Gewalt hat viele Ausprägungen. Wie definieren Sie den Begriff innerhalb des Unternehmens?
Lidl definiert Gewalt als ein rücksichtsloses Verhalten einer Person gegenüber einem Individuum oder Gegenstand. Dies kann sowohl physische als auch psychische Ausprägung haben.
Wo fängt für Sie Gewalt an: bei unhöflichem Verhalten, bei Beleidigungen, bei Androhung körperlicher Gewalt, bei Psychoterror?
Ein respektvolles und wertschätzendes Miteinander innerhalb des Unternehmens und mit unseren Kunden ist uns äußerst wichtig. Gewalt beginnt für uns, wenn diese Werte nicht eingehalten werden, und bei rücksichtslosem Verhalten.
In jüngerer Zeit häufen sich Meldungen zu respektlosem und aggressivem Verhalten, etwa gegenüber Polizisten, Sanitätern, Kontrolleuren oder Mitarbeitern in Behörden. Bekommen Sie beziehungsweise Ihre Angestellten diese Tendenz ebenfalls zu spüren?
Diese Aussage können wir nicht verifizieren oder quantitativ belegen. Den Wunsch unserer Mitarbeiter, den richtigen Umgang mit respektlosem und aggressivem Verhalten ihnen gegenüber zu lernen, haben wir aufgenommen und arbeiten zurzeit zusammen mit der Berufsgenossenschaft für Handel und Warenlogistik (BGHW) an einem Schulungskonzept.
Wie im Einzelhandel üblich, arbeiten unsere Mitarbeiter tagtäglich mit sehr vielen Menschen zusammen. Hierbei kommt es in Einzelfällen zu rücksichtslosem Verhalten, selten auch zu Überfällen. Unsere Filialmitarbeiter schulen wir regelmäßig zum „Verhalten bei Überfällen“ sowie zu Präventivmaßnahmen wie beispielsweise Sicherheit in der Filiale, an der Kasse oder in den Nebenräumen. Bei neuen Mitarbeitern ist diese Schulung ein fester Bestandteil der Einarbeitung. Wir arbeiten bei allen Maßnahmen bereits seit sehr vielen Jahren mit Sicherheitsexperten der BGHW zusammen.
Mit dem vorhandenen Konzept können grundsätzlich belastende Situationen bei unseren Mitarbeitern erkannt und die notwendigen Schritte für weitere Hilfsmaßnahmen eingeleitet werden. Zu den belastenden Situationen zählen nicht nur Gewalterfahrungen, sondern auch andere traumatische Ereignisse.
Wie unterstützen Sie Ihre Mitarbeiter nach einem Gewalterlebnis?
Sollte es doch zu einem Überfall kommen, erhalten die betroffenen Mitarbeiter direkt und unmittelbar durch ihren Verkaufsleiter und ihren jeweiligen Personalbetreuer, den Beauftragten für Mitarbeiter und Soziales (BM&S), jegliche Unterstützung und Hilfe. Die BM&S sind für diese Situationen speziell geschult, sind den Mitarbeitern als langjährige Kollegen vertraut und vermitteln die psychologische Betreuung über die BGHW.
Bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess berücksichtigen wir Arbeitszeit- und Arbeitsortwünsche. Nach längerer Arbeitsunfähigkeit wird der Mitarbeiter in Absprache mit dem BM&S und der Führungskraft langsam wieder eingegliedert. Sollte der Arbeitsplatz für den Mitarbeiter nicht mehr in Frage kommen, versucht Lidl ihn an anderer Stelle im Unternehmen einzusetzen. Eine durchgängige persönliche Nachbetreuung der Mitarbeiter ist für uns selbstverständlich. Bisher haben wir mit unserem Vorgehen gute Erfahrungen gemacht und werden auch zukünftig alles daransetzen, unsere Mitarbeiter optimal zu schulen und zu betreuen.
Wer ist an dem Konzept zur Gewaltprävention beteiligt?
Bei der Konzeptionierung unserer Sicherheitskonzepte arbeitet Lidl eng mit der BGHW zusammen. Die regionalen Ansprechpartner (BM&S) in den 39 Lidl-Regionalgesellschaften setzen die Konzepte vor Ort um. Die Bereiche Sicherheits- und Behördenmanagement/Arbeitssicherheit und Personal in der Lidl Hauptverwaltung unterstützen die BM&S.
Welche Rolle spielen die Führungskräfte? Sind diese speziell geschult?
Grundsätzlich werden alle Filial-Mitarbeiter bei Lidl zu den Themen Gewaltprävention und Überfall geschult. Führungskräfte erhalten darüber hinaus noch zusätzliche Schulungen, sodass sie als Multiplikator für ihre Kollegen agieren können.
Bei Lidl gibt es mit einem Anteil von 55 Prozent relativ viele Frauen in Führungspositionen und branchenüblich viele weibliche Angestellte. Ergeben sich daraus spezielle Empfehlungen oder Maßnahmen zur Gewaltprävention?
Für uns hat es oberste Priorität, dass sich jeder unserer rund 83.000 Mitarbeiter an seinem jeweiligen Arbeitsplatz wohl und sicher fühlt. Daher behandeln und schützen wir alle Kollegen gleichermaßen. Geschlechtsspezifische Schulungen zur Gewaltprävention gibt es bei uns nicht.
Üben Sie gefährliche Situationen, zum Beispiel in Rollenspielen?
Unsere Sicherheitskonzepte sehen verschiedene Übungen für unsere Mitarbeiter vor. Bei neuen Mitarbeitern sind die Sicherheitsunterweisungen ein fester Bestandteil der Einarbeitung. Während des Alltagsgeschäfts werden schwierige Situationen im Team besprochen, damit alle Mitarbeiter sensibilisiert werden. Darüber hinaus steht der BM&S allen Kollegen jederzeit als Ansprechpartner und Vertrauensperson zur Verfügung.
Erfassen Sie die Gewaltereignisse und werten diese aus, um die Prävention zu verbessern?
Insbesondere schwerwiegende Gewaltereignisse werden bei uns erfasst. Das Risiko an dem jeweiligen Standort wird dann nochmals neu bewertet, um gegebenenfalls weitere Sicherungsmaßnahmen zu ergreifen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Petra Jauch.
Unterstützung mit Empathie und Erfahrung
„Als BM&S und Sicherheitsbeauftragte setze ich mich schon seit mehreren Jahren täglich mit dem Thema Gewaltprävention auseinander. Ich bin als Vertrauensperson aller Mitarbeiter unserer Regionalgesellschaft Erstbetreuer für die Kollegen nach gewaltsamen Erlebnissen und kümmere mich auch um die Nachsorge. Mit der BGHW haben wir einen hervorragenden Ansprechpartner an unserer Seite, der uns jederzeit schnell und umfassend unterstützt.
Im Vordergrund steht für uns immer, unseren Mitarbeitern einen sicheren Arbeitsplatz zu bieten. Eine schnelle Unterstützung ist wichtig, damit die Erlebnisse schnell und vollständig verarbeitet werden können. Von Gewalt, ganz gleich in welcher Form, betroffenen Mitarbeitern möchte ich vor allem Empathie entgegenbringen und mit meiner Erfahrung aus der Krise helfen.
Wir versuchen in Gesprächen und gegebenenfalls durch die Vermittlung von fachärztlicher Betreuung, das Trauma aufzulösen. Damit es gar nicht erst zu einem belastenden Erlebnis kommt, gibt es meine Kollegen und mich, die den Mitarbeitern als Vertrauensperson zur Seite stehen. Zu jeder Zeit können sich die Mitarbeiter an uns mit persönlichen oder beruflichen Herausforderungen wenden. Für unsere Filialkollegen bieten wir im Rahmen unseres betrieblichen Gesundheitsmanagements Selbstbehauptungskurse an. Die Mitarbeiter lernen dort, sich in kritischen Situationen deeskalierend zu verhalten. Von den Mitarbeitern erhalten wir sehr gutes Feedback zu dem Angebot.“
Heike Seul, Beauftragte für Mitarbeiter & Soziales in der Lidl-Regionalgesellschaft Kerpen