinnvoll, die Arbeitszeit der Beschäftigten zu erfassen?
- Arbeitgeber wollen wissen, ob und wie viel ihre Beschäftigten pro Tag, Woche, Monat und Jahr arbeiten. Die Stundenzahlen sind die Basis für die Lohn- und Gehaltsabrechnung. Außerdem werden so Urlaubs- und Krankentage erfasst. Sind die Stunden korrekt angegeben, lässt sich aus Überstunden beispielsweise ablesen, dass zu viel Arbeit von zu wenig Mitarbeitenden zu erledigen ist. So können Missverhältnisse erkannt und verändert werden.
- Arbeitnehmer dokumentieren mit der Arbeitszeiterfassung, wie lange sie gearbeitet haben. Damit behalten sie ihre Über- oder Unterstunden selbst im Blick. Denn manchmal ist es während des Arbeitsprozesses gar nicht so einfach, die Zeit korrekt einzuschätzen. Macht eine Aufgabe Spaß oder wird sie unter großem Druck erledigt, täuscht sich das menschliche Zeitgefühl gerne einmal. Minutengenaue Zeiterfassung verhindert unter anderem unbezahlte Überstunden.
- Auftragnehmer können anhand der Zeiterfassung Auftraggebern gegenüber belegen, wie viele Arbeitsstunden sie für ein Projekt benötigt haben. Es ist für beide Seiten interessant zu wissen, ob die aufgewendete Zeit mit der Aufwandsschätzung übereinstimmt. Denn so lassen sich bei Folgeprojekten die Einsatzzeiten bei Bedarf nach oben oder unten anpassen.
Gegen eine Zeiterfassung spricht, dass sich manche Beschäftigte durch diese gegängelt und kontrolliert fühlen. Zudem können die Personalkosten steigen, wenn in Softwarelösungen investiert oder die Nutzung von Apps bezahlt werden muss.
Arbeits- und Gesundheitsschutz
Einer der wichtigsten Gründe, warum Arbeitszeiterfassung sinnvoll ist, ist der Gesundheitsschutz. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes und der darauf basierende BAG-Beschluss des Bundesarbeitsgerichts (BAG) dienen vor allem dem „Schutz vor Fremd- und Selbstausbeutung“, so die BAG-Präsidentin Inken Gallner. Denn manchmal ist es gar nicht so einfach, das gesunde Maß an Belastung zu finden.
So kann es durchaus eine Weile gut gehen, länger als „normal“ zu arbeiten oder weniger Erholungszeit zu haben. Doch auf Dauer wirkt sich das negativ aus. Mit einer klaren Regelung sowie der Einhaltung und Dokumentation der Arbeitszeiten sollen Erkrankungen wie beispielsweise Burnout vorgebeugt werden.
Neue Arbeitswelt
Durch neue Arbeitskonzepte wie Vertrauensarbeit, mobile Arbeit oder das Arbeiten im Homeoffice steigt die Selbstverantwortung der Beschäftigten. Doch egal in welcher Form gearbeitet wird: Mehr als 48 Stunden pro Woche dürfen es nicht sein. Zudem müssen Pausenzeiten sowie täglich elf Stunden Ruhezeit am Stück eingehalten werden.
Beides ist übrigens nichts Neues. Diese Mindestanforderungen des Arbeitszeitrechts galten schon vor dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) beziehungsweise der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes (BAG).
Sonderfall Lehrkräfte
Es gibt aber auch Berufe, bei denen Arbeitsbeginn und ‑ende klar definiert und durch ein akustisches Signal sogar hörbar sind. In der Schule etwa, wo bei jedem Stunden-Pausenwechsel ein Gong ertönt. Da scheint eine zusätzliche Zeiterfassung überflüssig.
Doch wie sieht es mit den Arbeitsstunden aus, die Lehrkräfte zu Hause erbringen, etwa beim Korrigieren von Klassenarbeiten, bei der Unterrichtsvorbereitung oder in der unterrichtsfreien Zeit? Denn auch Lehrerinnen und Lehrer stehen nur rund 30 Urlaubstage pro Jahr zu, obwohl sie viel mehr Schulferien haben.
Ausnahmen von der Regel
Von der Arbeitszeiterfassung sind alle Beschäftigten betroffen – auch Mitarbeitende im Außendienst, im Homeoffice sowie Lehrkräfte, selbst wenn diese Beamte sind. Von der Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung ausgenommen, da für sie das Arbeitszeitgesetz nicht gilt, sind weiterhin
- Leiter von öffentlichen Dienststellen und deren Vertreter,
- Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst, die zu selbstständigen Entscheidungen in Personalangelegenheiten befugt sind,
- Chefärzte,
- Arbeitnehmende, die beruflich in häuslicher Gemeinschaft mit ihnen anvertrauten Personen zusammenleben und sie eigenverantwortlich erziehen, pflegen oder betreuen sowie
- Beschäftigte im liturgischen Bereich von Kirchen und Religionsgemeinschaften.
So sollte die Zeiterfassung erfolgen
Die Arbeitgebenden sind verpflichtet, die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeitenden objektiv, verlässlich und systematisch zu erfassen. Diese Pflicht können Arbeitgeber auf ihre Beschäftigten übertragen. Dazu bietet sich eine Betriebsvereinbarung an, in der geregelt ist, wie die Arbeitszeit zu erfassen ist und dass dies ordnungsgemäß zu erfolgen hat.
Der Arbeitgeber beziehungsweise die Arbeitgeberin muss überprüfen, ob die Arbeitnehmenden tatsächlich ihre Arbeitszeit erfassen, die Angaben plausibel sind und die Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes berücksichtigt werden. Zu erfassen sind der Name des Arbeitnehmers/der Arbeitnehmerin, das Datum, Arbeitsbeginn, Arbeitsende, Pausenzeiten und Stundenzahl. Die Pausenzeiten sind aus der Stundenzahl herauszurechnen.
Tools zur Arbeitszeiterfassung
Aktuell gibt es noch keine endgültigen Vorschriften, wie die Arbeitszeiten zu dokumentieren sind. Allerdings ist davon auszugehen – und so sieht es auch der aktuelle Referentenentwurf des BMAS vor –, dass sich die digitale Dokumentation durchsetzt. Arbeitgeber sind mit ihr in jedem Fall rechtlich auf der sicheren Seite. Denn mit einem digitalen Tool lässt sich einfach nachweisen, dass Arbeits- und Pausenzeiten eingehalten wurden.
Inzwischen gibt es für viele Branchen und Berufe passende digitale Tools zur Zeiterfassung, ob am Computer, mit dem Tablet oder Smartphone. Auf alle Fälle sollte ein einheitliches System gewählt werden, mit dem alle Mitarbeitenden ihre Arbeitszeit erfassen können.
Wichtig ist es, bei der Auswahl die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) zu berücksichtigen. So müssen zum Beispiel die Server, auf denen die Daten gespeichert werden, in der Europäischen Union (EU) stehen. Nutzen Arbeitgeber einen Cloudanbieter oder einen eigenen Server, sollten zwei Sicherungen an zwei unterschiedlichen Orten erfolgen.
Wer prüft die Arbeitszeiterfassung?
Werden Stunden nicht, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig erfasst und nicht mindestens zwei Jahre aufbewahrt, oder kommt es zu Verstößen bei den Arbeits- und Ruhezeiten, drohen Bußgelder bis zu 30.000 Euro. Allerdings muss die zuständige Arbeitsschutzbehörde zunächst anordnen, dass die Arbeitszeit im Betrieb erfasst wird. Erst, wenn dieser Anordnung keine Folge geleistet wird, drohen Geldbußen.
Aktueller Stand: Gesetzentwurf
Am 18. April 2023 hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) einen ersten Referentenentwurf für ein Gesetz zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes und anderer Vorschriften vorgelegt, um gesetzliche Regelungen zur Arbeitszeiterfassung einzuführen. Demnach sollen die Arbeitszeiten grundsätzlich elektronisch erfasst werden. Abweichungen und Ausnahmen von der Pflicht zur Zeiterfassung können auf Basis von Tarifverträgen erfolgen. Vertrauensarbeit bleibt weiterhin möglich. Außerdem soll nach Inkrafttreten des Gesetzes eine Übergangsfrist von bis zu fünf Jahren gelten, bevor Verstöße geahndet werden. Da es sich um einen Entwurf handelt, sind in einigen Punkten jedoch noch Änderungen zu erwarten.
Zeiterfassung ist Gesundheitsschutz
- Gemäß § 3 Abs. 1 ArbSchG ist der Arbeitgeber verpflichtet, Maßnahmen zu treffen, die die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. Außerdem muss er die Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit überprüfen und erforderlichenfalls ändern beziehungsweise den Gegebenheiten anpassen. Bei Bedarf hat er die erforderlichen Mittel bereitzustellen, § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG.
- Nach dem „Stechuhr-Urteil“ des EuGH vom Mai 2019 (Az. C‑55/18) entschied das Bundesarbeitsgericht (BAG) im September 2022 (Az. 1 ABR 22/21), dass Arbeitgeber bereits nach geltendem Recht verpflichtet seien, ein System einzuführen, mit dem die Arbeitszeit der Arbeitnehmenden erfasst werden kann.
- Mit der Pflicht der Arbeitszeiterfassung soll unter anderem sichergestellt werden, dass Regelungen zu Höchstarbeitszeit und Ruhezeiten eingehalten werden.
Weitere Informationen
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- Fragen und Antworten zur Arbeitszeiterfassung hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zusammengestellt (auch als PDF zum Download), www.bmas.de Arbeit Arbeitsrecht Arbeitnehmerrechte Arbeitszeitschutz
- Informationen zum Thema Arbeitszeiterfassung finden sich auch auf dem Informationsportal für Arbeitgeber, das von der ITSG GmbH im Auftrag des Bundesinnenministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) betrieben wird; www.informationsportal.de Aktuelle Meldungen Neues zur Arbeitszeiterfassung
Arbeitszeiterfassung: Drei Beispiele
BL Beleuchtungstechnik GmbH
Die insgesamt acht Mitarbeiter der BL Beleuchtungstechnik GmbH erfassen ihre Stunden seit 2018 digital an ihren Tablets mit dem Tool Clockin. Zuvor wurden Stundenzettel von Hand auf Papier geschrieben. Durch das Stechuhr-Urteil hat sich nichts verändert, da die Umstellung auf die digitale Stundenerfassung schon vorher stattgefunden hat.
Die Digitalisierung habe vieles einfacher gemacht, sagt Geschäftsführer Christoph Lüken. „Die Planung und Aufzeichnung von Arbeitszeiten finde ich sehr wichtig für uns und den Kunden. Auch den Mitarbeitern gegenüber. So geht nichts verloren und alles ist gläsern.“
Techniker Krankenkasse
Auch bei der Techniker Krankenkasse (TK) hat sich nicht erst durch das Stechuhr-Urteil etwas verändert, denn auch sie erfasst die Arbeitszeiten ihrer rund 14.000 Mitarbeitenden bereits seit 2005 digital. Die Beschäftigten zeichnen ihre Kommen-Gehen-Zeiten sowie Abwesenheiten wie Urlaube und Dienstreisen dabei selbstständig auf – sowohl im Büro als auch im Außendienst oder im Homeoffice.
Da alle Mitarbeitenden der TK mit Laptops ausgestattet sind oder Zugriff auf einen stationären Rechner haben, erfolgt die Erfassung ortsungebunden am jeweiligen Arbeitsort. Genutzt wird dazu ein SAP-Employee-Selfservice (ESS), der auf die spezifischen Arbeitszeitregelungen der TK angepasst wurde.
BASF
Die rund 35.000 Mitarbeitenden der BASF SE am Standort Ludwigshafen arbeiten in verschiedenen Arbeitszeitmodellen – zum Beispiel Gleitzeit, Schichtarbeit, Vertrauensarbeitszeit. Bei allen Modellen wird schon seit Jahren die Arbeitszeit der Mitarbeitenden erfasst, wobei sich die Details der Erfassung – abhängig von der Ausgestaltung des jeweiligen Arbeitszeitmodells – unterscheiden.
Eine Ausnahme bilden zudem leitende Angestellte, die von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ausgenommen sind. Das Unternehmen verfolgt die aktuellen Entwicklungen zum Thema Arbeitserfassung und die von vielen Betrieben erwartete gesetzliche Neuregelung: „Mit Blick auf den BAG-Beschluss hat der Gesetzgeber bereits eine schnelle konkretisierende gesetzliche Regelung angekündigt. Sollte diese es erfordern, wird die BASF SE ihre Systeme zur Arbeitszeiterfassung entsprechend anpassen“, erklärt Helena Volk, External Site Communications Ludwigshafen.