Seit der erstmaligen normativen Einführung der zwei Störlichtbogenschutzklassen (Klasse 1 und Klasse 2 in der Norm IEC 61482–1–2), die den Störlichtbogenschutz von Elektrikerschutzbekleidung charakterisieren, besteht der Bedarf für eine Richtlinie zur Auswahl der korrekten Schutzklasse. Dieses Thema wurde lange Zeit nicht konsequent angegangen. In der Folge entstanden nicht nur unterschiedliche Vorgehensweisen zur Auswahl der Schutzklassen, sondern auch unterschiedliche und zum Teil falsche Interpretationen, wie diese beiden Schutzklassen eingesetzt werden sollen.
Diese ungenügende Situation hat sich durch die Veröffentlichung der DGUV Information 203–077 „Thermische Gefährdung durch Störlichtbögen – Hilfe bei der Auswahl der persönlichen Schutzausrüstung“ im Jahr 2012 geändert. Damit wurde eine einheitliche Auswahlrichtlinie etabliert, die sich konsequent am Box-Test (vgl. Glossar auf Seite 44) orientiert. Dadurch wird ein exakter Vergleich des Lichtbogenschutzniveaus der PSAgS mit den tatsächlich am Arbeitsplatz auftretenden thermischen Gefahren durch Störlichtbögen möglich. Die DGUV-Information wird zurzeit überarbeitet und um wichtige Details ergänzt. Wichtige Änderungen werden in diesem Artikel mit ausdrücklicher Genehmigung der Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse (BG ETEM) bereits behandelt.
Anwendungsbereich
Der Anwendungsbereich des Berechnungsalgorithmus wird sich in der Neufassung nicht nur auf Wechselspannungsanlagen beschränken, sondern auch Gleichspannungsanlagen bis 1500 V (Batterien, PV-Anlagen, Umrichtertechnik) einschließen. Die Anwendung des Berechnungsalgorithmus ist dann erforderlich, wenn man an für PSAgS relevanten Anlagen arbeitet (vgl. Teil 1 der Artikelserie in Sicherheitsingenieur 04/19), an denen ein thermisch gefährlicher und stabiler Störlichtbogen zu erwarten ist.
Eine thermische Gefährdung durch auftretende Störlichtbögen kann bestehen, wenn
- die Nennspannung größer 50 V ist,
- der Kurzschlussstrom 1000 A beträgt oder
- eine Absicherung des Arbeitsplatzes mit einer Schmelzsicherung mit einem Nennstrom 63 A erfolgt.
Dann muss die erforderliche Schutzklasse der PSAgS berechnet werden.
Die Lichtbogenenergie als Auswahlkriterium
Die Genauigkeit des Auswahlalgorithmus ist erwartungsgemäß mit einer aufwändigeren Berechnung verbunden. Maßgeblich ist die Verknüpfung der jeweiligen Lichtbogenschutzklasse mit der im Prüfaufbau (Box-Test) erzeugten Lichtbogenenergie (vgl. Tabelle 1). Das bedeutet, dass der Vergleich des Schutzniveaus der PSAgS mit den Lichtbogengefahren am jeweiligen Arbeitsplatz anhand der Lichtbogenenergie erfolgen muss. Es ist also notwendig, die im Falle eines Lichtbogenfehlers am Arbeitsplatz auftretende elektrische Lichtbogenenergie WLB zu bestimmen und sie mit dem Schutzpegel WLBS der PSAgS zu vergleichen. Für die meisten im Elektrobereich tätigen Personen ist der Umgang mit der elektrischen Lichtbogenenergie im Zusammenhang mit Fehlern in Versorgungsnetzen ungewohnt. Beachtung wurde bisher vorrangig dem maximalen Kurzschlussstrom als Dimensionierungskriterium im Kurzschlussfall geschenkt. Die Physik der Umwandlung und des Transports von elektrischer Energie in Wärmeenergie im Falle eines Lichtbogenfehlers verlangt aber diese neue Betrachtungsweise.
Zur Berechnung der Lichtbogenenergie WLB und des Schutzpegels WLBS der PSAgS sind elektrische Daten der Anlage und Angaben zum Arbeitsplatz erforderlich (vgl. Kasten unten). Es wird deutlich, dass alle diese Einflussgrößen bei der Bestimmung der Lichtbogenschutzklasse berücksichtigt werden müssen und der Anwender des Auswahlalgorithmus davon Kenntnis haben muss. Das bedeutet weiterhin, dass eine arbeitsplatzbezogene Gefährdungsbeurteilung zu erfolgen hat.
Durch das Bewertungskriterium Lichtbogenenergie wird nun deutlich, dass die Arbeitsplätze mit hohen Kurzschlussströmen (zum Beispiel NS-Abgangskabelsicherung in Ortsnetzstationen) nicht unbedingt die Arbeitsplätze mit der höchsten Lichtbogengefährdung sind: Die Lichtbogenenergie ist nicht nur abhängig vom (Kurzschluss-)Strom durch den Lichtbogen, sondern auch von der Netzspannung und der Lichtbogenbrenndauer. Diesen Sachverhalt gibt die folgende Beziehung wieder:
WLB ~ Un I″k3 tK
Hohe Kurzschlussströme führen gerade beim Einsatz von Schmelzsicherungen zu sehr kurzen Abschaltzeiten (im Strom begrenzenden Arbeitsbereich unter 10 ms), die gemäß oben aufgeführter Beziehung zu relativ kleinen Lichtbogenenergien führen (zum Beispiel bei über Sicherungen geschützte Unterverteilungen hinter leistungsstarken Industrietransformatoren). Arbeitsplätze, die durch eine große Netzimpedanz (vgl. Glossar) mit relativ kleinen Kurzschlussleistungen verbunden sind (zum Beispiel Hausanschlusskasten am Ende langer Kabelstrecken), können dagegen aufgrund der langen Abschaltzeiten der zugehörigen Sicherungen Lichtbogenenergien hervorrufen, die den Schutzpegel der Klasse 2 unter Umständen übersteigen. Mit Kenntnis der Einflussparameter auf die Lichtbogenenergie und den Schutzpegel wird auch deutlich, welche Mittel unter Umständen zur Verfügung stehen, um die Lichtbogengefährdung zu senken. Das sind zum Beispiel:
- Vergrößerung des Arbeitsabstands (wenn technisch möglich),
- Verringerung der Abschaltzeiten (zum Beispiel mit extrem schnellen Arbeitsschutzsicherungen oder Verringerung der Einstellwerte im Schutzgerät des Leistungsschalters).
Ein großer Vorteil der Berechnungen ist aber auch, dass anhand der Ergebnisse festgestellt werden kann, an welchen Anlagen gar keine PSAgS benötigt wird. Unterschreitet die ermittelte Lichtbogenenergie den Wert von 50 kJ, ist PSAgS unnötig.
Praktische Umsetzung der Berechnung
Sofern alle notwendigen Daten vorliegen, kann der Berechnungsalgorithmus problemlos angewendet werden. Aufgrund der Vielzahl verschiedener Arbeitsplätze in der öffentlichen Elektroenergieversorgung (zum Beispiel Ortsnetzstationen, Muffenlöcher, Kabelverteiler, Hausanschlusskästen) oder in ausgedehnten Industrienetzen (zum Beispiel MS-Stationen, Niederspannungshauptverteilungen, Unterverteilungen) ist die Anwendung der DGUV Information aber mit erheblichem Mehraufwand bei der Gefährdungsbeurteilung verbunden. Eine praktikable Umsetzung erfordert deswegen Softwareunterstützung und eine strategische Planung der durchzuführenden Berechnungen, um den Arbeits- beziehungsweise Berechnungsaufwand zu minimieren.
Eine strategisch vorteilhafte Vorgehensweise kann zum Beispiel die Kategorisierung des interessierenden Netzbereichs nach typischen Arbeitsplätzen mit ähnlichen Netztopologien sein. Dadurch können Berechnungsergebnisse auf gleichartige Anlagen übertragen werden. Oder man ermittelt Diagramme, in denen die Lichtbogenenergie und damit das erforderliche Schutzniveau der PSAgS in Abhängigkeit von der Entfernung des Arbeitsplatzes (zum Beispiel Kabelverteiler oder Unterverteilung) zum einspeisenden Transformator dargestellt wird (vgl. Abbildung 1).
Überschreitung des Schutzniveaus der Klasse 2
Wird bei der Anwendung des Berechnungsalgorithmus festgestellt, dass das Schutzniveau der Klasse 2 nicht mehr ausreicht, sind zusätzliche Beurteilungen durchzuführen. In der künftigen Version der DGUV Information wird dem Anwender ein weiteres Werkzeug zur Beurteilung des Gesamtrisikos an die Hand gegeben. Damit wird zusätzlich zur Schadensschwere im Falle eines Lichtbogenfehlers die Eintrittswahrscheinlichkeit dieses Lichtbogenfehlers beurteilt. Die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Störlichtbogenunfalls wird unter anderem durch die Art und den technischen Zustand der Anlage und die Qualifikation des Personals bestimmt. Ziel ist es nachzuweisen, dass bei Anlagen und Tätigkeiten mit einer geringen Eintrittswahrscheinlichkeit eines Störlichtbogenfehlers aber mit hohen Lichtbogenenergien trotzdem PSAgS der Schutzklasse 2 eingesetzt werden kann. In Ausnahmefällen kann auch PSAgS eingesetzt werden, die ein höheres prüftechnisch nachgewiesenes Schutzniveau als die Klasse 2 besitzt aber trotzdem für den jeweiligen Arbeitsplatz und die zugehörige Tätigkeit eine ausreichende Ergonomie bietet (zum Beispiel Schaltkits bei Schaltvorgängen). Ebenso kann die Risikobeurteilung aber auch ergeben, dass mit der vorhandenen PSAgS kein ausreichender Schutz gewährleistet werden kann und an der unter Spannung stehenden Anlage nicht gearbeitet werden darf.
Umsetzung von PSA-Konzepten
Wenn die Schutzklasse der PSAgS festgelegt wurde, muss der Arbeitgeber den betroffenen Beschäftigten diese Schutzausrüstungen zur Verfügung stellen. Um die Akzeptanz der PSAgS bei diesen Personen zu sichern, ist es empfehlenswert, ein an den Betrieb angepasstes PSA-Konzept zu entwickeln. Dieses muss berücksichtigen, dass die Mitarbeiter in vielen Fällen unterschiedliche Arbeitsplätze mit unterschiedlichen Anforderungen an die PSAgS haben. Ein PSA-Konzept kann beispielsweise beinhalten, dass die Schutzklasse 2 bei der Bekleidung durch Umsetzung des Zwiebelprinzips (zum Beispiel Langarm-Shirt und Jacke) erreicht wird. In einem anderen Fall kann das größere erforderliche Schutzniveau in einer leistungsstarken Hauptverteilung durch einen Schaltmantel, Gesichtsschutz und Handschuhe realisiert werden, die sich schon vor Ort befinden und nicht erst von den Mitarbeitern zum Arbeitsort transportiert werden müssen.
Die Herausforderung bei der Umsetzung des Störlichtbogenschutzes bei Arbeiten an und in der Nähe elektrischer Anlagen ist
die Verknüpfung von elektrotechnischen Berechnungen in der Risikobeurteilung im Zusammenhang mit ausreichenden Kenntnissen der zu beurteilenden Anlagen und Tätigkeiten. Insbesondere die künftige Version der DGUV Information 203–077 wird dem Anwender dafür ausreichend Werkzeuge zur Verfügung stellen.
Autor: Dr.-Ing. Thomas Jordan
Forschung und Entwicklung, BSD Bildungs- und Servicezentrum GmbH
t.jordan@bsd-dresden.de
Glossar
- Box-Test: Verfahren zur Prüfung von textilen Materialien, Kleidung, Handschuhen und Gesichtsschutz zur Feststellung der Störlichtbogenschutzklasse
- Netzimpedanz: Summe aller Widerstände in der Kurzschlussstromschleife, die den Fehlerstrom begrenzt
Notwendige Daten für die Berechnung der Lichtbogenenergie WLB und des Schutzpegels WLBS (= WLBÄ) der PSAgS sind:
- Nennspannung Un
- Dreipoliger Anfangskurzschlusswechselstrom I″k3
- Lichtbogendauer tk
- Arbeitsabstand a
- Transmissionsfaktor kt
- R/X‑Verhältnis