Der Kläger ist Meister für die elektromechanische Betreuung mit vier ihm unterstellten Beschäftigten. Die Arbeitgeberin mahnte ihn bereits im April 2019 ab: „Am 23.04.2019 habe ich Sie im Heizungsraum des Bürogebäudes ‚versteckt‘ hinter den Wasserkesseln Zeitung lesend angetroffen“.
Im Februar 2020 öffneten dann zwei Geschäftsführer in Begleitung eines Betriebsratsmitglieds die Tür zum Schaltschrankraum und fanden dort den Kläger „auf einem Stuhl sitzend Zeitung lesend oder schlafend (war nicht genau ersichtlich) vor“. Bei der Lektüre habe es sich um die Bild-Zeitung gehandelt. Der Betriebsrat stimmte der Kündigung des Meisters zu.
Bild- oder Bauzeitung?
Der Meister behauptet, er habe nicht geschlafen, sondern „in Wahrnehmung seiner betrieblichen Aufgaben als Sicherheitsbeauftragter die sicherheitsrelevante Bauzeitung (BAUZ), Unfallzeitung für Betonwerke der BG Chemie, gelesen“.
Er wollte „ein Messgerät am Schaltschrank über eine Dauer von wenigstens 20 Minuten ablesen. Da er das Messgerät in dieser Zeit nur alle drei bis vier Minuten ablesen musste, habe er sich zuvor die BAUZ aus dem Pausenraum geholt, um darin währenddessen zu lesen“.
Der Meister klagte gegen die fristlose Entlassung. Das Arbeitsgericht Neumünster gab seiner Kündigungsschutzklage statt. In der Urteilsbegründung des Gerichts spielte es jedoch keine Rolle, ob er die Bild- oder die Bauzeitung in Händen hielt.
Zweistufige Prüfung
Im Fall einer fristlosen Kündigung hat das Gericht eine zweistufige Prüfung vorzunehmen – nach folgenden Entscheidungsgrundsätzen: „Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dabei ist nach der Zweistufenlehre zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt an sich geeignet ist, einen außerordentlichen Kündigungsgrund darzustellen. In der zweiten Stufe ist dann zu prüfen, ob auch der konkrete Einzelfall und die Interessenabwägung die außerordentliche Kündigung zulassen.“
Verhaltensbedingte Kündigung
Es geht um eine Kündigung aus Gründen des „Verhaltens des Arbeitnehmers“ im Sinne des § 1 Abs. 2 KSchG. Das Arbeitsgericht hat schon hier Zweifel daran, dass ein Grund für eine verhaltensbedingte Kündigung vorliegt: „Zwar ist das Lesen einer Zeitung und das Schlafen während der Arbeitszeit jeweils eine Pflichtverletzung aus dem Arbeitsverhältnis. Insoweit ist nämlich anerkannt, dass, wenn der Arbeitnehmer während der bezahlten Arbeitszeit seine Arbeit unterbricht und untätig bleibt, weil er sich privaten Dingen widmet (zum Beispiel eine Zigarettenpause einlegt, private (Telefon-)Gespräche führt, Karten spielt, privat im Internet surft, Zeitung liest etc.), er seine Hauptleistungspflicht zur Arbeit verletzt.
In Entscheidungen zur privaten Internetnutzung nimmt das Bundesarbeitsgericht insoweit an, dass eine gravierende zeitliche Vernachlässigung der Arbeitspflicht vorliegt, wenn sich der Arbeitnehmer zum Beispiel über einen längeren Zeitraum circa zehn Prozent der Arbeitszeit oder innerhalb eines Zweiwochenzeitraums an zwei Arbeitstagen jeweils circa 1,5 Stunden während der bezahlten Arbeitszeit privaten Dingen widmet.“
1. Stufe: Kündigungsgrund
„Ob in dem Verhalten des Klägers ‚an sich‘ ein wichtiger Grund in diesem Sinne zu sehen ist, ist unter Berücksichtigung dieser Grundsätze jedenfalls zweifelhaft. Die Arbeitgeberin hat nämlich gar keine Feststellungen zur Häufigkeit und zum Umfang des Zeitungslesens beziehungsweise Schlafens durch den Kläger gemacht, sondern den Kläger im Februar 2020 nur einmal und sehr punktuell bei der Verletzung der Arbeitspflicht ‚erwischt‘. Wann und wie lange der Kläger im Übrigen und außerhalb dieses konkreten Vorfalls pflichtwidrig nicht gearbeitet hat, hierzu ist nichts Konkretes vorgetragen.
Die ergänzende Behauptung, Kollegen und Vorgesetzte des Klägers hätten sich ‚immer wieder‘ über dessen Verschwinden während der Arbeitszeit beschwert, ist dagegen viel zu vage. Aus diesem Grund konnte die Arbeitgeberin die Einlassung des Klägers, er habe im Februar 2020 im Schaltschrankraum gearbeitet, nicht zur Überzeugung des Gerichts entkräften.“
2. Stufe: Interessenabwägung
Aber selbst – so fährt das Gericht fort – „wenn man die Behauptung der Arbeitgeberin, der Kläger habe nicht gearbeitet, sondern eine Bild-Zeitung gelesen oder geschlafen, als wahr unterstellt, stellt sich die außerordentliche Kündigung dennoch als unwirksam dar. Das Gericht ist nämlich der Auffassung, dass das Interesse der Beklagten an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne Einhaltung der Kündigungsfrist das Interesse des Klägers am Fortbestand des Arbeitsverhältnisses jedenfalls nicht überwiegt.
Bewertung des Einzelfalls
Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen.
Dabei lassen sich die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumindest bis zum Ende der Frist für eine ordentliche Kündigung zumutbar war oder nicht, nicht abschließend festlegen.
Zu berücksichtigen sind regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Auch Unterhaltspflichten und der Familienstand können – je nach Lage des Falls – Bedeutung gewinnen“. Hier spricht für das Gericht einiges gegen den Kläger:
- Er „wurde im April 2019 wirksam abgemahnt“ und „die Abmahnung betrifft auch eine vergleichbare Pflichtverletzung“ und „insoweit ist eine Wiederholungsgefahr also durchaus gegeben und fraglich, ob die Arbeitgeberin auf die erneute – einschlägige – Pflichtverletzung des Klägers als milderes Mittel mit einer zweiten Abmahnung hätte reagieren müssen“.
- Der Kläger „ist in Bezug auf sein mögliches Fehlverhalten wenig einsichtig. So hat er auf die Frage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung, ob er die Kündigung der Arbeitgeberin angesichts des abgemahnten Vorverhaltens nachvollziehen könne, geantwortet, dass er die Reaktion zwar verstehen könne, er aber andererseits in der Vergangenheit sehr viele Überstunden geleistet habe und auch nach Feierabend regelmäßig für dienstliche Anrufe zur Verfügung gestanden habe. Das Gericht hat daher den Eindruck, als ob der Kläger ‚Unrecht mit Unrecht vergelten‘ möchte und kein Bewusstsein für eine etwaige Pflichtverletzung hat“.
- „Schließlich ist zu Gunsten der Arbeitgeberin zu berücksichtigen, dass der Kläger als Vorgesetzter eine Vorbildfunktion ausübt.“
- „Auch hat der Betriebsrat der beabsichtigten außerordentlichen Kündigung ausdrücklich zugestimmt, ohne Bedenken anzumelden, was Indiz dafür ist, dass der Kläger auch innerhalb der Belegschaft keinen Rückhalt mehr hat.“
Zu Gunsten des Klägers spricht dagegen:
- Während „seiner langen Betriebszugehörigkeit seit circa 16,5 Jahren hat sich der Kläger durchaus ein gewisses ‚Vertrauenskapital‘ aufgebaut, denn das Arbeitsverhältnis war bis zur Abmahnung nicht nur unbelastet, der Kläger hat sich vielmehr nach eigenem Vortrag der Arbeitgeberin ein ‚unersetzliches Fachwissen‘ angeeignet und sich sogar beim Neubau des Werkes 2014 bis 2017 überobligatorisch für die Belange der Arbeitgeberin eingesetzt“.
- „Auch das relativ hohe Lebensalter des Klägers (zum Zeitpunkt der Kündigung war er 58 Jahre alt) ist zu seinen Gunsten zu berücksichtigen.“
- Die dem Kläger „vorgeworfenen Pflichtverletzungen haben keinen messbaren Schaden für die Arbeitgeberin verursacht“.
- „Das Verhalten des Klägers wurde trotz Kenntnis und einschlägiger Abmahnung durch die Arbeitgeberin offenbar über mehrere Monate lang geduldet. Dem Kläger wurde es daher leicht gemacht, er musste mit keiner hohen kriminellen Energie vorgehen. Es wäre für die Arbeitgeberin jedenfalls ohne großen Aufwand möglich gewesen, den Kläger schon zu einem viel früheren Zeitpunkt zu kontrollieren oder ihn auf das angebliche Fehlverhalten anzuhören.“
Es steht 4 zu 4 nach Gründen. Die eigentliche Abwägung ist dann doch recht knapp – und „kurzer Prozess“: „Im Ergebnis ist das Gericht der Überzeugung, dass es der Arbeitgeberin jedenfalls zuzumuten gewesen wäre, den Kläger bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist weiter zu beschäftigen. Die außerordentliche Kündigung stellt sich daher nicht als verhältnismäßig dar.“
Ordentliche Kündigung wirksam?
Die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung hält das Arbeitsgericht ebenfalls für unwirksam – auch wegen fehlerhafter Betriebsratsanhörung: „Bei einer verhaltensbedingten Kündigung muss jedoch das kündigungsrelevante Verhalten genau bezeichnet sowie erteilte Abmahnungen und auch etwaige entlastende Umstände mitgeteilt werden, zum Beispiel eine etwaige Gegenvorstellung des zu kündigenden Arbeitnehmers.
Das ist hier indes nicht geschehen, denn die konkrete Pflichtverletzung wird hier sogar ausdrücklich offengelassen (Zeitunglesen oder Schlafen). Der Wortlaut der Anhörung spricht vielmehr für den bloßen Verdacht einer Pflichtverletzung, etwa dem Verdacht eines Arbeitszeitbetrugs.“
(Urteil des ArbG Neumünster vom 11.08.2020, Az. 1 Ca 247 c/20)
Hochschule München
Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen
Weiterführende Literatur
Thomas Wilrich: „Arbeitsschutzverantwortung für Sicherheitsbeauftragte: Bestellung, Rechtsstellung, Pflichten und Haftung als Vertrauenspersonen und Beschäftigte – Grundwissen Arbeitssicherheit, Führungspflichten und Unternehmensorganisation“, VDE Verlag, 2021
Kündigungsschutzgesetz (KSchG)
(1) Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses gegenüber einem Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis in demselben Betrieb oder Unternehmen ohne Unterbrechung länger als sechs Monate bestanden hat, ist rechtsunwirksam, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist.
(2) Sozial ungerechtfertigt ist die Kündigung, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder in dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist.