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Keine Frage der Lektüre: Lesenden oder schlafenden Sibe fristlos entlassen

Keine Frage der Lektüre
Lesenden oder schlafenden Sibe fristlos entlassen

Lesenden oder schlafenden Sibe fristlos entlassen
Foto: © sebra - stock.adobe.com
Kann ein Beschäftigter frist­los ent­lassen wer­den, weil er in Tech­nikräu­men wieder­holt lesend oder schlafend angetrof­fen wurde? Ist dies über­haupt ein geeigneter Kündi­gungs­grund und lassen der konkrete Einzelfall und die Inter­essen­ab­wä­gung eine außeror­dentliche Kündi­gung zu? Darüber hat­te das Arbeits­gericht Neumün­ster zu entscheiden.

Der Kläger ist Meis­ter für die elek­tro­mech­anis­che Betreu­ung mit vier ihm unter­stell­ten Beschäftigten. Die Arbeit­ge­berin mah­nte ihn bere­its im April 2019 ab: „Am 23.04.2019 habe ich Sie im Heizungsraum des Büro­ge­bäudes ‚ver­steckt‘ hin­ter den Wasserkesseln Zeitung lesend angetroffen“.

Im Feb­ru­ar 2020 öffneten dann zwei Geschäfts­führer in Begleitung eines Betrieb­sratsmit­glieds die Tür zum Schaltschrankraum und fan­den dort den Kläger „auf einem Stuhl sitzend Zeitung lesend oder schlafend (war nicht genau ersichtlich) vor“. Bei der Lek­türe habe es sich um die Bild-Zeitung gehan­delt. Der Betrieb­srat stimmte der Kündi­gung des Meis­ters zu.

Bild- oder Bauzeitung?

Der Meis­ter behauptet, er habe nicht geschlafen, son­dern „in Wahrnehmung sein­er betrieblichen Auf­gaben als Sicher­heits­beauf­tragter die sicher­heit­srel­e­vante Bauzeitung (BAUZ), Unfal­lzeitung für Beton­werke der BG Chemie, gelesen“.

Er wollte „ein Mess­gerät am Schaltschrank über eine Dauer von wenig­stens 20 Minuten able­sen. Da er das Mess­gerät in dieser Zeit nur alle drei bis vier Minuten able­sen musste, habe er sich zuvor die BAUZ aus dem Pausen­raum geholt, um darin während­dessen zu lesen“.

Der Meis­ter klagte gegen die frist­lose Ent­las­sung. Das Arbeits­gericht Neumün­ster gab sein­er Kündi­gungss­chutzk­lage statt. In der Urteils­be­grün­dung des Gerichts spielte es jedoch keine Rolle, ob er die Bild- oder die Bauzeitung in Hän­den hielt.

Zweistufige Prüfung

Im Fall ein­er frist­losen Kündi­gung hat das Gericht eine zweistu­fige Prü­fung vorzunehmen – nach fol­gen­den Entschei­dungs­grund­sätzen: „Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsver­hält­nis aus wichtigem Grund ohne Ein­hal­tung ein­er Kündi­gungs­frist gekündigt wer­den, wenn Tat­sachen vor­liegen, auf­grund der­er dem Kündi­gen­den unter Berück­sich­ti­gung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwä­gung der Inter­essen bei­der Ver­trag­steile die Fort­set­zung des Arbeitsver­hält­niss­es selb­st bis zum Ablauf der Kündi­gungs­frist nicht zuge­mutet wer­den kann. Dabei ist nach der Zweistufen­lehre zunächst zu prüfen, ob der Sachver­halt an sich geeignet ist, einen außeror­dentlichen Kündi­gungs­grund darzustellen. In der zweit­en Stufe ist dann zu prüfen, ob auch der konkrete Einzelfall und die Inter­essen­ab­wä­gung die außeror­dentliche Kündi­gung zulassen.“

Verhaltensbedingte Kündigung

Es geht um eine Kündi­gung aus Grün­den des „Ver­hal­tens des Arbeit­nehmers“ im Sinne des § 1 Abs. 2 KSchG. Das Arbeits­gericht hat schon hier Zweifel daran, dass ein Grund für eine ver­hal­tens­be­d­ingte Kündi­gung vor­liegt: „Zwar ist das Lesen ein­er Zeitung und das Schlafen während der Arbeit­szeit jew­eils eine Pflichtver­let­zung aus dem Arbeitsver­hält­nis. Insoweit ist näm­lich anerkan­nt, dass, wenn der Arbeit­nehmer während der bezahlten Arbeit­szeit seine Arbeit unter­bricht und untätig bleibt, weil er sich pri­vat­en Din­gen wid­met (zum Beispiel eine Zigaret­ten­pause ein­legt, pri­vate (Telefon-)Gespräche führt, Karten spielt, pri­vat im Inter­net surft, Zeitung liest etc.), er seine Hauptleis­tungspflicht zur Arbeit verletzt.

In Entschei­dun­gen zur pri­vat­en Inter­net­nutzung nimmt das Bun­de­sar­beits­gericht insoweit an, dass eine gravierende zeitliche Ver­nach­läs­si­gung der Arbeit­spflicht vor­liegt, wenn sich der Arbeit­nehmer zum Beispiel über einen län­geren Zeitraum cir­ca zehn Prozent der Arbeit­szeit oder inner­halb eines Zwei­wochen­zeitraums an zwei Arbeit­sta­gen jew­eils cir­ca 1,5 Stun­den während der bezahlten Arbeit­szeit pri­vat­en Din­gen widmet.“

1. Stufe: Kündigungsgrund

„Ob in dem Ver­hal­ten des Klägers ‚an sich‘ ein wichtiger Grund in diesem Sinne zu sehen ist, ist unter Berück­sich­ti­gung dieser Grund­sätze jeden­falls zweifel­haft. Die Arbeit­ge­berin hat näm­lich gar keine Fest­stel­lun­gen zur Häu­figkeit und zum Umfang des Zeitungsle­sens beziehungsweise Schlafens durch den Kläger gemacht, son­dern den Kläger im Feb­ru­ar 2020 nur ein­mal und sehr punk­tuell bei der Ver­let­zung der Arbeit­spflicht ‚erwis­cht‘. Wann und wie lange der Kläger im Übri­gen und außer­halb dieses konkreten Vor­falls pflichtwidrig nicht gear­beit­et hat, hierzu ist nichts Konkretes vorgetragen.

Die ergänzende Behaup­tung, Kol­le­gen und Vorge­set­zte des Klägers hät­ten sich ‚immer wieder‘ über dessen Ver­schwinden während der Arbeit­szeit beschw­ert, ist dage­gen viel zu vage. Aus diesem Grund kon­nte die Arbeit­ge­berin die Ein­las­sung des Klägers, er habe im Feb­ru­ar 2020 im Schaltschrankraum gear­beit­et, nicht zur Überzeu­gung des Gerichts entkräften.“

2. Stufe: Interessenabwägung

Aber selb­st – so fährt das Gericht fort – „wenn man die Behaup­tung der Arbeit­ge­berin, der Kläger habe nicht gear­beit­et, son­dern eine Bild-Zeitung gele­sen oder geschlafen, als wahr unter­stellt, stellt sich die außeror­dentliche Kündi­gung den­noch als unwirk­sam dar. Das Gericht ist näm­lich der Auf­fas­sung, dass das Inter­esse der Beklagten an der sofor­ti­gen Beendi­gung des Arbeitsver­hält­niss­es ohne Ein­hal­tung der Kündi­gungs­frist das Inter­esse des Klägers am Fortbe­stand des Arbeitsver­hält­niss­es jeden­falls nicht überwiegt.

Bewertung des Einzelfalls

Bei der Prü­fung, ob dem Arbeit­ge­ber eine Weit­erbeschäf­ti­gung des Arbeit­nehmers trotz Vor­liegens ein­er erhe­blichen Pflichtver­let­zung jeden­falls bis zum Ablauf der Kündi­gungs­frist zumut­bar ist, ist in ein­er Gesamtwürdi­gung das Inter­esse des Arbeit­ge­bers an der sofor­ti­gen Beendi­gung des Arbeitsver­hält­niss­es gegen das Inter­esse des Arbeit­nehmers an dessen Fortbe­stand abzuwä­gen. Es hat eine Bew­er­tung des Einzelfalls unter Beach­tung des Ver­hält­nis­mäßigkeits­grund­satzes zu erfolgen.

Dabei lassen sich die Umstände, anhand der­er zu beurteilen ist, ob dem Arbeit­ge­ber die Weit­erbeschäf­ti­gung zumin­d­est bis zum Ende der Frist für eine ordentliche Kündi­gung zumut­bar war oder nicht, nicht abschließend festlegen.

Zu berück­sichti­gen sind regelmäßig das Gewicht und die Auswirkun­gen ein­er Ver­tragspflichtver­let­zung, der Grad des Ver­schuldens des Arbeit­nehmers, eine mögliche Wieder­hol­ungs­ge­fahr sowie die Dauer des Arbeitsver­hält­niss­es und dessen störungs­freier Ver­lauf. Auch Unter­halt­spflicht­en und der Fam­i­lien­stand kön­nen – je nach Lage des Falls – Bedeu­tung gewin­nen“. Hier spricht für das Gericht einiges gegen den Kläger:

  • Er „wurde im April 2019 wirk­sam abgemah­nt“ und „die Abmah­nung bet­rifft auch eine ver­gle­ich­bare Pflichtver­let­zung“ und „insoweit ist eine Wieder­hol­ungs­ge­fahr also dur­chaus gegeben und fraglich, ob die Arbeit­ge­berin auf die erneute – ein­schlägige – Pflichtver­let­zung des Klägers als milderes Mit­tel mit ein­er zweit­en Abmah­nung hätte reagieren müssen“.
  • Der Kläger „ist in Bezug auf sein möglich­es Fehlver­hal­ten wenig ein­sichtig. So hat er auf die Frage des Gerichts in der mündlichen Ver­hand­lung, ob er die Kündi­gung der Arbeit­ge­berin angesichts des abgemah­n­ten Vorver­hal­tens nachvol­lziehen könne, geant­wortet, dass er die Reak­tion zwar ver­ste­hen könne, er aber ander­er­seits in der Ver­gan­gen­heit sehr viele Über­stun­den geleis­tet habe und auch nach Feier­abend regelmäßig für dien­stliche Anrufe zur Ver­fü­gung ges­tanden habe. Das Gericht hat daher den Ein­druck, als ob der Kläger ‚Unrecht mit Unrecht vergel­ten‘ möchte und kein Bewusst­sein für eine etwaige Pflichtver­let­zung hat“.
  • „Schließlich ist zu Gun­sten der Arbeit­ge­berin zu berück­sichti­gen, dass der Kläger als Vorge­set­zter eine Vor­bild­funk­tion ausübt.“
  • „Auch hat der Betrieb­srat der beab­sichtigten außeror­dentlichen Kündi­gung aus­drück­lich zuges­timmt, ohne Bedenken anzumelden, was Indiz dafür ist, dass der Kläger auch inner­halb der Belegschaft keinen Rück­halt mehr hat.“

Zu Gun­sten des Klägers spricht dagegen:

  • Während „sein­er lan­gen Betrieb­szuge­hörigkeit seit cir­ca 16,5 Jahren hat sich der Kläger dur­chaus ein gewiss­es ‚Ver­trauen­skap­i­tal‘ aufge­baut, denn das Arbeitsver­hält­nis war bis zur Abmah­nung nicht nur unbe­lastet, der Kläger hat sich vielmehr nach eigen­em Vor­trag der Arbeit­ge­berin ein ‚uner­set­zlich­es Fach­wis­sen‘ angeeignet und sich sog­ar beim Neubau des Werkes 2014 bis 2017 über­ob­lig­a­torisch für die Belange der Arbeit­ge­berin eingesetzt“.
  • „Auch das rel­a­tiv hohe Leben­salter des Klägers (zum Zeit­punkt der Kündi­gung war er 58 Jahre alt) ist zu seinen Gun­sten zu berücksichtigen.“
  • Die dem Kläger „vorge­wor­fe­nen Pflichtver­let­zun­gen haben keinen mess­baren Schaden für die Arbeit­ge­berin verursacht“.
  • „Das Ver­hal­ten des Klägers wurde trotz Ken­nt­nis und ein­schlägiger Abmah­nung durch die Arbeit­ge­berin offen­bar über mehrere Monate lang geduldet. Dem Kläger wurde es daher leicht gemacht, er musste mit kein­er hohen krim­inellen Energie vorge­hen. Es wäre für die Arbeit­ge­berin jeden­falls ohne großen Aufwand möglich gewe­sen, den Kläger schon zu einem viel früheren Zeit­punkt zu kon­trol­lieren oder ihn auf das ange­bliche Fehlver­hal­ten anzuhören.“

Es ste­ht 4 zu 4 nach Grün­den. Die eigentliche Abwä­gung ist dann doch recht knapp – und „kurz­er Prozess“: „Im Ergeb­nis ist das Gericht der Überzeu­gung, dass es der Arbeit­ge­berin jeden­falls zuzu­muten gewe­sen wäre, den Kläger bis zum Ablauf der ordentlichen Kündi­gungs­frist weit­er zu beschäfti­gen. Die außeror­dentliche Kündi­gung stellt sich daher nicht als ver­hält­nis­mäßig dar.“

Ordentliche Kündigung wirksam?

Die hil­f­sweise aus­ge­sproch­ene ordentliche Kündi­gung hält das Arbeits­gericht eben­falls für unwirk­sam – auch wegen fehler­hafter Betrieb­srat­san­hörung: „Bei ein­er ver­hal­tens­be­d­ingten Kündi­gung muss jedoch das kündi­gungsrel­e­vante Ver­hal­ten genau beze­ich­net sowie erteilte Abmah­nun­gen und auch etwaige ent­las­tende Umstände mit­geteilt wer­den, zum Beispiel eine etwaige Gegen­vorstel­lung des zu kündi­gen­den Arbeitnehmers.

Das ist hier indes nicht geschehen, denn die konkrete Pflichtver­let­zung wird hier sog­ar aus­drück­lich offen­ge­lassen (Zeitun­gle­sen oder Schlafen). Der Wort­laut der Anhörung spricht vielmehr für den bloßen Ver­dacht ein­er Pflichtver­let­zung, etwa dem Ver­dacht eines Arbeitszeitbetrugs.“

(Urteil des ArbG Neumün­ster vom 11.08.2020, Az. 1 Ca 247 c/20)


Autor: Recht­san­walt Prof. Dr. Thomas Wilrich
Hochschule München
Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen
 
Foto: © privat

Weiterführende Literatur

Thomas Wilrich: „Arbeitss­chutzver­ant­wor­tung für Sicher­heits­beauf­tragte: Bestel­lung, Rechtsstel­lung, Pflicht­en und Haf­tung als Ver­trauensper­so­n­en und Beschäftigte – Grund­wis­sen Arbeitssicher­heit, Führungspflicht­en und Unternehmen­sor­gan­i­sa­tion“, VDE Ver­lag, 2021


Kündigungsschutzgesetz (KSchG)

(1) Die Kündi­gung des Arbeitsver­hält­niss­es gegenüber einem Arbeit­nehmer, dessen Arbeitsver­hält­nis in dem­sel­ben Betrieb oder Unternehmen ohne Unter­brechung länger als sechs Monate bestanden hat, ist recht­sun­wirk­sam, wenn sie sozial ungerecht­fer­tigt ist.

(2) Sozial ungerecht­fer­tigt ist die Kündi­gung, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Per­son oder in dem Ver­hal­ten des Arbeit­nehmers liegen, oder durch drin­gende betriebliche Erfordernisse, die ein­er Weit­erbeschäf­ti­gung des Arbeit­nehmers in diesem Betrieb ent­ge­gen­ste­hen, bed­ingt ist.

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